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Worte als Zeichen als Visualisierungen als (rechtliches) Programm

  • Author: Georg Gesk
  • Category of articles: Legal Visualisation
  • Field of law: Legal Visualisation
  • Collection: Festschrift-Lachmeyer-2023
  • DOI: 10.38023/678bb073-334a-492f-93ee-6ad8e05b6675
  • Citation: Georg Gesk, Worte als Zeichen als Visualisierungen als (rechtliches) Programm, in: Jusletter IT 29 June 2023
This contribution reflects upon some key notions of law as expressed in Chinese characters. Starting out with showing shamanistic precursors of modern legal concepts, it leads to early realizations of the importance of written norms, and emphasizes the importance of traditional, culturally predetermined legal notions for modern Chinese society. When analyzing modern forms of Chinese legal discourse, it becomes apparent that Chinese characters are not just a form of linguistic museum but are continuously shaping Chinese modern legal discourse up to the very day. Due to intertwined homophonic and homonymic elements, Chinese legal notions create an awareness of legal problems that remain most of the time invisible when thinking in European languages.
This article thus aims at creating some knowledge of related questions, at the same time it invites the audience to pay more attention to these. By realizing how different iconographic and conceptual preconditions lead to new topics within legal discussion and legal theory, we realize deficiencies of our own discourse, hopefully leading to more interest in meeting others in an intercultural discursive space.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Dogmatik vs. Intuition – vom blinden Fleck der Rechtswissenschaft
  • 2. Recht und sein deklarierter (Selbst)Anspruch
  • 3. Was ist Recht? Von begrifflichen Unschärfen
  • 4. Recht und Macht bzw. Recht oder Macht?
  • 5. Interkulturelle Aufklärungen über Recht

1.

Dogmatik vs. Intuition – vom blinden Fleck der Rechtswissenschaft ^

[1]

Es sind jetzt einige Jahre, seit der Autor mit dem Jubilar in einen Dialog eingetreten ist, in dem immer wieder die Sprache auf chinesische Zeichen kam, denn diese sind zwar auch Worte, aber gleichzeitig immer wieder auch Visualisierungen, die in sich ein Programm tragen, was demjenigen, der mit den Zeichen nicht vertraut ist, verborgen bleibt, was aber dann zu Tage tritt, wenn man sich zuerst mit dem Zeichen und dann mit dessen Einbettung in den rechtswissenschaftlichen Diskurs beschäftigt. Auf diese Weise offenbart sich dann eine intuitiv-assoziative Bedeutungsebene, welche die Rechtswissenschaft mit prägt, über die wir uns aber im europäischen juristischen Diskurs, der meist sehr auf die Produktion und Reproduktion dogmatischer Strukturen oder auf deren Abgleichung mit der sogenannten Wirklichkeit fokussiert ist, nur äußerst selten Rechenschaft ablegen. Der Versuch der Objektivierung des juristischen Wissens, der bis in die Verarmung syntaktischer und stilistischer Figuren hineinreicht1, der zumeist auch eine institutionelle und personelle raréfaction2 zur Folge hat, führt dazu, dass das Intuitive zu einem blinden Fleck der Rechtswissenschaft wird. Der juristische Beobachter ist den relevanten Informationen und Einflüssen zwar ausgesetzt, nimmt sie aber nur im Ausnahmefall war. Durch die Verfremdung, die einsetzt, wenn man sich mit anderen Ausdrucksmitteln des Denkens beschäftigt, möchte sich dieser Beitrag als eine Einladung verstehen, Recht und Rechtswissenschaft einmal in einer anderen als der gewohnten Weise wahrzunehmen und damit Recht und Rechtswissenschaft einmal anders zu denken.

[2]

Es soll daher anhand einiger chinesischer Rechtsbegriffe erklärt werden, wie Recht gedacht werden kann, wenn man sich ihm nicht wie meist aus der Perspektive des euro-zentristischen Weltbildes nähert, sondern wenn man – wie in Ostasien üblich – Zeichen, welche aus einer anderen Denktradition kommen, mit den Figuren des modernen Rechts verbindet und dadurch ein Spannungsfeld erzeugt, das in Teilen anders strukturiert ist, als wir das in Europa gewöhnt sind.

2.

Recht und sein deklarierter (Selbst)Anspruch ^

[3]

Zunächst stellen wir fest, dass es zwei Begriffe in der chinesischen Sprache gibt, die beide als Recht (oder Gesetz) übersetzt werden können, die historisch aber unterschiedlich verwendet wurden und die sich erst in der Neuzeit zu dem Begriff Recht 法 (fă), wie wir ihn z.B. in Bezeichnungen wie Gesetze 法律 (fălǜ) oder in einem Ausdruck wie ich studiere Recht (我学习法律, wŏ xúexí fălǜ) finden, verbunden haben.

[4]

Der Begriff des Rechts 法 (fă) ist innerhalb der chinesischen Kultur sehr alt und stellt in seiner heutigen Schreibweise eine starke Vereinfachung des ursprünglichen Zeichens dar, denn eigentlich schrieb man das Zeichen als 灋 (fă) und vereinte in diesem Zeichen/Wort drei Bestandteile, die alle für die Bedeutung dieses Begriffs maßgeblich sind. Zum einen findet sich das Wasser 水 (shŭi) in seiner Form als Radikal 氵, was dann in den Erklärungen so dargestellt wird, dass Wasser immer eben ist und dass es auch in die kleinste Ritze vordringen kann, sodass also das Recht mit seiner Eigenschaft des ebenen, geraden Wasserspiegels die Gleichheit symbolisiert, der man sich nicht entziehen kann. Weiter findet sich das Zeichen für hingehen bzw. beseitigen 去 (qù), wodurch kenntlich gemacht werden soll, dass Recht eine Unterscheidung trifft, wobei das, was nicht gerade bzw. nicht eben ist, abgelehnt wird. Als dritte Komponente wird ein Einhorn 廌 (zhì) aufgeführt, welches in der chinesischen Mythologie ein mythisches Tier ist, das intuitiv die Schuld bzw. Unschuld eines Menschen identifizieren kann und welches daher Übeltäter mit seinem Horn aus der Gesellschaft ausstoßen kann, also das, was störend wirkt, aus der Gesellschaft eliminiert.3

[5]

Dass die chinesische Kultur hier eine soziale Erinnerung an schamanistische Rituale aufrechterhalten hat, wirkt wahrscheinlich; dass es sich dabei allerdings um ein Einhorn gehandelt hat, wirkt angesichts der frühen Darstellungen des Zeichens eher unwahrscheinlich. Es dürfte sich sehr viel mehr um eine Art Hirsch gehandelt haben (siehe Illustration unten). Dennoch ist die Implikation klar: Recht wird als ein natürlicher Zustand betrachtet, der unabhängig von dem, was die beteiligten Personen an Intention haben, existiert und der daher von Naturwesen wahrgenommen werden kann. Recht ist daher ein objektiv wahrnehmbarer Zustand, der nicht von Inter-Subjektivität getrübt wird.

Abb. 1: Darstellung aus Ding Zaixian (丁再献), Ding Lei (丁蕾), Die Kultur der Dongyi und Shandong – Interpretation von Knochenritzzeichen (东夷文化与山东·骨刻文释读), Kapitel 19 Abschnitt 2 (十九章第二节), Chinese Literature and History Press (中国文史出版社), Februar 2012, zit. in: https://baike.baidu.com/item/%E5%BB%8C/10213076 [zuletzt aufgerufen am 05.05.2023].

[6]

Dennoch können wir feststellen, dass das schamanistische Element des Zeichens schon seit langem nur zeichen-etymologisch in alten Texten auftaucht, dass also die Alltagskultur nur an der Vorstellung von Recht als Sanktion festgehalten hat. Diejenigen, die nicht der Ausgeglichenheit der Wasseroberfläche (氵) entsprechen, sollen entfernt (去) werden. Dieser Archetyp der Vorstellung von Recht, das durch Sanktionen geprägt ist, wurde zentrales Element der Rechtsreformen des Staates 秦 (Qín) in den Jahren 356 bzw. 350 v.Chr.4 und dominiert die Vorstellung von Recht bis nach dem Ende der Kulturrevolution, als sich der chinesische Staat und die chinesische Gesellschaft neu konstituieren wollten. Unter den Gesetzen, die am 1. Juli 1979 verabschiedet wurden, war das Strafrecht das einzige, das nicht auf die Reorganisation staatlicher Institutionen oder die Öffnung für ausländisches Kapital fokussiert war, sondern das sich an die allgemeine Rekonstruktion der gesellschaftlichen Ordnung richtete. Dabei musste sogar der Begriff des Eigentums durch das Strafrecht definiert werden, denn woher sollte man in Ermangelung zivilrechtlicher Bestimmungen sonst wissen, was ein Diebstahl ist? Strafrecht war in diesem Moment also die wichtigste allgemeingültige Norm, vermittels derer Staat und Partei versuchten, den Alltag neu zu strukturieren.5

[7]

Der zweite Begriff, der in der Bezeichnung für Gesetz bzw. Recht auftaucht, ist die Regel 律 (lǜ, Nomen, Verb) bzw. der Gesetzeskodex, den man im Zweifelsfall auch einhält. Das Zeichen setzt sich aus zwei Teilen zusammen, einem chì 彳, was einen Menschen darstellt, der eine Straße entlang geht, und einem 聿, was eine Hand darstellt, die mit einem Pinsel etwas vermerkt. Das Zeichen ist also in mehrfacher Hinsicht sein eigenes Programm, denn es bezeichnet einerseits die Eigenschaft, an etwas entlang zu gehen, also sich in seiner Handlung auf eine Bahn zu konzentrieren, wie es andererseits zum Ausdruck bringt, dass die Regel, an die man sich hält, kodifiziert wird, dass also ein Pinsel aufschreibt, woran man sich halten kann bzw. woran man sich zu halten hat. Interessanterweise ist das Zeichen des Lǜ 律 bereits in der Shāng-Dynastie (商) nachweisbar. Wir können also davon ausgehen, dass die Tradition schriftlich fixierter Normen (bzw. sozialer Regelungen) in der chinesischen Kultur bis weit in das 2. Jahrtausend zurückreicht.6

1 Shang (angeblich ca. 1600-1046 v.Chr.)
2 西周 Westl. Zhou (1046-771 v.Chr.)
3 许慎 Xu Shen (erstes chin. Wörterbuch 说文解字, ca. 100 n.Chr.)
4 Qin (221-206 v.Chr.)
5 Han (ca. 200 v.Chr. bis 220 n. Chr.)
6 楷书 modernes Zeichen (Kai Font)
[8]

Historisch relevant war dieser Begriff aber insbesondere auch dadurch, dass seit den Dynastien der Sui 隋 und der Tang 唐 die zentralen Rechtstexte der jeweiligen Dynastie sich dieser Bezeichnung bedienten.7 Dabei stellte sich trotz mehrfacher Überarbeitungen ein inhaltlich relativ stabiler Kanon ein, der zur Absicherung der traditionellen Gesellschaft sowie ihrer politischen und sozialen Strukturen diente. Aufbauend auf Vorarbeiten während der nördlichen Qi 北齐 und der späteren Wei 后卫 Dynastien, konnte die Sui Dynastie den Kodex Kāihúanglǜ 开皇律 formulieren. Dieser bildete das Vorbild für den Kodex des Wŭdélǜ 武德律, welcher vom ersten Kaiser der Tang, Tang Gaozu 唐高祖 (566-635), in Auftrag gegeben und im Jahr 621 offiziell verkündet wurde. Die hierdurch geschaffene rechtliche Grundlage überdauerte die Wirren der chinesischen Geschichte bis zum Ende der Qing-Dynastie (und damit ca. 1400 Jahre), ohne dass es zu einschneidenden Änderungen kam. Der Kodex Gesetze der großen Qing 大清律 wurde erst mit dem Ende der Monarchie im Jahre 1911 als Folge der Xinhai-Revolution 辛亥革命 und den darauf einsetzenden Reformbemühungen des damaligen Chinas außer Kraft gesetzt. Viele der in diesen Gesetzen enthaltenen Vorstellungen beeinflussen die chinesische Gesellschaft bis zum heutigen Tag.

3.

Was ist Recht? Von begrifflichen Unschärfen ^

[9]

Ein Teil dieser Diskussion entzündete sich insbesondere in den späten 90er Jahren und in den Jahren nach der Jahrtausendwende an der Frage, wie der Begriff der Rechtsordnung in Zeichen dargestellt werden soll. Dabei gibt es zwei unterschiedliche Schreibweisen, die in diesem Zusammenhang sprachlich eingesetzt werden können. Zum einen gab es den Begriff făzhì 法制 und zum anderen den Begriff des făzhì 法治, der homophon und teilweise homonym ist. Während das Zeichen 法 (fă, Recht) beiden gemeinsam ist, verbindet sich dieses mit zwei Homophonen: das erstere ist das zhì (制), das zum Beispiel im Begriff für Institution zhìdù 制度 auftaucht und dem Radikal des Messers dāo 刀 (in Zusammensetzungen mit anderen Zeichen oft als 刂 geschrieben) zugeordnet wird. Das zweite zhì 治 bezeichnet oft eine positive Erledigung einer Aufgabe, so wie in zhìlĭ 治理 (governance), zhèngzhì 政治 (Politik) oder auch zhìlĭao 治疗 (heilen). Es ist in der Einordnung der Zeichen dem Radikal des shŭi 水 (Wasser) zugeordnet. In der Diskussion, was den Unterschied der beiden Begriffe ausdrücken könnte, wurde genau auf diese Unterscheidung der Radikale abgestellt, dass also die Rechtsordnung im ersteren Sinne eine Gesetzesordnung darstelle, die mit der Gewalt des Schwertes von oben nach unten durchgesetzt wird (und damit recht parallel zu der Vorstellung von Recht bei Austin liegt8). Im Gegensatz dazu wurde das Wasser im zweiten Begriff als ein Zeichen dafür gesehen, dass es alles umfasst, keine Ritze auslässt, und daher den Rechtsstaat bezeichnet, der nicht nur eindimensional staatliche Normen dem Bürger gegenüber durchsetzt, sondern der auch dem Bürger die Möglichkeit eröffnet, den Staat auf die Einhaltung von Gesetzen zu verpflichten. Zusätzlich ist das Wasser weich, nicht nur auf Sanktion bedacht (wie das Messer eben immer (be)schneidet), und es hat immer die Möglichkeit, lebendige Entwicklungen zu fördern, ist also flexibel und situativ angepasst. Somit war verdeutlicht, dass Normen im Rechtsstaat mehrdimensional wirken und nicht nur auf eine eindimensionale, sanktionsorientierte Rechtsdurchsetzung fokussiert sind.9 Es ist somit nicht zufällig, dass das im Verfahren eher konfliktorientierte Verwaltungsprozessgesetz (xíngzhèngsùsòngfă 行政诉讼法) bereits am 4.4.1989 beschlossen wurde und zum 1.10.1990, also zum Nationalfeiertag, in Kraft trat. Dagegen fällt die Verabschiedung des Verwaltungsbeschwerdegesetzes (xíngzhèngfùyìfă 行政复议法) in eine Zeit, in der man begann, nicht nur einen konfrontativen Ausgleich zu erreichen, sondern Möglichkeiten zu suchen, Konflikte in beiderseitigem Einvernehmen vor Erhebung einer Klage zu lösen; es wurde am 29.4.1999 beschlossen und ist ebenfalls zum Nationalfeiertag, also am 1.10.1999, in Kraft getreten. Auch die Aufnahme der Schaffung des Rechtsstaats (yīfăzhìgúo 依法治国, den Staat nach Recht regieren) als Verfassungsziel in Art. 5 I Verfassung (1982) am 15.3.1999 fällt in eben diese Zeit.

[10]

Das zeigt, wie die Frage, ob Recht vielleicht noch mehr sein könnte als nur eine normative Richtschnur, welche einerseits staatliche Strukturen und andererseits die dazugehörigen gesellschaftlichen Wertevorstellungen durch Sanktionen schützen soll, bereits vor mehr als 20 Jahren auch in der chinesischen Gesellschaft und im chinesischen Recht zu einer begrifflichen Erweiterung geführt hat. Die Vorstellung von Austin, dass Recht der Befehl des Souveräns sei10, bei dem es also nur eine eindimensionale Realität des Rechts gibt, ist unserer Gesellschaft schon lange fremd. Gleiches gilt zunehmend für die chinesische Gesellschaft. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat Xi Jinping 习近平 am 18.10.2017 das Ziel der Schaffung eines umfassenden Rechtsstaats in seinem Bericht an den 19. Parteitag aufgenommen und in der Folge eine Kommission gegründet, um diesen Anspruch in der Realität auch umzusetzen.11 Ob das dann mit seiner Betonung der Führung durch die KPCh, der Korruptionsbekämpfung und dem offensichtlichen Versuch, die staatliche Souveränität zu stärken, eher in Richtung des Gesetzesstaates zielt; oder ob es im Zuge der Verabschiedung des Zivilgesetzbuches (mit datenschutzrechtlich relevanten Bestimmungen in Buch VII Persönlichkeitsrecht) im Jahr 2020 und des Datenschutzgesetzes im Jahr 2021 dazu geführt hat, dass die zivilrechtlichen Bestimmungen so viel Problembewusstsein geschaffen haben, dass Datenmissbrauch durch staatliche Amtsträger während der Präventionsmaßnahmen gegen COVID-19 im Jahr 2022 disziplinarrechtlich geahndet wurde12, so dass die Entwicklung wohl doch mehr ist als nur mehr der Aufbau eines sich seiner Autorität bewussten und diese stärkenden Staates, das soll an dieser Stelle nur angedeutet sein.13

4.

Recht und Macht bzw. Recht oder Macht? ^

[11]

Somit ist Recht nicht nur der normativ verfasste Rahmen, dem die Bürger folgen können und – so sie das nicht tun – durch den sie sanktioniert werden. Abgesehen von der Frage, wie Recht reflexiv auch den Normgeber einbindet, sehen wir weitergehende Fragen, was Recht noch sein könnte. Im deutschsprachigen Raum zeigt sich bei dieser Reflexion über die Bedeutung des Rechts häufig sehr schnell eine gewisse Unschärfenrelation innerhalb der unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs „Recht“, denn Recht ist nicht nur objektives, staatlich gesetztes Recht, sondern ist gleichzeitig subjektives Recht, das der Einzelne einfordern kann, sodass er – so die Betroffenen sein Recht anerkennen oder die Justiz ihm Recht gibt – dann auch Recht hat bzw. Recht bekommt. Dabei verschwimmen beide Begriffe ständig ineinander und wir müssen uns in mehr als einem Text genau überlegen, wovon tatsächlich die Rede ist, vom objektiven Recht oder vom subjektiven Recht oder von beiden gleichzeitig?

[12]

Im chinesischen Sprachraum ist diese Vermengung mit ihrer beinahe notwendigen Unschärfe unmöglich, denn das objektive Recht fă 法 und das subjektive Recht qúanlì 权利 sind sprachlich so weit voneinander entfernt, dass sie weder etymologisch noch phonologisch oder ikonographisch irgendeine Ähnlichkeit aufweisen. Was im Chinesischen dagegen sehr knifflig ist, das ist die teilweise Entsprechung in den verwendeten Zeichen und die komplette Homophonie der Begriffe qúanlì 权利 und qúanlì 权力; der erstere würde üblicherweise als subjektives Recht übersetzt, der zweite als Macht.

[13]

Betrachten wir, aus welchen einzelnen Zeichen die Begriffe aufgebaut sind, dann wird das Problem nicht einfacher: während das subjektive Recht aus den beiden Zeichen qúan 权 (Waage, abwägen) und lì 利 (Interesse) gebildet werden, wird der Begriff der Macht aus den beiden Zeichen qúan 权 (Waage, abwägen) und lì (力, Kraft) zusammengesetzt. Der beiden Begriffen gemeinsame Bestandteil qúan 权 war angeblich in seinem Ursprung eine Baumart, so dass das mù 木 die Gattung und das gùan 雚 eine ungefähre Aussprache darstellt, was dann in der Kombination heutzutage qúan 權 als Langzeichen oder 权als Kurzzeichen heißt.14 Dass es sich dabei eigentlich um eine Baumart handelt, ist als sprachliches Ereignis so weit in der Vergangenheit, dass bereits das erste chinesische Lexikon von Xu Shen hier lediglich eine Vermutung ausdrückt und von ungefähr oder vermutlich (dàgài大概) spricht. Da das Holz als Waage genutzt wurde, fand ein Bedeutungssprung hin zu dem Verb „abwägen“ bzw. „ausgleichen“ statt. Ein subjektives Recht ist also ein Recht, bei dem man selber abwägt, das aber auch von anderen gewogen wird, so wie auch die Macht etwas ist, was gemessen und abgewogen wird.

Abb. 3: https://baike.baidu.com/item/%E6%9D%83/3180258?fr=aladdin [zuletzt aufgerufen am 05.05.2023].

[14]

Hier offenbart sich dann aber für denjenigen, der im chinesischen Sprachraum denkt, dass das Verhältnis zwischen subjektivem Recht und Macht zumindest teilweise mit der Beschreibung von Mittel und Zweck erklärt werden kann. Um das Interesse, auf das man sich als Recht beruft, auch durchsetzen zu können, braucht es ein bestimmtes Maß an Macht. Gleichzeitig besteht immer die Gefahr, dass ein Mensch einfach auf Grund der Abwägungen der Macht bestimmte Interessen ausübt bzw. diese zugeteilt bekommt und dann davon ausgeht, dass er einen Anspruch darauf hat, dass er also das subjektive Recht auf die Möglichkeit dieser Machtausübung besitzt. Dies dann ganz unabhängig von der Frage, ob er dies aktiv provoziert oder nur passiv wahrnimmt. Im chinesischen Diskurs ist dies dann ein wichtiges Element in der Frage, inwiefern es sich bei Entscheidungen staatlicher Institutionen um eine durch Personen dominierte Herrschaft 人治 (rénzhì) oder um eine normativ dominierte Herrschaft 法制 (făzhì) bzw. 法治 (făzhì) handelt.15 Somit wird auch in diesem Diskurs die Verbindung zwischen subjektivem und objektivem Recht wahrgenommen und problematisiert, dabei zeigt sich aber ein weitaus höheres Maß an Problembewusstsein, was die Interferenz zwischen Macht und Recht betrifft.

5.

Interkulturelle Aufklärungen über Recht ^

[15]

Die Tatsache, dass sich ein Teil des rechtstheoretischen Diskurses in China direkt an der Verwendung unterschiedlicher Zeichen und der Unterschiede von deren ikonographischer Konnotation entzündet (法制 oder 法治 – Messer oder Wasser?), dass er sich intuitiv aus Begriffsclustern ergibt, wo homophone und teilweise homonyme Begriffe Verbindungen aufweisen, denen wir im deutschsprachigen Diskurs meist lieber aus dem Weg zu gehen scheinen oder die wir gar nicht wahrnehmen (was ist die Interferenz der – in Form von subjektiven Rechten ausgestalteten – Abwägung von Interessen mit Abwägungen von Macht?), zeigt, wie wichtig es ist, dass sich die Rechtswissenschaft im internationalen Austausch mit China nicht darauf verlässt, dass es immer einen Chinesen oder eine Chinesin gibt, der bzw. die Deutsch gelernt hat, oder dass man ja auf die Brückensprache Englisch zurückgreifen kann. Durch das tiefergehende Verständnis der jeweils anderen Sprache können beide Rechtskulturen neue Fragestellungen und neue Problemansätze entdecken, können daher einen gemeinsamen Diskurs wagen, der für beide Seiten fruchtbar sein kann. Dass der Jubilar dank seines Interesses an Bildern und graphischen Darstellungen gefühlt hat, dass sich hinter den chinesischen Zeichen mehr an Konnotation verbirgt als nur die Wiedergabe bereits bekannter Positionen, war eine wichtige Anregung für die Entstehung dieses Textes und weiterer Arbeiten. Der Autor dankt daher dem Jubilar an dieser Stelle ganz ausdrücklich für seine Anregungen.

  1. 1 Vgl. Bourdieu, The Force of Law, Hastings Law Journal, Vol. 38 (1987 Juli), 830 f.
  2. 2 Hierzu näher Michel Foucault, L’ordre du discours, Gallimard, 1970, 12, 16, 23 f.
  3. 3 In chinesischen Quellen wird als erster Autor, welcher das Zeichen in der Weise erklärt hat, Xu Shen (许慎) aus der östlichen Han-Dynastie aufgeführt, in dessen Publikation (说文解字, dem ersten, bis heute überlieferten chinesischen Lexikon) sich diese Beschreibung findet, vgl. https://baike.baidu.com/item/%E5%BB%8C/10213076?fr=aladdin.
  4. 4 Siehe die Rechtsreformen des Shang Yang (商鞅变法, shāng yāng bìan fă), dazu näher z.B. Wu Shuchen (武树臣), Die drei historischen Errungenschaften der Legisten – zugleich eine Diskussion des kulturellen Werts der Reformen von Shang Yang (法家学术的三个历史性贡献——兼论商鞅变法的法文化意义), 2021, https://www.aisixiang.com/data/129648.html [zuletzt aufgerufen am 07.05.2023].
  5. 5 Vgl. Rechtsabteilung der Kanzlei des Staatsrats (Hg.) (国务院办公厅法制局编), Kompendium der Gesetze und Verordnungen der VR China 1-12.1979 (中华人民共和国法规汇编1979年1月-12月), Law Press (法律出版社), 1. Aufl., 1986.
  6. 6 Siehe in diesem Zusammenhang die Arbeit von Chang Yong-Hsiang (張永祥), der zeigt, wie die Zhou-Dynastie (周朝) die politisch-institutionelle Struktur der ihr vorangegangenen Dynastie zunächst aufzeichnen ließ, um daraufhin selbst ein entsprechendes politisches Rahmenwerk zu verfassen. Aus heutiger Sicht betrachtet, kann dies als Proto-Verfassung einer frühen chinesischen Gesellschaft verstanden werden; vgl. Chang Yong-Hsiang, Die Wortbedeutung von Hongfan und Zhouli – Diskussion der Rechtsgrundlagen der westlichen Zhou Dynastie (從洪範及周禮文義-論西周之法度), Masterarbeit, Xuan Chuang Universität, 2015, 22.
  7. 7 Es gab während der Tang-Dynastie durchaus auch andere Kodifikationen, so etwa Zhēngūanlìng (贞观令), Zhēngūangé (贞观格), Zhēngūanshì (贞观式), Dàtánglìudĭan (大唐六点) u.a., die aber in ihrer paradigmatischen Wirkung nicht mit dem Wŭdélǜ verglichen werden können; vgl. Zhu Huiliang (朱会良), Regierung in blühenden Zeiten: das Rechtsdenken von Tang Taizong (盛世之治:唐太宗的法制思想), People’s Court Daily, 01.12.2017, http://www.rmfyb.com/paper/html/2017-12/01/content_132738.htm?div=-1 [zuletzt aufgerufen am 05.05.2023].
  8. 8 Siehe zusammenfassend etwa https://plato.stanford.edu/entries/austin-john/ [zuletzt aufgerufen am 16.04.2023].
  9. 9 Siehe in diesem Zusammenhang ausführlich (程燎原), (从法制到法治), Guangxi Pedagogic University Publisher (广西师范大学出版社), 2. Aufl., 2014.
  10. 10 Siehe in diesem Zusammenhang etwa die Unterscheidung von law, reason und rule, wobei es die Entscheidung des Souverän ist, aus Regeln Gesetze zu machen; Austin on Jurisprudence, Vol. II, J. Murray, 1861, Lec. XXX, S. 567.
  11. 11 Siehe http://www.moj.gov.cn/pub/sfbgw/qmyfzg/qmyfzgjgjj/202004/t20200430_150457.html [zuletzt aufgerufen am 16.04.2023].
  12. 12 Georg Gesk, Legal Problems Arising from Abuse of Health APP, lecture, The 16th Annual Conference of the European China Law Studies Association, Copenhagen, 23.09.2023.
  13. 13 Die Ambivalenz der Entwicklungen ließe sich problemlos fortsetzen. Hat der Versuch, die Statuten der KPCh mit staatlichen Gesetzen kompatibel zu machen, dazu geführt, dass die Partei sich selbst normativ eingrenzt, so dass sie sich an Statuten und an Gesetze halten muss, oder erlaubt er es der Partei, noch mehr Einfluss auszuüben? Diese ambivalente Situation erlaubt – je nach Standpunkt – unterschiedliche Interpretationen. Eine effektive Korruptionsbekämpfung wäre ohne diesen Schritt nicht möglich, der Gewinn an Einfluss ist aber ebenfalls nicht von der Hand zu weisen. Genau auf Grund dieser Ambivalenz scheint es dem Autor wichtig, sich mit dem Anspruch des chinesischen Staates (und der KPCh), seine sich selbst gesteckten Ziele verwirklichen zu wollen, faktisch auseinanderzusetzen.
  14. 14 Schriftreform in der VR China nach langen Vorarbeiten durch den Staatsrat; Beschluss über die Veröffentlichung des Vorschlags zur Vereinfachung chinesischer Schriftzeichen (关于公布汉字简化方案的决议) am 28.01.1956, abgedruckt in der Volkszeitung (人民日报) am 31.01.1956.
  15. 15 Siehe hierzu z.B. Zhang Fenghua (张凤华), Die Unterscheidung von Herrschaft durch Personen und Herrschaft durch Recht (人治与法制、法治的区别), Beijingfayuanwang, 04.05.2012, https://bjgy.bjcourt.gov.cn/article/detail/2012/05/id/885929.shtml [zuletzt aufgerufen am 05.05.2023].