Jusletter IT

Palais-Tisch vs Cord-Tisch

Aktuelles zum Europäischen Werkbegriff

  • Author: Clemens Thiele
  • Category of articles: IP-Law
  • Region: EU, Germany, Austria
  • Field of law: IP-Law
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2024
  • DOI: 10.38023/39057964-a10e-4e80-b12a-585e19ff3ba8
  • Citation: Clemens Thiele, Palais-Tisch vs Cord-Tisch, in: Jusletter IT 24 April 2024
Ausgehend von einem kürzlich eingereichten Vorabentscheidungsersuchen aus Schweden (beim EuGH zu Rs C-580/23 geführt), dem ein Rechtsstreit zwischen einem Möbeldesigner und Möbelherstellern zugrunde liegt, stellt sich (einmal mehr) die Frage nach dem Europäischen Werkbegriff, konkret, ob ein Gegenstand der angewandten Kunst (hier: der Palais-Tisch) die erforderliche Originalität hat, um Schutz als Werk iSv Art 2 bis 4 InfoSoc RL (2001/29/EG) zu genießen. Im Einzelnen ergehen sich grundlegende Fragen am Schnittpunkt von Urheber-, Design- und Technikrecht, die es ermöglichen, die bisherige Rechtsprechung des EuGH zum Werkbegriff unionsrechtlicher Prägung Revue passieren zu lassen und einen vorsichtigen Ausblick auf den Ausgang des Verfahrens und mögliche Entwicklungen zu wagen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Ausgangsfall
  • 2. Unionsrechtliche Beurteilung
  • 3. Ausgewählte mitgliedstaatliche Perspektiven
  • 3.1. Gebrauchskunst und Werkbegriff aus österreichischer Perspektive
  • 3.2. Gebrauchskunst und Werkbegriff aus deutscher Perspektive
  • 4. Ausblick
  • 5. Zusammenfassung
  • Literatur

1.

Ausgangsfall ^

[1]

Mit Entscheidung vom 21.9.2023 ersuchte das Berufungsgericht für Patente und Marken (Svea hovrätt, Patent- och marknadsöverdomstolen) um Auslegung von Art 2 bis 4 InfoSoc-RL1 durch den EuGH, insbesondere um Klärung folgender Fragen:

  1. Wie ist die Prüfung bei der Beurteilung, ob ein Gegenstand der angewandten Kunst den weitreichenden Schutz des Urheberrechts als Werk im Sinne der Art. 2 bis 4 der Richtlinie 2001/29/EG verdient, vorzunehmen – und welche Faktoren sind bei der Frage zu beachten oder sollten beachtet werden, ob der Gegenstand die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegelt, indem er dessen freie kreative Entscheidungen zum Ausdruck bringt? In diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die Frage, ob sich die Originalitätsprüfung auf Faktoren um den Schaffensprozess und die Erläuterung des Urhebers zu den tatsächlichen Entscheidungen, die er oder sie beim Schaffen des Gegenstands getroffen hat, zu richten hat, oder auf Faktoren betreffend den Gegenstand als solchen und das Endergebnis des Schaffensprozesses sowie darauf, ob der Gegenstand selbst Ausdruck eines künstlerischen Wirkens ist.
  2. Welche Bedeutung hat es für die Antwort auf Frage 1 und die Frage, ob ein Gegenstand der angewandten Kunst die Persönlichkeit des Urhebers widerspiegelt, indem er dessen freie kreative Entscheidungen zum Ausdruck bringt, dass
    a) der Gegenstand aus Elementen besteht, die sich im allgemeinen Formenschatz finden?
    b) der Gegenstand auf bereits bekannten Geschmacksmustern aufbaut und eine Variation davon oder eines bestehenden Geschmacksmustertrends darstellt?
    c) identische oder ähnliche Gegenstände vor oder – unabhängig und ohne Kenntnis von dem Gegenstand der angewandten Kunst, für den Schutz als Werk beansprucht wird – nach dem Schaffen des betreffenden Gegenstands geschaffen wurden?
  3. Wie ist die Beurteilung der Ähnlichkeit bei der Prüfung, ob ein als verletzend beanstandeter Gegenstand der angewandten Kunst unter den Schutzumfang eines Werkes fällt und das ausschließliche Recht an dem Werk verletzt, das gemäß Art. 2 bis 4 der Richtlinie 2001/29/EG dem Urheber zusteht, vorzunehmen – und welche Ähnlichkeit ist erforderlich? In diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die Frage, ob die Prüfung darauf abzuzielen hat, ob das Werk in dem als verletzend beanstandeten Gegenstand wiedererkennbar ist oder darauf, ob der als verletzend beanstandete Gegenstand denselben Gesamteindruck wie das Werk vermittelt, oder worauf die Prüfung sonst gerichtet sein muss.
  4. Welche Bedeutung hat für die Antwort auf Frage 3 und die Frage, ob ein als verletzend beanstandeter Gegenstand der angewandten Kunst unter den Schutzumfang eines Werkes fällt und das ausschließliche Recht an dem Werk verletzt,
    a) der Grad an Originalität des Werkes für den Schutzumfang des Werkes?
    b) die Tatsache, dass das Werk und der als verletzend beanstandete Gegenstand der angewandten Kunst aus Elementen bestehen, die sich im allgemeinen Formenschatz finden, oder auf bereits bekannten Geschmacksmustern aufbauen und Variationen davon oder eines bestehenden Geschmacksmustertrends darstellen?
    c) die Tatsache, dass andere identische oder ähnliche Gegenstände vor oder – unabhängig und ohne Kenntnis von dem Werk – nach dem Schaffen des Werkes geschaffen wurden?
[2]

Die Beklagten des Ausgangsverfahrens vor dem Schwedischen Patent- und Markengericht, Mio AB, Mio e-handel AB, Mio Försäljning AB, sowie die Kläger:innen, Galleri Mikael & Thomas Asplund AG, stritten um die weitere Herstellung und den Vertrieb des sog. Cord-Tisches, der dem sog. „Palais-Tisch“ der Kläger:innen ähnelte:

Palais-Tisch der klP Cord-Tisch der beklP
© Apslund © Mio

Abb. 1: Esstische des Anlassfalles

[3]

Die Unterlassungsklage stützte sich auf eine Verletzung des Urheberrechts an diesem Möbelstück und hatte in I. Instanz Erfolg. Das Gericht entschied, dass der Palais-Tisch als Werk der angewandten Kunst urheberrechtlich geschützt wäre und dass Mios Cord-Tisch den urheberrechtlichen Schutz verletzt hatte.

[4]

Im Berufungsverfahren hegte das zuständige Gericht jedoch Bedenken hinsichtlich der Werkqualität des Esstisches. In Anbetracht der bisherigen Unions-Rsp2 blieb für die Berufungsrichter:innen unklar, wie die konkrete Beurteilung vorzunehmen wäre, ob ein Gegenstand der angewandten Kunst die Persönlichkeit des Urhebers widerspiegelt, indem er dessen freie kreative Entscheidungen zum Ausdruck bringt, – und gegebenenfalls welche Faktoren zu beachten seien oder beachtet werden sollten. Das schwedische Gericht äußerte u.a. Bedenken darüber, dass auch Gegenstände, die es möglicherweise nicht verdienen, als Werk eingestuft zu werden, urheberrechtlichen Schutz zuerkannt bekämen. Ferner könnte dies dazu führen, dass einfache (Gebrauchs-)Gegenstände, die im Grunde nicht mit künstlerischer Absicht geschaffen wurden – oder die jedenfalls keine künstlerische Eigenart aufweisen – als Werke geschützt würden.

2.

Unionsrechtliche Beurteilung ^

[5]

Für den „unionsrechtlichen Werkbegriff“ fehlt eine positiv-rechtlich verankerte Definition im einschlägigen Primär- oder Sekundärrecht der EU. Gleichwohl „bedienen“ sich die zwölf Richtlinien3 zum Urheberrecht iwS4 wie selbstverständlich des Begriffes „Werk“ als Gegenstand und zentralem Anknüpfungspunkt dieser Rechtsmaterie des geistigen Eigentums.5 Lediglich bei Computerprogrammen, Datenbanken und Fotografien bestehen auf Unionsebene nähere rechtliche Anforderungen. Insoweit und im Übrigen hat die Rsp des EuGH zu einer „schleichenden Harmonisierung des urheberrechtlichen Werkbegriffs“6 geführt, da ohne zu bestimmen, ob ein Werk vorliegt, nicht beurteilt werden kann, ob eine von Art 2 InfoSoc-RL erfasste Vervielfältigung vorliegt.7

[6]

Zum Urheberrecht ergibt sich v.a. aus der Unions-Rsp8 zur InfoSoc-RL, dass der Begriff „Werk“ zwei Bestandteile hat. Zum einen muss es sich um ein Original handeln, das eine eigene geistige Schöpfung seines Urhebers ist, und zum anderen muss eine solche Schöpfung zum Ausdruck gebracht werden.9 Was den ersten Bestandteil angeht, kann ein Gegenstand erst bzw. bereits dann als Original angesehen werden, wenn er die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegelt, indem er dessen freie kreative Entscheidungen zum Ausdruck bringt. Hinsichtlich des zweiten Bestandteils setzt der Begriff „Werk“ iSd InfoSoc-RL zwangsläufig einen mit hinreichender Genauigkeit und Objektivität identifizierbaren Gegenstand voraus.10

[7]

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob der Urheber ausreichende Beweise dafür vorgelegt hat, dass er Inhaber des betreffenden Rechts des geistigen Eigentums iSv Art 8 Enforcement-RL ist.11

[8]

Ebenso bestimmt der Werkbegriff über die Urheberschaft die Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten. Denn Art 3 Abs 1 Enforcement-RL sieht vor, dass die in deren Kapitel II vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe fair und gerecht sein müssen und außerdem nicht unnötig kostspielig sein dürfen. Darüber hinaus müssen diese Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe gemäß Art 3 Abs 2 leg.cit. wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein und so angewendet werden, dass die Gewähr gegen ihren Missbrauch gegeben ist. Diese Vorschrift verpflichtet die Mitgliedstaaten und letztlich die nationalen Gerichte, Garantien dafür zu bieten, dass u. a. das in Art 8 Enforcement-RL genannte Auskunftsrecht nicht missbräuchlich verwendet wird.12

3.

Ausgewählte mitgliedstaatliche Perspektiven ^

[9]

Wesentlich größer als etwa im Marken- oder Designrecht gestalten sich die Unterschiede zwischen den Urheberrechtssystemen auf mitgliedstaatlicher Ebene und dem unionsrechtlichen Normenbestand. Die Urheberrechtsgesetze in den einzelnen Mitgliedsländern der EU weisen einen weit geringeren Harmonisierungsgrad untereinander auf, als dies etwa für die Konvergenz im Markenschutz- oder Musterschutz13 zutrifft. Dies deshalb, weil auf EU-Ebene – von zwei Ausnahmen14 abgesehen – keine einheitliche und verbindliche Unionsverordnung zum UrhR besteht. Die Werkdefinition, insbesondere die Abgrenzung zum Leistungsschutzrecht des Designs bleibt der Rechtspraxis in den Mitgliedstaaten überlassen.15 Im Folgenden soll daher aus der Perspektive des österreichischen und deutschen Urheberrechts das mitunter schwierige – historisch betrachtet durchaus wandelbare – Verhältnis des urheberrechtlich geschützten Werkes zum „Nicht-Werk“ überblicksartig dargestellt werden.

3.1.

Gebrauchskunst und Werkbegriff aus österreichischer Perspektive ^

[10]

Bereits nach der älteren Rsp war für Werke des Kunstgewerbes, die die nach § 1 Abs 1 UrhG erforderliche schöpferische Eigenart und Werkhöhe (Individualität) aufweisen, anerkannt, dass neben dem Musterschutz auch der urheberrechtliche Schutz in Anspruch genommen werden konnte.16 Die Grenze zwischen Urheberrechtsschutz (Kunstschutz) und Musterschutz durften allerdings nicht zu niedrig angesetzt werden.17 Damit ist für das österreichische Urheberrecht das mitunter durchaus komplexe Abgrenzungsthema zwischen Design- und Werkschutz offenbart.

[11]

Schon sehr früh hat die österreichische Rechtspraxis den Grundsatz der Parallelität der geschmacksmuster- und urheberrechtlichen Schutzsysteme anerkannt. Dass für eine Formulariensammlung auch Musterschutz erworben wurde, kann ihr den Charakter eines individuellen Produktes geistiger Arbeit nicht nehmen. Der erworbene Musterschutz und der ihrem inneren Gehalt nach ex lege gebührende Urheberschutz können nebeneinander bestehen.18 Insoweit kommt demnach sowohl urheberrechtlicher, als auch designrechtlicher Schutz für „Gebrauchskunst“ in Betracht. Eine Gestaltung genießt allerdings dann keinen Urheberrechtsschutz, wenn sie allein aus frei wählbaren oder austauschbaren, aber technisch bedingten Merkmalen besteht und keine Originalität verkörpert.19 Allein durch die Ausnutzung eines handwerklich-konstruktiven Gestaltungsspielraums oder durch den Austausch eines technischen Merkmals durch ein anderes entsteht noch keine eigentümliche geistige Schöpfung.20

[12]

Nach gefestigter Rsp war für Werke des Kunstgewerbes, welche die nach § 1 Abs 1 UrhG erforderliche schöpferische Eigenart und Werkhöhe (Individualität) aufweisen, anerkannt, dass neben dem Musterschutz auch der urheberrechtliche Schutz in Anspruch genommen werden konnte.21 Die Grenze zwischen Urheberrechtsschutz (Kunstschutz) und Musterschutz durfte allerdings nicht zu niedrig angesetzt werden.22

[13]

Umgekehrt soll für den Bereich der angewandten Kunst das Erfordernis einer bestimmten Gestaltungshöhe weiterhin an der Notwendigkeit der Abgrenzung zum Geschmacksmusterrecht festgemacht werden.23 Diese Ansicht erscheint auch im Licht des Vorabentscheidungsverfahrens aus Schweden überprüfenswert.

[14]

Gemäß § 3 Abs 1 UrhG gehören zu den Werken der bildenden Künste im Sinne dieses Gesetzes auch Werke des Kunstgewerbes. Durch die damit erfolgte Einbeziehung der Werke der angewandten Kunst hat der Kunstschutz (Urheberrechtsschutz) ein breites Anwendungsfeld gewonnen. Die Bestimmung eines Werkes, also der Zweck, zu dem es geschaffen wurde, ob zum Gebrauche (und hier wieder als Einzelstück oder zur Unterlage industrieller Erzeugnisse) ist damit für die Frage des urheberrechtlichen Schutzes bedeutungslos:

Abb. 2: Mart Stam Stuhl

[15]

Die Zweckbestimmung kann sich somit ohne Gefährdung des Urheberrechtsschutzes im Gebrauchszweck erschöpfen.24

[16]

Zur Rechtsdurchsetzung aus einem „werknahen“ Gebrauchsgegenstand ist festzuhalten: Behauptet der Kläger ausschließliche Verwertungsrechte an einem Werk des Kunstgewerbes als Werk der bildenden Künste im Sinne des § 3 Abs 1 UrhG, dann können die zum Nachweis des Werkcharakters erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen schon durch Vorlage des Werkes oder von Abbildungen davon dokumentiert werden.

Abb. 3: Le Corbuiser Liege

[17]

Dabei können Hinweise, welche Gestaltungselemente dem Werk den Charakter der Einmaligkeit geben, naturgemäß sehr hilfreich sein; zu Behauptungen, wonach der Schaffung kein fremdes Werk als Vorlage gedient habe und etwa einzelne, werkbegründende Gestaltungselemente weder durch den Verwendungszweck technisch bedingt noch gemeinfrei seien, ist aber der Kläger nicht verpflichtet.25

3.2.

Gebrauchskunst und Werkbegriff aus deutscher Perspektive ^

[18]

Nach dem historischen – inzwischen überholten – Verständnis war das Geschmacksmusterrecht bis in die 1990er Jahre26 dogmatisch an das Urheberrecht angelehnt und konnte als „kleines Urheberrecht“ für die künstlerische Schöpfungshöhe angesehen werden:

Abb. 4: Entwurf Adolf Bertele GmbH

[19]

Der Abgrenzung lag die Prävalenztheorie zugrunde, die in den Motiven zum Deutschen Gesetz betreffend das Urheberrecht an Mustern und Modellen vom 11.1.1876 fußte.27 Demzufolge wurden selbst „als künstlerisch ausgestattete Gebrauchsgegenstände“ nicht dem Urheberrechtsschutz zugerechnet, wenn sie als Industrieerzeugnisse vertrieben wurden.28 Dies führte in der Praxis dazu, kunstgewerbliche Erzeugnisse, wie damals übliche Tintenfässer, Essbestecke und Teppiche, die für Gebrauchszwecke geschaffen wurden, nur zu schützen, wenn sie vor der Verbreitung als Muster hinterlegt, maW registriert, waren.

[20]

Ein Durchbrechen dieser dogmatischen Trennlinie ist wiederum der Kreativität der Bauhaus-Gruppe zu verdanken. Eine erste Einbeziehung schlicht-funktionaler Erzeugnisse in den urheberrechtlichen Schutz nahm das Reichsgericht mit seiner Entscheidung vom 1.6.1932 betreffend den von Mart Stam entwickelten Stahlrohrstuhl vor:29

Abb. 5: Mart Stam; Foto: Till Leser

[21]

Für den Werkschutz eines Erzeugnisses des Kunstgewerbes reichte die ästhetische Form aus. Dass die Form auch technisch bedingt sei, stand dem Urheberrechtsschutz nicht entgegen. Hauptmerkmal des Stuhls bildete „die strenge, folgerichtige Linienführung, die jeden überflüssigen Teil vermeide und in knappster Form mit den einfachsten Mitteln die moderne Sachlichkeit verkörpere“.30

[22]

Ein gutes – wohl schlechtes – halbes Jahr später, nämlich am 14.1.1933 bereitete der Erste Zivilsenat des Reichsgerichts dem Kunstschutz für die Neue Sachlichkeit ein jähes Ende. Entgegen den Vorinstanzen versagte das Höchstgericht dem von Walter Gropius im Jahr 1922 entwickelten Türdrücker jeglichen Werkschutz:

Abb. 6: Walter Gropius Türdrücker; Foto: Tecnoline

[23]

Der Senat verstieg sich dazu, der „modernen Kunstanschauung“ der Bauhaus-Gruppe eine „ablehnende Einstellung“ zu attestieren, denn sie suche „die auf das ästhetische Gebiet hinübergreifenden Formen einmal darin zu finden, daß sie danach trachtet, schmückende Zutaten zu den aus dem Verwendungszweck abgeleiteten Grundformen zu vermeiden. Diese ablehnende Einstellung führt aber noch zu keiner schöpferischen künstlerischen Formgebung.“ Formwerke mit ästhetischem Überschuss hingegen „fügen der Verneinung des Zweckwidrigen die schöpferische Bejahung aus dem Reiche des Schönen hinzu.“31 Schließlich gipfelte das RG apodiktisch: „Wollte man jeden Gebrauchsgegenstand, in dem sich ein modernes Kunstgefühl offenbart, bereits als eigenpersönliche Schöpfung ansehen, so müßte in der Tat so ziemlich jeder Gegenstand, der die Geschmacksmusterrichtung moderner Kunstanschauung zum Ausdruck bringt, als Erzeugnis des Kunstgewerbes geschützt werden“.32

[24]

Die auch personellen Verquickungen der Nachkriegszeit mit dem schweren „Erbe“33 führten zu einer deutlichen Beibehaltung des Stufenverhältnisses im Rahmen der Gebrauchskunst. Erst nach der Geschmacksmusterreform des Jahres 2004 durch das DesignG erfolgte eine Kehrtwende hin zu einer Gleichbehandlung von angewandter mit (sonstiger) bildender Kunst.

[25]

Mit der Geburtstagszug-Entscheidung34 hat der BGH seine bisherige Rsp aufgegeben, wonach bei Werken der angewandten Kunst, soweit sie einem Geschmacksmusterschutz zugänglich sind, höhere Anforderungen an die Gestaltungshöhe eines Werkes zu stellen sind als bei Werken der zweckfreien Kunst, bei der die sog. „kleine Münze“ als Schutzuntergrenze ausreichte. In den darauf ergangenen Entscheidungen festigte das deutsche Höchstgericht diese neue Linie und führte im Anschluss an die Unions-Rsp aus, dass die Vorgaben des EuGH zur Auslegung von § 2 Abs 1 Nr 4 dUrhG zu berücksichtigen sind. Denn der ästhetische Gehalt der Schöpfung muss einen Grad erreichen, sodass „nach Auffassung der für Kunst empfänglichen und mit Kunstanschauungen einigermaßen vertrauten Kreise von einer ‚künstlerischen‘ Leistung gesprochen werden kann“.35 Der Gebrauchszweck steht einem Urheberrechtsschutz nicht per se entgegen, der ästhetische Gehalt muss noch nicht einmal überwiegen.36

4.

Ausblick ^

[26]

Abschließend sei ein Ausblick in Form einer Prognose der Vorlagenfragebeantwortung gewagt.37 Dass der Gerichtshof vom Grundsatz her auch kunstgewerblichen Produkten oder Gegenständen mit Gebrauchszweck eine Werkqualität nicht a priori absprechen wird, dürfte auf der Hand liegen. Für manche mag darin ein geringer Beitrag „zu einer sinnvollen Weiterentwicklung“38 der urheberrechtlichen Begriffsbildung liegen, brächte dieses Ergebnis auf mitgliedstaatlich-urheberrechtlicher Ebene doch nichts Neues. Andererseits sollte nicht übersehen werden, dass die Urheberrechtsentwicklung in allen 27 Mitgliedstaaten nicht in derselben Geschwindigkeit erfolgt oder in bewährter Weise in einer viele Jahrzehnte umspannenden Tradition des Diskurses von Rechtspraxis, Academia und Gesetzgebung austariert worden ist. Dass auch ein Produkt, dessen Form durch den Gebrauchszweck mitbedingt ist, einer geistigen Schöpfung entspringen kann, wenn der Urheber die Form so frei und kreativ ausgewählt hat, dass sich seine Persönlichkeit in der Form widerspiegelt, könnte unionsrechtlich „abgesichert“ werden.

Palais-Tisch Cord-Tisch
[27]

Die konkrete Beurteilung, ob die Werkqualität vom Palais-Tisch erfüllt wird und insoweit eine Verletzung durch den Cord-Tisch besteht, haben wohl die schwedischen Gerichte vorzunehmen. Es ist und bleibt nämlich die Aufgabe des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller einschlägigen Aspekte des Ausgangsrechtsstreits zu prüfen, ob dies der Fall ist.

5.

Zusammenfassung ^

[28]

Zusammenfassend hat ein Schwedisches Berufungsgericht dem EuGH die „Gretchenfrage“ des Urheberrechts nach der Definition des Werkes vorgelegt, insbesondere um klarzustellen, ob menschliche Schöpfungen, die einen Gebrauchszweck aufweisen, generell vom Urheberrechtsschutz ausgenommen werden können oder nicht.

Literatur ^

Burgstaller/Thiele (Hrsg), UrhG Kommentar4 (2022)

Handig/Hofmarcher/Kucsko (Hrsg), urheber.recht3 (2023)

Hötzendorfer/Tschohl/Kummer (Hrsg), International Trends in Legal Informatics – FS Schweighofer (2020)

Jacob, The Convergence of European Intellectual Property Law? in: Schenk/Lovrek/Musger/Neumayr (Hrsg), FS Griss (2011), 335

Marko/Hofmarcher, Anregung, Nachahmung oder Leistungsübernahme? Zum Schutz grafischer Benutzeroberflächen und Website-Layouts, MR 2011, 36

Savelka, Exploring the Boundaries of Copyright Protection for Software. An Analysis of the CJEU-Case C-393/09 on the Copyrightability of the Graphic User Interface, MR-Int 2011, 11

Schulze, Schleichende Harmonisierung des urheberrechtlichen Werkbegriffs? GRUR 2009, 1019

Thiele, Urheberrecht versus Design – zur Nichtigkeit eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters wegen unerlaubter Verwendung eines Werkes in: Lewinski/Wittmann (Hrsg), FS Walter (2018), 344

Walter, Handbuch des Österreichischen Urheberrechts I (2008)

Walter, Der unionsrechtliche Werkbegriff und die Werke der angewandten Kunst, MR-Int 2020, 3

Wolkerstorfer, Geschmack im Marken- und Urheberrecht, ÖBl 2020/29, 105

Zentek, Geschichte des Designrechts (2016)

Zentek/Gerstein (Hrsg), Handkommentar zum DesignG (2022)

  1. 1 Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, ABl L 2002/167, 10.
  2. 2 EuGH 12.09.2019, C-683/17 (Cofomel) Rz 29 bis 31 und Rz 50, ECLI:EU:C:2019:721; EuGH 11.06.2020, C-833/18 (Brompton Bicycle) Rz 23 bis 26 und Rz 37, ECLI:EU:C:2020:461.
  3. 3 Software-RL, Vermiet- und Verleihrechts-RL, Satelliten- und Kabelrundfunk-RL, Schutzdauer-RL, Datenbanken-RL, InfoSoc-RL, Folgerecht-RL, Orphan Works-RL, Rechtewahrnehmungs-RL, Marrakesh-RL, DSM-RL, Online-SatCab-RL. Die Enforcement-RL betrifft zwar auch den Urheberrechtsschutz, umfasst aber aufgrund ihres horizontalen Ansatzes sämtliche Rechte des geistigen Eigentums.
  4. 4 Vgl. dazu die äußerst instruktiven und jährlich aktualisierten Dokumentationen von Staudegger, Die Entwicklung des Europäischen Urheberrechts unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH in Staudegger/Thiele (Hrsg.), Jahrbuch Geistiges Eigentum (Jahresbände 2012 bis 2023).
  5. 5 So betont etwas ErwGr 19 der Enforcement-RL, dass das Urheberrecht ab dem Zeitpunkt der Werkschöpfung besteht und nicht förmlich eingetragen werden muss.
  6. 6 So treffend Schulze, Entscheidungsanmerkung zu EuGH „Infopaq/DDF”, GRUR 2009, 1019.
  7. 7 EuGH 16.7.2009, C-5/08 (Infopaq I), ECLI:EU:C:2009:465 = jusIT 2009/62, 133 (Staudegger) = ÖBl-LS 2009/293 (Büchele).
  8. 8 EuGH 13.11.2018, C-310/17 (Levola Hengelo), jusIT 2018/79, 218 (Thiele) = MR-Int 2018, 116 (Walter) = RdW 2018/593, 786 = ÖBl-LS 2019/4 (Handig) = wbl 2019/19, 93 = ecolex 2019/113, 253 (Zemann) = ZIIR-Slg 2019/20 = ZTR 2018, 239; dazu Wolkerstorfer, Geschmack im Marken- und Urheberrecht, ÖBl 2020/29, 105; EuGH 29.7.2019, C-469/17 (Funke Medien), NLMR 2019, 347 = ZIIR 2019, 496 = jusIT 2019/80, 221 (Mair) = ÖBl-LS 2019/26 (Handig) = RdW 2019/606, 767 = ecolex 2019/433, 973 (Zemann) = MR-Int 2019, 98 (Walter) = MR-Int 2019, 114 = EuGRZ 2019, 352; EuGH 12.9.2019, C-683/17 (Cofemel), ecolex 2019/469, 1058 (Zemann) = ZfRV-LS 2019/39 = RdW 2020/41, 24 = MR-Int 2020, 8 (Poropat/Steindl); dazu Walter, Der unionsrechtliche Werkbegriff und die Werke der angewandten Kunst, MR-Int 2020, 3.
  9. 9 Vgl. näher Thiele, Digitale Werkintegrität: Der Europäischen Werkbegriff und der mitgliedstaatliche Schutz vor Werkvernichtung, FS Schweighofer 2020, 147 (148 f).
  10. 10 EuGH 27.4.2023, C-628/21 (Castorama Polska/Knor) Rz 50, ECLI:EU:C:2023:342, mHw auf EuGH 11.6.2020, C-833/18 (Brompton Bicycle), Rz 22 bis 25, ECLI:EU:C:2020:461.
  11. 11 EuGH 27.4.2023, C-628/21 (Castorama Polska/Knor) Rz 51, ECLI:EU:C:2023:342.
  12. 12 EuGH 27.4.2023, C-628/21 (Castorama Polska/Knor) Rz 52 unter Zitierung von EuGH 28.4.2022, C-44/21 (Phoenix Contact) Rz 43, ECLI:EU:C:2022:309.
  13. 13 Dazu grundlegend Jacob, The Convergence of European Intellectual Property Law? in: Schenk/Lovrek/Musger/Neumayr (Hrsg), FS Griss (2011), 335 mwN.
  14. 14 Marrakesch-VO und Portabilitäts-VO.
  15. 15 So bereits EuGH 27.01.2011, C-168/09 (Flos/Semeraro Casa e Famiglia), ECLI:EU:C:2011:29 = EuZW 2011, 193 = GRUR 2011, 216; dazu Thiele, Urheberrecht versus Design – zur Nichtigkeit eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters wegen unerlaubter Verwendung eines Werkes in: FS Walter (2018), 344 (347).
  16. 16 OGH 10.7.1984, 4 Ob 337/84 (Mart-Stam-Stuhl I) = MR 1992, 21 (Walter) = ÖBl 1985, 24 = GRUR Int 1985, 684.
  17. 17 OGH 12.8.1996, 4 Ob 2161/96i (Buchstützen) = MR 1997, 33 (Walter) = ÖBl 1997, 37 = ÖBl 1997, 38 = ÖBl 1997, 199.
  18. 18 OGH 17.2.1899, Z 14639 (Formulariensammlung), PBl 1899, 392; vgl. auch Kucsko in Handig/Hofmarcher/Kucsko, urheber.recht3 (2023) Einl Rz 315 f mwN.
  19. 19 EuGH 1.3.2012, C-604/10 (Dataco) Rz 37, ecolex 2012/222, 506 (Zemann) = jusIT 2012/43, 95 (Staudegger) = MR-Int 2013, 24 (Walter); vgl. in diesem Sinn auch EuGH 16.7.2009, C-5/08 (Infopaq International) Rz 35, 37 und 38 = jusIT 2009/62, 133 (Staudegger) = ÖBl-LS 2009/293 (Büchele); EuGH 22.12.2010, C-393/09 (Bezpecnostní softwarová asociace) Rz 45; EuGH 4.10.2011, C-403/08 und C-429/08 (Football Association Premier League/Murphy) Rz 97 = jusIT 2011/20, 44 (Staudegger) = ÖBl-LS 2011/84 (Büchele); dazu Savelka, Exploring the Boundaries of Copyright Protection for Software. An Analysis of the CJEU-Case C-393/09 on the Copyrightability of the Graphic User Interface, MR-Int 2011, 11; Marko/Hofmarcher, Anregung, Nachahmung oder Leistungsübernahme? Zum Schutz grafischer Benutzeroberflächen und Website-Layouts, MR 2011, 36; EuGH 1.12.2011, C-145/10 (Painer) Rz 87 = MR 2012, 73 (Walter); dazu Handig, EuGH zum Werkbegriff und zu den freien Werknutzungen, ecolex 2012, 58.
  20. 20 OGH 24.11.1954, 3 Ob 753/54 (Limonadenkrug), SZ 27/301; vgl. auch Homar in Thiele/Burgstaller, UrhG4 § 3 Rz 45 ff mwN.
  21. 21 OGH 10.7.1984, 4 Ob 337/84 (Mart-Stam-Stuhl I), MR 1992, 21 (Walter) = ÖBl 1985, 24 = GRUR Int 1985, 684.
  22. 22 OGH 12.8.1996, 4 Ob 2161/96i (Buchstützen) = MR 1997, 33 (Walter) = ÖBl 1997, 37 = ÖBl 1997, 38 = ÖBl 1997, 199.
  23. 23 Walter, Österreichisches Urheberrecht I (2008) Rz 196.
  24. 24 OGH 10.07.1984, 4 Ob 337/84 (Mart Stam-Stuhl), MR 1992, 21 (Walter) = ÖBl 1985, 24 = GRUR Int 1985, 684.
  25. 25 OGH 05.11.1991, 4 Ob 95/91 (Le Corbusier-chaise-longue), GRUR Int 1992, 674 =MR 1992, 27 (Walter) = ÖBl 1991, 272.
  26. 26 BGH 22.6.1995, I ZR 119/93 (Silberdistel) = GRUR 1995, 581 (582).
  27. 27 Zur historischen Quellenlage instruktiv Zentek, Einl A. 1. Rz 34 ff in: Zentek/Gerstein (Hrsg), Handkommentar zum DesignG (2022).
  28. 28 RG 12.5.1909, I 250/08, RGZ 71, 145 (146).
  29. 29 RG 1.6.1932, I 75/32, GRUR 1932, 892 ff.
  30. 30 RG 1.6.1932, I 75/32, GRUR 1932, 891 (893).
  31. 31 RG 14.1.1932, I 149/32, R 3002/1249, S. 11.
  32. 32 RG 14.1.1932, I 149/32, R 3002/1249, S 14.
  33. 33 Vgl. statt vieler Zentek, Geschichte des Designrechts (2016), 173 ff.
  34. 34 BGH 13.11.2013, I ZR 143/12, GRUR 2014, 175 (177).
  35. 35 BGH 7.4.2022, I ZR 222/20 (Porsche 911) Rz 38, GRUR 2022, 899 (901).
  36. 36 BGH 12.5.2011, I ZR 53/10 (Seilzirkus), GRUR 2012, 58.
  37. 37 Dies selbstverständlich eingedenk der Mark Twain, Karl Valentin, Niels Bohr oder Winston Churchill zugeschriebenen Binsenweisheit, dass „Prognosen schwierig sind, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen“.
  38. 38 Vgl. Walter, Entscheidungsanmerkung zu EuGH C-637/19 (BY [Preuve photographique]), MR-Int 2020, 109 (112).