Jusletter IT

Die Schlüsselrolle des Pflichtenhefts in Ausschreibungen

  • Authors: Josef Schreiber / Roland Füllemann
  • Category of articles: Public procurement law
  • Field of law: Public procurement law
  • Collection: IT-Beschaffungskonferenz der Berner Fachhochschule BFH und der Universität Bern
  • DOI: 10.38023/b3fc1c9e-e605-4d7f-a8b9-34405922f7fb
  • Citation: Josef Schreiber / Roland Füllemann, Die Schlüsselrolle des Pflichtenhefts in Ausschreibungen, in: Jusletter IT 20. August 2024
Der vorliegende Auszug aus dem Fachbuch «Beschaffung von Informatikmitteln: Submissionsverfahren – Pflichtenheft – Evaluation (6. Auflage 2022, Haupt Verlag, Bern)» von J. Schreiber und R. Füllemann behandelt das Pflichtenheft als Kern von IT-Beschaffungen. Er zeigt die Struktur des Aufbaues von Pflichtenheften und geht auszugsweise auf wichtige Inhalte der einzelnen Hauptkapitel des Pflichtenheftes ein. Detailliertere Ausführungen dazu und zur Abwicklung des kompletten Evaluationsprozesses können dem aus drei Sektionen – Allgemeines über die Auswahl von Informatikmitteln, Vorgehensrahmen des Beschaffungsprozesses inkl. der wichtigsten Dokumente, Vermittlung von Praxisbeispielen – bestehenden Fachbuch entnommen werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Die Schlüsselrolle des Pflichtenhefts in IT-Ausschreibungen
  • Kapitel 1: Allgemeines zur Ausschreibung
  • Kapitel 2: Ausgangslage
  • Kapitel 3: Ist-Zustand
  • Kapitel 4: Ziele
  • Kapitel 5: Anforderungen (Anforderungsprofil)
  • Kapitel 6: Mengengerüst, Häufigkeiten
  • Kapitel 7: Aufbau und Inhalt des Angebotes
  • Kapitel 8: Administratives und Bewertung der Angebote
  • Kapitel 9: Anhänge zum Pflichtenheft

Die Schlüsselrolle des Pflichtenhefts in IT-Ausschreibungen ^

[1]

«Auswahlentscheide für die Beschaffung von Informatikmitteln und -dienstleistungen waren nie einfach und werden auch weiterhin in einem von Innovationen geprägten und hart umkämpften, unübersichtlichen Markt eine grosse Herausforderung darstellen. Gilt es doch einerseits, die Vorgaben des Beschaffungsrechts zu beachten, und andererseits, die vielfältigen, interessanten Möglichkeiten und Chancen komplexer Informations- und Kommunikationstechnologie in Kosteneinsparungen, Effizienzsteigerungen sowie in qualitative und strategische Vorteile für das jeweilige Unternehmen oder die Verwaltung umzumünzen»

[2]

Umschlagstext zu Schreiber, J. & Füllemann, R. (2022). Beschaffung von Informatikmitteln: Submissionsverfahren – Pflichtenheft – Evaluation (6. Auflage). Haupt Verlag, Bern.

Die Bedeutung des Pflichtenheftes

[3]

Das Pflichtenheft einer IT-Beschaffung bildet zusammen mit seinen verschiedenen Begleitdokumenten (zum Beispiel einem separaten Anforderungskatalog, Preiseingabeformular, Detailangaben zum Ist-Zustand) die Ausschreibungsunterlagen und es nimmt somit innerhalb des Beschaffungsvorhabens eine zentrale Stellung ein. Darin werden im Wesentlichen die Ziele, welche mit der Beschaffung zu erreichen sind, sowie die Anforderungen inkl. der Eignungs- bzw. KO-Kriterien und Wünsche an den Beschaffungsgegenstand formuliert. Damit wird das Pflichtenheft mit seinen Begleitdokumenten zur unentbehrlichen Grundlage für die Einladung möglicher Lieferanten bzw. Realisierungspartner zur Erarbeitung und Abgabe eines Angebotes.

[4]

Das Pflichtenheft mit seinen Begleitdokumenten bilden die Basis für den Aufbau und die Substanz der Offerten, für eine einfachere Bewertung der Angebote sowie für die Vertragsverhandlungen und die abzuschliessenden Verträge.

[5]

Ein Hinweis zur Begriffsdefinition:

[6]

In Deutschland wird an Stelle des Pflichtenhefts der Begriff «Lastenheft» verwendet. Inzwischen sprechen auch die Autoren der Schweizer Projektmethodik HERMES (aktuelle Version 5.1) von «Lastenheft», räumen aber ein, dass in der Schweiz seit Jahrzehnten der Begriff «Pflichtenheft» üblich ist. Aus diesem Grund sprechen wir im vorliegenden Beitrag durchgängig vom Pflichtenheft.

Überblick zum Inhalt des Pflichtenheftes

[7]

Der Inhalt des Pflichtenheftes besteht im Wesentlichen aus den nachstehend aufgeführten Kapiteln, wobei die entsprechenden Daten und Fakten in der Regel bereits in früheren Projektphasen (Vorstudie, Konzeption) ermittelt und aufbereitet werden:

  • Darstellung der für die Beschaffung relevanten Fakten der gegenwärtigen Situation, das heisst des Ist- Zustandes mit den betroffenen Prozessen, Applikationen und IT-Infrastruktur inkl. Angaben zum Betrieb sowie den Stärken und Schwächen, bezogen auf den Beschaffungsgegenstand;
  • Formulierung der Ziele, die mit der Beschaffung erreicht werden sollen;
  • Beschreibung der Anforderungen inkl. der Eignungs- bzw. KO-Kriterien (Anforderungsprofil) betreffend den Beschaffungsgegenstand;
  • Aufstellung des Mengengerüstes und der Häufigkeiten (z. B. Anzahl und Häufigkeiten der Geschäftsfälle), Datenbewegungen und Datenbestände, Anzahl Benutzende;
  • Vorgaben für den Aufbau und Inhalt der Angebote.
[8]

Ergänzt man diese Abschnitte mit weiteren Angaben zur Ausschreibung wie

  • Allgemeines zur Ausschreibung,
  • Ausgangslage,
  • Angaben zu administrativen Belangen und der Gewichtung der Zuschlagskriterien und
  • § verschiedenen Anhängen,
[9]

so erhält man das Gerüst des Pflichtenheftaufbaus (siehe Abbildung 1). Dieser Aufbau hat sich in der Praxis gut bewährt. Bei grösseren Beschaffungsvorhaben kann als Alternative zur Anforderungsdefinition im Pflichtenheft ein separates Dokument im Sinne eines eigenen Anforderungskataloges als Anhang zum Pflichtenheft erstellt werden. Das Pflichtenheft wird, abhängig vom Verfahren, durch weitere Anhänge ergänzt (z. B. ein Preiseingabeformular, eine Vorlage für die Selbstdeklaration, usw.)

Abb. 1: Struktur des Pflichtenhefts und ergänzende Ausschreibungsunterlagen

[10]

Naeigt und erläutert.

Kapitel 1: Allgemeines zur Ausschreibung ^

[11]

In diesem ersten Kapitel des Pflichtenheftes legt der Auftraggeber in kurzen Zügen den Zweck der Ausschreibung bzw. des Pflichtenheftes inkl. des Ausschreibungsgegenstandes dar und macht Angaben zur Bedarfs- / Vergabestelle und der Beschaffungsstelle (inkl. der Nennung der Kontaktdaten) und zum gewählten Verfahren.

Bemerkungen zu möglichen Vorbehalten

[12]

Auch Angaben zu möglichen Vorbehalten (Abbildung 2) im Zusammenhang mit der Ausschreibung, wichtige Abhängigkeiten zu anderen Vorhaben und dem Umgang mit allfälligen Berichtigungen sollen in diesem Kapitel bekanntgegeben werden. Ausführungen zur Geheimhaltung und zur Einhaltung des Datenschutzes runden dieses erste Kapitel des Pflichtenheftes ab.

Vorbehalte

– Die ausschreibende Stelle übernimmt keine Haftung für Fehler oder Lücken in den Ausschreibungsunterlagen;

– Anbringen von Berichtigungen und Ergänzungen an den Ausschreibungsunterlagen, unter Wahrung der Gleichbehandlung aller Anbietenden, eventuell verbunden mit einer Fristerstreckung; die Anbietenden sind verpflichtet diese Ergänzungen in ihrer Offerte zu berücksichtigen;

– Der Auftrag kann nach dem Zuschlag ohne Kostenfolge für den Besteller widerrufen werden, wenn er nicht ausschreibungs- und vertragskonform ausgeführt wird; in diesem Fall kann der Besteller den Auftrag ohne neue Ausschreibung den an zweiter Stelle platzierten Anbieter vergeben;

– Der Zuschlag ist noch von Bedingungen abhängig (z. B. Genehmigung durch übergeordnete Gremien, Bewilligung des Kredites, Volksentscheiden, etc.);

– Der Besteller behält sich vor, Folgeaufträge, welche sich auf den Beschaffungsgegenstand beziehen, im freihändigen Verfahren zu vergeben;

Abb. 2: Vorbehalte (Auswahl)

Kapitel 2: Ausgangslage ^

[13]

In diesem zweiten Kapitel des Pflichtenheftes stellt sich der Auftraggeber bzw. die Beschaffungsstelle (die von der Beschaffung betroffenen Organisationseinheiten) den Offertstellern mit seiner speziellen Ausgangssituation im Zusammenhang mit der geplanten Beschaffung vor. Auch im Zusammenhang mit dem Beschaffungsvorhaben bereits aus früheren Projektphasen vorhandene Grundlagen (Strategien, Leitplanken, Ergebnisse aus Analysen, etc.) sollen in diesem Unterkapitel des Pflichtenheftes ihren Niederschlag finden. Damit soll ein zusammenfassender Überblick über die Organisation sowie das Umfeld, das vom Beschaffungsvorhaben betroffen ist, vermittelt werden. Angaben zum Anstoss für die Beschaffung und zur vorgesehenen Projektorganisation runden die Angaben zur Ausgangslage ab.

[14]

Eine zweckmässige Gliederung für die möglichst knapp zu haltende Schilderung der Ausgangslage geht aus Abbildung 3 und den nachfolgenden Ausführungen hervor.

Abb. 3: Ausgangslage

Bemerkungen zu Grundlagen aus Vorarbeiten

[15]

In vielen Fällen wurden mit Blick auf die bevorstehende Beschaffung schon in früheren Phasen Vorarbeiten geleistet. Diese können sehr unterschiedlicher Natur sein, wie z. B.: Papiere betreffend strategische Änderungen (Restrukturierungen, Einsatzkonzept und Beschaffenheit für die IT-Endgeräte, Verlagerung von Arbeitsplätzen ins «Home Office», firmenübergreifende Digitalisierung von Fachprozessen, etc.), Auslagerung von Prozessen oder Systemen, Konzepte zur Optimierung von Fachprozessen und IT-Anwendungen, gesetzliche Änderungen und Vorgaben, Erschliessung neuer Eisatzfelder im Rahmen der Digitalisierung.

Bemerkungen zu Anstoss für die Beschaffung

[16]

Die Gründe für Beschaffungen von Informatikmitteln sind mannigfaltig. Für jede Beschaffung gibt es jedoch einen speziellen, meist zwingenden Grund, welcher ein Beschaffungsprojekt auslöst («Compelling Event»). Diesen Grund sollten die Anbietenden kennen. Deshalb soll an dieser Stelle im Pflichtenheft in wenigen Worten der Anstoss für die Beschaffung bekannt gegeben werden, damit die Anbieter die Gründe des Beschaffungsprojektes und den Beschaffungsgegenstand besser nachvollziehen können.

Bemerkungen zur Projektorganisation

[17]

Kurze Angaben zur Projektorganisation (für die Evaluationsphase), zum Beispiel in grafischer Form, können die Schilderung der Ausgangslage sinnvoll abrunden. Es werden damit auch die personellen Zuständigkeiten und die vorhandenen Skills nach aussen transparent gemacht.

[18]

Darüber hinaus können bei komplexeren und grossen Vorhaben hier auch die Projektstruktur und eine mögliche Einbettung des Beschaffungsvorhabens in ein übergeordnetes Projekt transparent gemacht werden.

Kapitel 3: Ist-Zustand ^

[19]

Noch bevor man Ziele und Anforderungen formulieren kann, sind die für das jeweilige Beschaffungsvorhaben relevanten Informationen über den Ist-Zustand zu sammeln und festzuhalten. Diese Informationen sind insbesondere auch für die Anbieter von Interesse, können sie doch mit dem Wissen über die Stärken und Schwächen aber auch über unabänderliche Rahmenbedingungen der gegenwärtigen Situation ihre zu offerierende Lösung besser auf die Beseitigung der Probleme und auf die vorhandenen Systeme und Infrastrukturen hin abstimmen.

[20]

Zu diesem Zweck werden vor allem die vom Beschaffungsvorhaben betroffenen Prozesse (Arbeitsabläufe) mit ihren wichtigsten Aufgaben und Ausprägungen sowie die technischen Hilfsmittel (systemtechnische und Kommunikationsinfrastruktur) sowie Angaben zum Betrieb festgehalten.

[21]

Dabei ist es empfehlenswert, sich auf das für die Beschaffung wirklich Wichtige des Ist-Zustandes zu konzentrieren, die so genannte 80 : 20-Regel anzuwenden und sich auf die vom Beschaffungsvorhaben betroffenen Bereiche zu beschränken. Bei der Ist-Aufnahme kommt es also darauf an, das für den Beschaffungsgegenstand wirklich Relevante, sowie das richtige Mass zwischen genügendem Erkenntniswert und minimalem Aufwand zu finden. Dies setzt die Bereitschaft voraus, ein gewisses Mass an Unsicherheit zu ertragen und Mut zur Lücke zu haben. Eine umfassende, sehr detaillierte Wiedergabe des Ist-Zustandes kann schnell sehr aufwendig werden und ist im Hinblick auf die Beschaffung, auch nicht notwendig.

[22]

Eine zweckmässige Gliederung, zur Darstellung des Ist-Zustandes im Pflichtenheft geht aus Abbildung 4 hervor.

Abb. 4: Ist-Zustand

[23]

Als wichtigste Informationen bei der Schilderung des Ist-Zustandes haben sich in der Praxis die ICT-Strategie und Standards sowie eine konzise und knappe Darstellung der wichtigen Geschäftsprozesse im Umfeld des Beschaffungsgegenstandes erwiesen.

[24]

Eine weitere wichtige Informationsquelle ist das Applikationsportefeuille (auch Applikationsportfolio genannt). Hier sind diejenigen Applikationen aufzuführen, welche für den Beschaffungsgegenstand von Relevanz sind. Dies schliesst ein, dass auch all jene Applikationen bzw. Softwareprodukte, die in der zu beschaffenden ICT-Lösung weiterhin, zur Gewährleistung der Interoperabilität (Gewährleistung der Schnittstellen) über Applikations- und Systemgrenzen hinweg, benutzt werden, aufzuführen sind. Eine Darstellung als grafische Applikationsübersicht (mit Schnittstellen) hilft, den Beschaffungsumfang, die Abgrenzung des Beschaffungsgegenstandes sowie die Integration in die Applikationsumgebung aufzuzeigen.

Kapitel 4: Ziele ^

[25]

In diesem Abschnitt des Pflichtenheftes sind die Ziele, die mit der geplanten Beschaffung erreicht werden sollen, anzugeben. Die Ziele beziehen sich dabei gleichermassen auf unternehmensstrategische und betriebswirtschaftliche, aber auch menschlich-soziale, also auf nutzenrelevante (wirkungsbezogene) wie auch auf lösungsspezifische (überwiegend funktionale) Aspekte.

[26]

Aus den nutzenrelevanten Zielen und Rahmenbedingungen (zum Beispiel Reduktion der Prozesskosten um x %, Leitplanken der Informatikstrategie, absolut einzuhaltende Termine wegen herrschender Sachzwänge) werden die Systemziele (lösungsspezifische Ziele) und die Vorgehensziele (zum Beispiel Etappen, Termine) abgeleitet (siehe Abbildung 5).

Abb. 5: Strukturierung der Ziele

[27]

Die nutzenrelevanten Ziele zeigen vor allem auf, was aus unternehmensstrategischer und betriebswirtschaftlicher Sicht mit der neuen Lösung zu erreichen ist. Die Systemziele beziehen sich auf die Eckpfeiler der neuen Lösung, das heisst sie definieren auf einer hohen Ebene, wie der Endzustand (Lösungsumriss) aussehen bzw. welche Eigenschaften er haben muss. Die Vorgehensziele beziehen sich auf die Umsetzung des Projektes (Etappen, Realisierungseinheiten, Termine usw.).

[28]

Damit handelt es sich um ein multiples Zielsystem, das heisst um mehrere Zielarten mit sehr unterschiedlichem Inhalt, die jedoch miteinander in einem direkten Zusammenhang stehen.

[29]

Der Formulierung der Ziele ist ein hoher Stellenwert beizumessen, verkörpern sie doch den eigentlichen Grund für die geplante Beschaffung und die Grundlage für die Formulierung der Eignungs- bzw. KO-Kriterien und der Anforderungen. Die Ziele sind zudem auch massgebend für die Gewichtung der Kriterienhierarchie (Zuschlagskriterien).

[30]

Ziele können auch zu wichtigen Vertragspunkten für das jeweilige Beschaffungsvorhaben werden (zum Beispiel Systemleistungen, Termine).

Bemerkungen zur Formulierung der Ziele

[31]

Bei der Formulierung der Ziele sind folgende Grundsätze zu beachten:

  • Ziele müssen realistisch und erreichbar gesetzt werden,
  • Ziele müssen quantifiziert (operational) vorgegeben werden, denn nur so kann der Grad der Zielerreichung der späteren Lösung festgestellt werden,
  • Ziele müssen hersteller- bzw. anbieterneutral und strukturierbar sein,
  • Ziele müssen von allen beteiligten Parteien und Stellen (Auftraggeber, Projektteam, betroffene Mitarbeitende) akzeptiert werden können,
  • Ziele sollten nicht konkurrieren, das heisst einander gegenseitig ausschliessen;
  • Zielkonflikte sind von Anfang an durch Mittel-/Zweckrelationen zu vermeiden. Wo dies nicht möglich ist, sollte der Widerspruch aufgezeigt und das Schwergewicht festgelegt werden.

Kapitel 5: Anforderungen (Anforderungsprofil) ^

[32]

Die Definition der Anforderungen an den Beschaffungsgegenstand (Applikationen, Systeme bzw. einzelne Systemkomponenten oder Dienstleistungen) stellt einen Schwerpunkt innerhalb des Pflichtenheftes dar. Die Offertsteller sollen sich auf eine präzise Formulierung der Anforderungen abstützen können. Das heisst jedoch nicht, dass bereits komplette Lösungen, insbesondere die Systemplattform mit ihren exakten Leistungsmerkmalen, vorzugeben sind; dies ist die Aufgabe der Offertsteller.

Hauptebenen zur Strukturierung der der Anforderungen

[33]

Die Anforderungen sind Grundlage für die im Rahmen der Evaluation definierten Bewertungs- respektive Zuschlagskriterien und sind als Konkretisierung der Ziele zu verstehen. Sie beziehen sich auf alle Träger der künftigen Lösung, in den meisten Beschaffungsfällen auf die nachfolgend genannten drei Hauptebenen:

  • die Applikationssoftware mit ihren Funktionen und Daten;
  • die ICT-Infrastruktur, bestehend aus Hardware, Software und den Datennetzen inklusive Kommunikationsdiensten;
  • die Dienstleistungen der Anbieter wie Hersteller, Lieferanten und Integrationshelfer sowie Dienstleister für den Betrieb und Support.
[34]

Diese drei Anforderungshauptebenen sind danach im Pflichtenheft tiefer zu strukturieren und zwar in die applikationsbezogenen und systemtechnischen Lösungsträger, die ICT-Infrastruktur und die zu erbringenden Dienstleistungen der Anbieter wie Hersteller.

[35]

Für die applikationsbezogenen und systemtechnischen Lösungsträger sind insbesondere die nachfolgend aufgeführten Kriterien (Anforderungen) von Bedeutung

  • Funktionale Leistung, das heisst funktionale Richtigkeit und Vollständigkeit (fachliche Korrektheit, Konsistenz);
  • Leistungsfähigkeit und Effizienz (Zeitverhalten, Ressourcenbedarf);
  • Zuverlässigkeit (Integrität der Lösung, Verfügbarkeit der Systemleistung);
  • Wartbarkeit (Anpassungsfähigkeit, Unterhalt);
  • Datenschutz und Sicherheit;
  • Systemunabhängigkeit (Portabilität, Skalierbarkeit, Interoperabilität);
  • Benutzbarkeit (Benutzerfreundlichkeit, Einfachheit der Handhabung und des Betriebes der Lösung und Systeme).
[36]

Einen gleichermassen entscheidenden Einfluss auf das Gelingen des Beschaffungsvorhabens und die Einhaltung von Terminen und Kosten haben aber auch anbieter- und realisierungs- bzw. unterstützungsbezogene Leistungen sowie betriebliche (Outsourcing, Cloud-Computing) und Supportleistungen. Auf diese Anforderungen wird zu den Ausführungen zur Abbildung 6 noch näher eingegangen wie:

  • Marktstellung, Solidität und fachliches Know-how der Hersteller bzw. Lieferanten und sonstigen Integrationshelfer;
  • Realisierungskompetenz und die Unterstützungsleistungen vor, während und nach der Einführung;
  • Erbringung betrieblicher Leistungen, sofern Outsourcing und Cloud-Computing ein Thema der Beschaffung sind;
  • vertragliche Absicherung der Leistungen.

Detailangaben zu den Anbieterbezogene Anforderungen

[37]

Eine erfolgreiche Beschaffung und Implementierung von Informatikmitteln sowie deren spätere effiziente Nutzung hängt nicht nur von der Güte der Applikationssoftware und der Systemplattform, sondern ebenso von der Seriosität und der Fachkompetenz der Realisierungspartner, Hersteller, Lieferanten, Betreibern von Outsourcing- und Cloud-Lösungen und sonstigen Integrationshelfern ab. Deshalb hat der Pflichtenheftersteller entsprechende anbieterbezogene Anforderungen an die Fachkompetenz der Anbieter und die zu erbringenden Dienstleitungen für Lieferung und Implementierung (projektbezogene Arbeiten) sowie für den Betrieb und Support zu formulieren (siehe Abbildung 6).

Abb. 6: Anbieterbezogene Anforderungen

[38]

Gerade auch wegen der meist mehrjährigen und oft nur schwer lösbaren Bindung an die Hersteller bzw. Lieferanten, insbesondere von Softwareprodukten oder an Outsourcing-Firmen, sind diese Art von Anforderungen besonders wichtig.

Bemerkungen zu den Anbietermerkmalen

[39]

In diesem Abschnitt des Pflichtenheftes geht es darum, durch entsprechende Anforderungen und Fragen sich ein Bild über die generelle Leistungsfähigkeit, Unternehmenskultur und Glaubwürdigkeit der Anbieterseite zu verschaffen. Anbietermerkmale, welche im Rahmen von IT-Beschaffungen geprüft werden, sind beispielsweise

  • Solidität / Marktstellung
  • Kundennähe / Erfahrung
  • Referenzen
  • Wirtschaftliches und technisches Leistungsvermögen

Bemerkungen zu den Eignungskriterien

[40]

Beim Vorgehen nach dem öffentlichen Beschaffungsrecht werden ausgewählte Anbietermerkmale in den Status von Eignungkriterien erhoben.

[41]

Dabei handelt es sich um Anforderungen, die unabdingbar zu 100% erfüllt sein müssen, damit der Teilnahmeantrag für eine Ausschreibung oder das Angebot selbst überhaupt im Evaluationsprozess weiter behandelt werden können. Wird die Hürde der Eignungskriterien von den anbietenden Firmen nicht übersprungen, so scheidet die betreffende Firma für den jeweiligen Beschaffungsfall aus. Deshalb werden die Eignungskriterien auch oft als KO-Kriterien bezeichnet.

Merkmale der Eignungskriterien

[42]

Gemäss den Bestimmungen des Beschaffungsrechtes (BöB und IVöB) haben sich die Eignungskriterien auf den Nachweis der finanziellen, wirtschaftlichen und technischen Leistungsfähigkeit der Anbieter zu beziehen. Sie sind somit also anbieterbezogen und fokussieren darauf, welche finanziellen oder wirtschaftlichen sowie spezifischen fachlichen, technischen und organisatorischen Voraussetzungen die Anbieter im Sinne eines Minimums erfüllen müssen.

[43]

Unter dem Begriff der Eignungs- oder KO-Kriterien definiert das Beschaffungsrecht auch «technische Spezifikationen» (IVöB Art. 30). In der Praxis lassen sich die auf den Anbieter bezogenen Eignungskriterien und technische Spezifikationen nicht immer klar trennen, beispielsweise wenn es um Betriebsleistungen wie Cloud-Hosting geht. Entscheidend ist, dass die Anzahl der Eignungskriterien und technischen Spezifikationen überschaubar bleibt. Zu vermeiden sind unnötig umfangreiche (technische) Vorgaben, die den Markt zu sehr einschränken und zum Ausschluss vieler Anbieter führen würden.

Formulierung der Eignungskriterien inkl. der technischen Spezifikationen

[44]

Die Eignungskriterien und technischen Spezifikationen sind äusserst sorgfältig zu bestimmen sowie sachgerecht und präzise zu formulieren. Dabei ist besonders auf die Nichtdiskriminierung und Gleichbehandlung der Anbietenden zu achten. In der Regel wird man sie von der Anzahl her auf ein Dutzend beschränken, mit dem Ziel, die für das jeweilige Beschaffungsvorhaben wirklich erfolgskritischen Punkte erfasst zu haben.

Bemerkungen zu den Dienstleistungen (Projektbezogen, Betrieb und Support)

[45]

Bei der Beschaffung von IT-Systemen ist der Fokus oft auf den komplexen Anforderungen, technischen Gegebenheiten und den damit verbundenen Investitionen in Hardware und Software. Darüber darf nicht vergessen werden, dass für eine erfolgreiche Lösungseinführung und einen effizienten Systembetrieb kompetent ausgeführte Dienstleistungen erbracht werden müssen.

[46]

Der Pflichtenheftersteller hat deshalb die für ihn relevanten Realisierungs- und Unterstützungsleistungen zu fordern. Sie beziehen sich auf die Projektorganisation und auf alle Träger der Lösung (Applikationen und Systemplattform) inklusive des Betriebes und Supports der Systeme sowie auf die in die Umsetzung der Lösung einbezogenen Personen (Projektleitung, Informatikfachkräfte, Support- und Schulungspersonal). Zu nennen sind etwa:

  • Wahrnehmung des Projektmanagements (Gesamtprojektleitung, Leitung von Teilprojekten)
  • Konzeptionelle Leistungen (Fachkonzepte, Einführungs-Konzept, Datenmigrations-Konzept, Testkonzept, Schulungskonzept, usw.)
  • Projektmitarbeit, insbesondere bei der Erstellung von Spezifikationen und Konzepten, der Konfigurierung und Parametrierung der Software, dem Aufbau der Daten und der Dokumentation sowie allfälligen Migrationsarbeiten
  • Realisierungs- und Implementierungsleistungen wie die Installation von Hardware und Software, Softwareentwicklung und Realisierung von Schnittstellen sowie Systemtests
  • Dienstleistungen zur Einführung und Schulung
  • Erbringen von Wartungs-, Betriebs- und Supportleistungen über den Lebenszyklus der IT-Systeme
[47]

Im Rahmen einer IT-Beschaffung geht es immer darum, die Anforderungen – auch diejenigen an die Dienstleistungen – vollständig zu formulieren (damit die Anbieter diese in ihre Kalkulation einbeziehen können) um sodann im Rahmen der Evaluation sicherzustellen, dass die Anbieter die geforderten Leistungen auch erbringen können (Kompetenznachweis).

Kapitel 6: Mengengerüst, Häufigkeiten ^

[48]

Das Mengengerüst und die Verarbeitungshäufigkeiten geben Auskunft, welche und wieviel Daten

  • in die Systeme, bzw. Applikationen, in welchen Zeitperioden hineingehen (Input) und zu verarbeiten sind;
  • permanent, das heisst zugriffsbereit zu verwalten sind (Datenbestände);
  • aus den Systemen bzw. Applikationen in welchen Zeitperioden herauskommen (Output)
  • und wie viele Arbeitsplatz- und Peripheriegeräte mit dem System bzw. der zu beschaffenden Anwendung unterstützt werden.
[49]

Damit bezieht sich das Mengengerüst gleichermassen auf Datenbewegungen und Datenbestände aber auch auf die Anzahl der zu unterstützenden Arbeitsplatzsysteme und der Anzahl der Benutzenden.

[50]

Die Angaben zu den Arbeitsplatzsystemen implizieren auch Angaben zur Anzahl der Benutzerinnen und Benutzer des Systems bzw. der einzelnen Applikationen. Diese Angaben sind nicht nur für die Systemleistung, sondern unter Umständen auch für die zu offerierenden Lizenzkosten – manche Softwareanbieter beziehen ihre Lizenzen auf die Anzahl «User» – relevant.

[51]

Wichtig ist es, bei diesen Angaben vom Ist-Zustand auszugehen (siehe Kapitel 3 «Ist-Zustand») jedoch auf den Soll-Zustand und zukünftige Entwicklungen (Tendenzen) während der Lebensdauer der Lösung (zum Beispiel fünf Jahre oder mehr) abzustellen. Unterliegen vor allem Datenbewegungen grösseren Schwankungen pro Zeiteinheit, so sind nicht nur die Durchschnittswerte pro Periode (Monat, Jahr), sondern auch die Spitzenwerte speziell zu vermerken (saisonale Schwankungen, Tages-, Monatsspitzen usw.).

Kapitel 7: Aufbau und Inhalt des Angebotes ^

[52]

In diesem Abschnitt des Pflichtenheftes werden die Vorgaben für den Offertaufbau inkl. allfälliger Beilagen festgelegt, dies im Interesse möglichst vollständiger und transparenter Offerten. Zudem wird damit die Informationsgewinnung und die Vergleichbarkeit der verschiedenen Angebote stark erleichtert. Der Aufbau der Offerte wurde so gewählt, dass er praktisch den Hauptpunkten der Anforderungen des Pflichtenheftes bzw. den Kriterien im Kriterienkatalog entspricht. Deshalb ist der Offertsteller anzuhalten, zwingend den vorgegebenen Offertaufbau zu beachten.

[53]

Eine zweckmässige Gliederung der Offerte geht aus Abbildung 7 hervor.

Abb. 7: Aufbau der Offerte

[54]

Zu den wichtigsten Vorgaben für die Offerte gehören

  • Vorstellung des Anbieters (inkl. Partner bzw. Unterlieferanten)
  • Nachweis der Erfüllung der Eignungskriterien
  • Projektorganisation / Planung
  • Erfüllung der Anforderungen
  • Preis- und Kostenzusammenstellung (Einmalige Kosten wie Hard- und Software und Projektdienstleistungen sowie wiederkehrend Kosten für Lizenzen, Wartung, Outsourcing, Support)
[55]

Zur besseren Vergleichbarkeit der Offerten werden als Beilagen zum Pflichtenheft in der Regel standardisierte Formulare und Vorgaben verwendet, wie Anforderungskatalog, Preiseingabeschema und Vertragsentwürfe.

Kapitel 8: Administratives und Bewertung der Angebote ^

[56]

In diesem Abschnitt des Pflichtenheftes werden die administrativen und terminlichen Vorgaben im Zusammenhang mit der Beschaffung aufgeführt, wie:

  • Angaben zum Beschaffungsverfahren (z.B. Offenes Verfahren, Einladungsverfahren)
  • Ablauf und Ecktermine der Beschaffung
  • Einreichung des Angebots (Formvorschriften, Sprache, digitale und physische Kanäle)
  • Angaben zu den Zuschlagskriterien und zur Bewertung (inkl. Methodik der Preisbewertung)
  • Vertraulichkeit, Copyright, Rückgabe oder Vernichtung von Offerten
[57]

Da diese Angaben sich nicht auf fachliche oder technische Aspekte des Beschaffungsobjekts beziehen, gehören sie nach der Meinung einiger Beschaffungsstellen nicht zum «Pflichtenheft im engeren Sinne». Oft werden diese Angaben deshalb in ein separates Dokument (bspw. «Submissionsbedingungen» genannt) innerhalb der Ausschreibungsunterlagen ausgelagert.

Kapitel 9: Anhänge zum Pflichtenheft ^

[58]

Den Abschluss des Pflichtenhefts bildet das Verzeichnis der Anhänge und Beilagen zum Pflichtenheft. Entweder sind sie vom Anbieter zu beantworten (auszufüllen) oder sie dienen ihm als präzisierende Angaben zur Ausschreibung. Die Anhänge verstehen sich damit als integraler Bestandteil des Pflichtenheftes. Dazu zählen in der Regel folgende Dokumente:

  • Eignungskriterienkatalog,
  • Anforderungskatalog,
  • Preiseingabeformular,
  • Vorlage für Selbstdeklaration,
  • Vertraulichkeitserklärung,
  • Vertragsentwürfe
  • weitere Unterlagen zum Projekt, wie z.B. Vorstudien

Josef Schreiber ist selbständiger IT-Berater und Erstautor eines Fachbuchs.

Roland Füllemann ist IT-Beschaffungsberater für die öffentliche Hand bei der «example consulting gmbh» und Co-Autor eines Fachbuchs.