1.1.
Normatives und politisches System ^
Unter den Subsystemen der Gesellschaft kommt dem normativen System die Funktion der Sinnstiftung durch Begründung von Verhaltenserwartungen zu. Die Regeln, deren Geltung das normative System postuliert, dienen den Mitgliedern einer ansonsten fragmentierten Gesellschaft – dies gilt in einer säkularisierten Gesellschaft umso mehr, als sie andere, spirituelle Dimensionen gemeinschaftlicher Sinnvermittlung entbehrt – als gemeinsamer Orientierungsrahmen: die Erwartung, dass die anderen Mitglieder der Gesellschaft diesen Regeln folgen werden, gibt auch dem eigenen Verhalten den Maßstab. Erwartungen freilich, so auch soziale Verhaltenserwartungen, bergen stets das Risiko kognitiver Dissonanz: Übersteigen die enttäuschten Verhaltenserwartungen die Toleranzschwelle, ist individuelle Desorientierung und soziale Desintegration die Folge.
Angesichts der anthropologisch grundgelegten Option, die im normativen System implementierten Regeln, beispielsweise im Interesse der Verbesserung des eigenen ökonomischen Status oder der affektiven Satisfaktion, zu verletzen, sind daher im administrativen System Organe der Rechtsdurchsetzung, wie die Sicherheitsexekutive, eingerichtet. Auch der «perfekteste» Polizeistaat wird freilich nicht ausreichen, langfristig und breitflächig dem normativen System seine sinnstiftende Funktion zu verleihen: Angst vor der Sanktionierung regelwidrigen Verhaltens mag geeignet sein, dieses Verhalten in beobachtbaren Situationen zu determinieren, wird aber gleichzeitig ein Ausweichen in unbeobachtbare Subkulturen suggerieren, in welchen ganz andere Regeln als die vom normativen System für verbindlich erklärten beachtet werden.
Die Chance, dass die im normativen System implementierten Regeln allgemeine Beachtung finden, wird vielmehr dann am größten sein, wenn sie allgemeine Akzeptanz finden bzw., anders formuliert, für legitim gehalten werden. Die Regel für legitim zu halten, muss nicht bedeuten, sie auch für richtig zu halten: eine Regel als legitim zu akzeptieren, impliziert die Bereitschaft, ihr aufgrund eben dieser ihrer Legitimität auch dann zu folgen, wenn sie sachlich unangemessen erscheint. Natürlich wird auch dieses potentielle Auseinanderfallen von akzeptierter normativer Legitimität und wahrgenommener sachlicher Richtigkeit ein bestimmtes Maß nicht überschreiten dürfen, um nicht soziale Desintegration auszulösen. So sind in den als Grundrechtsdemokratien zu beschreibenden politischen Systemen bestimmte Sachfragen der Verfügbarkeit einfacher Mehrheiten entzogen; in der Mehrzahl der Sachfragen jedoch ist die jeweilige Minderheit gehalten, die von der jeweiligen Mehrheit in dem jeweils dafür vorgesehenen Verfahren festgelegten Regeln für legitim zu halten und daher zu befolgen, auch wenn sie sachlich abweichende Positionen vertreten hat.
Aufgabe des politischen Systems ist es also, Legitimation für gemeinschaftlich verbindliche Entscheidungen zu beschaffen. Dafür sind grundsätzlich zwei Modelle vorstellbar: nämlich die Beschaffung von Legitimation durch Verfahren und/oder durch materiellen Konsens. Materieller Konsens im Sinne einer «volonté des tous» wird wohl nur in seltensten Einzelfällen – und wohl überhaupt nur in kleinen, homogenen Gemeinschaften – erreichbar sein. Hingegen zeigt die Erfahrung in repräsentativen Demokratien, dass die «volonté des tous» der im Parlament versammelten politischen Eliten gar nicht einmal ein so seltenes Gut darstellt: im österreichischen Nationalrat beispielsweise werden rund die Hälfte der Gesetzesbeschlüsse einstimmig gefasst. Allein dies mit einer gesellschaftlichen «volonté générale» gleichzusetzen, wäre vermessen: in einer inhomogenen, fragmentierten Gesellschaft müssen viele einzelne zivilgesellschaftliche Interessen in der Volksvertretung unrepräsentiert bleiben. Umso wichtiger erscheint es daher, den zivilgesellschaftlichen Interessen im Zuge des Normsetzungsverfahrens Gehör zu geben; derartige partizipative Verfahrenselemente existieren in unterschiedlichen Formen in nahezu allen repräsentativen Demokratien und lassen sich im Konzept der «deliberativen Politik»1 als zweite Säule der Legitimationsbeschaffung neben dem Repräsentationskonzept darstellen.
Die prozedurale Involvierung der zivilgesellschaftlichen Interessen in das Normsetzungsverfahren vermag daher als Surrogat materiellen Konsenses zu dienen: wenn sachliche Positionen und Argumente Gehör finden, wenn ernsthafte Auseinandersetzung mit ihnen erkennbar wird, dann wird die Bereitschaft, das stets einen Interessenausgleich repräsentierende Ergebnis dieses Verfahrens zu akzeptieren, auch dann erwartet werden können, wenn je andere Interessen in diesem Ausgleich schließlich überwiegen.
Voraussetzung ist naturgemäß die nachhaltige Transparenz des Normsetzungsverfahrens, und das impliziert die nachhaltige Verfügbarkeit legislativen Verfahrenswissens. So elementar die zivilgesellschaftliche Verfügbarkeit normativen Wissens erscheint, damit das normative System seine sinnstiftende Funktion erfüllen kann, so bedarf seine Akzeptanz legislativen Wissens, also des Wissens um seine Genese und seine aus ihr erfließende Legitimation.
1.2.
Normatives und legislatives Wissen ^
Was ist Wissen? Betrachten wir Daten als Zeichen(ketten) und Information als strukturierte Daten, dann ließe sich Wissen als kontextualisierte Information definieren. Anders formuliert, lässt die Syntax, die Kenntnis des strukturellen Codes, Daten zu Information, die Semantik, die Kenntnis des sinngebenden Kontextes, Information zu Wissen werden. All dies ist naturgemäß beobachterabhängig: ein und dieselbe Zeichenkette mag für den Beobachter A, der zum Beispiel den sprachlichen Code nicht kennt, Daten, für den Beobachter B, welcher zwar den sprachlichen Code, aber nicht den Sinnzusammenhang kennt, Information, und für den Beobachter C, dem sich der Sinnzusammenhang erschließt, Wissen repräsentieren.
Normatives Wissen könnte somit als kontextualisierte Rechtsinformation definiert werden. Und wir müssen davon ausgehen, dass gerade in Anbetracht der juristischen Fachsprache, in welcher normative Texte in den meisten modernen normativen Systemen abgefasst sind, und angesichts der oft komplexen systematischen Zusammenhänge, in welche einzelne Rechtsnormen eingebettet sind, der Weg von der Rechtsinformation zum normativen Wissen für viele Mitglieder der Zivilgesellschaft nur allzu oft ein weiter sein dürfte.
Ungeachtet dessen – oder gerade deswegen – fingieren normative Systeme, so auch das österreichische2, regelmäßig normatives Wissen als Voraussetzung für die normative Zurechenbarkeit sozialen Verhaltens. Tatsächlich mag davon ausgegangen werden, dass neben dem häufig auf Teilbereiche – wie z.B. das im Rahmen des Führerscheinerwerbs vermittelte Recht des Straßenverkehrs – beschränkten konkreten normativen Wissen so etwas wie ein «Rechtsbewusstsein» existiert, ein auf allgemein Grundsätze zurückzuführendes normatives Verständnis. In immer komplexer werdenden Rechtsordnungen stößt dieses normative Verständnis freilich bald an seine Grenzen, sodass die Zugänglichmachung sowohl von Rechtsinformation als auch eines an Lebenssituationen ausgerichteten vertieften normativen Verständnisses als eine zentrale Verantwortlichkeit des Staates gegenüber der Zivilgesellschaft angesehen werden kann.
Operational betrachtet, ist das Recht ein System von Handlungsanweisungen. Es umfasst Anweisungen zu sozialem Verhalten, die man als Regeln, aber auch Anweisungen zu seiner eigenen Anwendung, die man als Metaregeln bezeichnen kann. Unter diesen Anwendungsregeln lassen sich wiederum solche im engeren Sinn, also zum Beispiel Definitionen, Verfahrensregeln, Geltungs- und Übergangsbestimmungen, und solche im weiteren Sinn unterscheiden, die als abstrakte Interpretationsanweisungen dann greifen, wenn keine konkreten Anwendungsregeln verfügbar sind. Häufig sind solche allgemeinen Interpretationsregeln nicht Teil des «gesatzten» Rechts, sondern erst im «gesetzten» Recht von der Judikatur oder gar im «gesagten» Recht von der Lehre herausgearbeitet worden. Unterschiedliche normative Systeme weisen verschiedene Gewichtsverteilungen zwischen diesen Rechtsquellen auf, am deutlichsten fassbar in der Differenz zwischen «code law» – und «case law» -Systemen.
Gemeinsam ist allen normativen Systemen allein ihre Interpretationsbedürftigkeit. Rechtsanwendung ist Interpretation. Das Recht ist nie ein-deutig, wie synchron die Divergenzen in der Spruchpraxis gleichgeordneter Gerichte oder diachron die Veränderungen in der Leitjudikatur zeigen, die wir allenthalben beobachten können. Und insofern wir alle in unserer alltäglichen Lebenswelt Recht anwenden, haben wir alle auch die Aufgabe, Recht zu interpretieren; je kohärenter die zivilgesellschaftliche Interpretation des normativen Systems ist, desto wirkmächtiger folglich seine sinnstiftende Funktion. Vermittelt über normatives Wissen, berühren einander normatives System und soziale Ordnung in zweifacher Hinsicht: zum einen natürlich über die Wirkung der rechtlichen Regeln auf das soziale Verhalten, zum anderen aber über die Rückwirkung der sozialen Erfahrung auf die Interpretation, und d.h. auf die Vollziehung der rechtlichen Regeln. «The life of the law has not been logic: it has been experience», sagt Oliver Wendell Holmes3 : die Interpretation (oder, wie wir oft zu sagen versucht sind, das «Verstehen») der Normen ist (zumindest unbewusst) erfahrungsbasiert.
Gemeinschaftliche und individuelle Erfahrungskontexte stehen in der Interpretation rechtlicher Normen freilich in Konkurrenz: Mag der individuelle Erfahrungskontext eines Legisten oder einer Legistin eine bestimmte normative Formulierung imprägniert haben4 , so hängt es doch vom kollektiven Erfahrungskontext von richterlichen Organen oder Verwaltungsstäben ab, in welchem Sinn diese Organe die entsprechende Vorschrift vollziehen, und von zivilgesellschaftlichen Erfahrungshorizonten, wie diese Vorschrift lebensweltlich «verstanden» wird. Schließlich sind die zeitlichen Verläufe zu beachten: Das Alltagsverständnis von Begriffen wandelt sich, und damit das «Verständnis» der sich dieser Begriffe bedienenden Normen und somit ihre Interpretation, es sei denn, die staatliche Vollziehung hält ganz bewusst an einem «versteinerten» Begriffsverständnis fest. Noch unmittelbarer die Akzeptanz des normativen Systems berührt die soziale Erfahrung der Obsoleszenz durch die soziale Entwicklung überholt erscheinender rechtlicher Regeln, der die Rechtsdynamik folgen muss, will sie der Gefahr sozialer Desintegration vorbeugen. Die Rechtsdynamik selbst, dokumentiert im legislativen Wissen, ist gleichzeitig eine wesentliche Hilfe zur Interpretation des normativen Systems: Das aktuelle Recht ist immer nur eines von vielen möglichen Rechten – das Wissen um verworfene Alternativen, ebenso wie um überwundene Rechtszustände, hilft den Willen der normsetzenden Autorität zu «verstehen», die Norm zu interpretieren.
2.1.
Das Legiversum und seine Elemente ^
Das Legiversum5 könnte als der Kosmos – oder das Chaos – des potentiellen normativen Wissens definiert werden. Insofern stellt es eine virtuelle Größe dar. Dies gilt freilich letzthin auch für seine Parallelwelt, das «reale» Universum als die Gesamtheit aller möglichen Sachverhalte. Ebenso wie die konkrete Rechtsordnung ein Derivat des Legiversums aus der Sicht des Beobachters darstellt, ist die beobachtbare soziale Realität ein Ausschnitt dieses «realen» – und damit tatsächlich ebenfalls nur virtuellen, zwar vorstellbaren, aber nicht beobachtbaren – Universums.
Deontisches und soziales Universum bestehen somit parallel zu einander, und sie berühren einander in der Vollziehung gleich Interpretation der Normen. Ihre parallelen, auf einander zu beziehenden (zu «mappenden») konzeptuellen Strukturen nennen wir Tatbestände bzw. Sachverhalte. Freilich bestehen nicht nur Legiversum und «soziale Realität» neben einander, sondern auch innerhalb des Legiversums finden wir parallele – und einander berührende – Strukturen vor, nennen wir sie Jurisdiktionen, denen in der neuzeitlichen «sozialen Realität» regelmäßig territorial basierte staatliche Organisationsformen entsprechen; personenverbandsbasierte Jurisdiktionen sind zur Ausnahme geworden.
Soll unser normatives Wissen die verschiedenen parallelen Jurisdiktionen übergreifen – was angesichts ökonomischer Globalisierung auch praktisch immer wichtiger wird –, richtet sich unsere Aufmerksamkeit daher auf normative Äquivalenzen: So können äquivalenten Sachverhaltskonzepten – beispielsweise dem der Tötung eines Menschen – in ihren unterschiedlichen Umstandsausprägungen verschiedene jeweils äquivalente Tatbestandskonzepte entsprechen, die jedoch nicht in allen Jurisdiktionen gleichermaßen ausgebildet sein werden: in unserem Beispielsfall etwa Konzepte wie jene des Mordes, des Totschlags, der fahrlässigen Tötung, der straflosen Tötung (etwa in Notwehr oder nach dem auf das Mittelalter zurückgehenden Recht der Stadt York der Tötung eines Pfeil und Bogen tragenden Schotten innerhalb der Stadtmauern) oder der normativ gebotenen Tötung (etwa der Hinrichtung eines zum Tode Verurteilten in einem normativen System, das die Verfügungsgewalt über das menschliche Leben beansprucht).
Anders als die Galaxien des astronomischen Universums, die sich, wie wir aus der Rotverschiebung schließen, von einander entfernen, können wir beobachten, dass sich viele Jurisdiktionen des Legiversums einander annähern: globaler normativer Konvergenz, gefördert durch die Wirkung gemeinsam rezipierter völkerrechtlicher Instrumente ebenso wie durch die Suggestionen wirtschaftlicher Globalisierung, steht freilich der Umstand entgegen, dass mit dem islamischen Recht der ansonsten dominanten europäischen Rechtstradition ein wirkmächtiges Gegenmodell erwachsen ist.
Die parallelen, einander zum Teil aber auch überlappenden Jurisdiktionen können wir als «legistische Netze» beschreiben und damit als zweidimensionale Strukturen zur Erfassung des (gesatzten) Rechts in einer bestimmten Zeitschicht auffassen. Diese Netze bilden so etwas wie die Basisschicht des Legiversums, die einzelnen normativen Elemente (oder Regeln) ihre Knoten, die Referenzen zwischen diesen Elementen die Kanten, welche die Knoten miteinander verbinden. Solche Referenzen können von der normsetzenden Autorität explizit gemacht sein (z.B. in der Form von Verweisen), sie können aber auch implizit und daher erst in der Interpretation sichtbar gemacht worden sein; die Qualität der Referenzen auszuweisen, ist in der Darstellung des legistischen Netzes stets geboten. Wie jedes Netz weist auch das legistische häufig Lücken auf, die als intentional oder als nicht-intentional zu interpretieren und diesfalls interpretativ zu füllen sind.
Über die Momentaufnahme des zweidimensionalen legistischen Netzes schichten sich als dritte Dimension die Zeitebenen; zu beachten dabei, dass für die Beurteilung rechtlicher Fragen nicht nur die Geltung von Normen in der Zeit, sondern auch ihre Publizität in der Zeit festzuhalten ist – eine Differenz, die der Rechtsinformatik als jene zwischen «Stichtag» und «Sichttag» geläufig ist.
Zum n-dimensionalen Raum wird das Legiversum, wenn – über das gesatzte Recht in der Zeit hinaus – auch alle anderen normativen Elemente im weiteren Sinn, also andere Rechtsquellen wie insbesondere die Judikatur, und alle interpretationsrelevanten Artefakte wie legislative Materialien oder Werke der Lehre in die Darstellung einbezogen werden. Sie alle sind Teil des Kontextes, innerhalb dessen sich normatives Wissen konstituiert. Schließlich aber reicht dieser Kontext noch viel weiter, weit hinein in die Lebenswelt, in die insbesondere sprachliche Alltagserfahrung, und hier gilt es das Legiversum abzugrenzen, soll es als Entität fassbar bleiben; freilich wird auch das implizite Wissen zumindest der Akteurinnen und Akteure der Rechts- und Verwaltungsstäbe im Legiversum manifest zu machen sein.
2.2.
Legistische Netze und ihre Granularität ^
Als die Knoten der legistischen Netze haben wir zunächst allgemein die «Regeln» beschrieben. Wie dicht wir die Netze knüpfen wollen, hängt nun von der Granularität ab, in welcher wir die Regeln fassen wollen. Ganz gleich in welcher Granularität wir ansetzen, stets werden wir die sowohl synchrone als auch diachrone Rekonstruktion der jeweils übergeordneten normativen Elemente zu gewährleisten haben – dies dadurch, dass auch das jeweils kleinste «granulum» die «vererbte» Referenzinformation auch der übergeordneten Elemente in sich trägt. So können wir von jeder, auch der untersten möglichen Ebene, der Ebene feinster Granularität, aus alle übergeordneten Ebenen rekonstruieren, wenn auch mit je unterschiedlichem (Rechen-)Aufwand.
Grundsätzlich können wir formale und materielle Granularität unterscheiden. In formaler Hinsicht wiederum können wir das normative Material in «bibliographische» und «textuelle» Einheiten gliedern.
Die typische bibliographische Einheit ist das «Gesetz»: gekennzeichnet üblicherweise durch einen abgegrenzten sachlichen Wirkungsbereich und einen diesen bezeichnenden Titel. Ist dies in manchen normativen Systemen, wie etwa jenen einiger US-Bundesstaaten, sogar ausdrücklich gefordert, in den meisten Praxis, so haben doch auch manche normativen Systeme, wie jenes des alten Ungarn, das seinen legislativen Stoff in Gesetzesartikel gegliedert hat, darauf verzichtet.
Einen weiter reichenden Anspruch als das «Gesetz» vertritt der «Kodex»: den Anspruch nämlich, entweder die ganze Rechtsordnung oder zumindest ein großes Teilgebiet, wie das Straf- oder das Zivilrecht, thematisch abzudecken, und zwar in logisch strukturierter Form. Der vor allem von der Aufklärung postulierte Kodifikationsgedanke hat sich freilich als unpraktikabel erwiesen, seine Vertreter wie etwa Jeremy Bentham haben die gesellschaftliche Dynamik und die mit ihr einhergehende Rechtsdynamik unterschätzt. Residuen vermerken wir in vielen normativen Systemen, auch im österreichischen; doch «Kodizes» wie ABGB und StGB finden wir heute von zahlreichen unsystematischen «Nebengesetzen» begleitet. In den altertümelnden normativen Systemen mancher US-Bundesstaaten wird der Kodifikationsgedanke bis heute insofern gepflegt, als die zentralen Rechtsgebiete weiterhin in Kodizes zusammengefasst bleiben und daneben ein «Statute Book» steht.
Würde der Kodifikationsgedanke auch den «Wissensmanagement»-Ansatz implizieren, die Referenzen zwischen den Regeln im systematischen Aufbau des Kodex aufzufangen und nachvollziehbar zu machen, so haben doch selbst die klassischen Kodizes diesen Anspruch nicht oder nur unvollkommen einzulösen vermocht. Mit dem Wachstum und der gleichzeitigen systematischen Fragmentierung der normativen Landschaft wird aber die Herausforderung, diese Referenzen im normativen Wissensmanagement sichtbar zu machen, jedenfalls größer und gleichzeitig wichtiger.
Und so wird sich die Darstellung des legistischen Netzes nicht in der Erfassung seiner bibliographischen Einheiten erschöpfen können, sondern diese weiter in textuelle Einheiten zu gliedern haben. Dafür bieten sich verschiedene Ansätze an:
- Indexierte textuelle Einheiten: Die Strukturierung von Rechtsvorschriften wird regelmäßig durch eine authentische Indexierung unterstützt. Sie setzt zwar meist bereits einige Ebenen über den textuellen Einheiten an, für die Granulierung des legistischen Netzes eignen sich aber jene indexierten Einheiten, die Text enthalten, und zwar von der obersten bis zur untersten. Häufig wird in der Praxis der Rechtsinformatik die oberste indexierte textuelle Einheit gewählt, so beispielsweise mit dem Paragraphen (bzw. Artikel) auch im RIS des Bundeskanzleramtes.
- Syntaktische textuelle Einheiten: Als ideale syntaktische Einheit würde sich naturgemäß der grammatikalische Satz anbieten. Allein in der Praxis ergeben sich daraus zwei Probleme: Zum einen sind Texte nicht immer in Sätze gegliedert (Tabellen etwa sind ein wichtiger, weil kompakter textueller Informationsträger), zum anderen ist die automationsunterstützte Satzerkennung ein bis heute ungelöstes informationstechnologisches Problem.
- Worte: Nicht alle Zeichen(ketten) sind freilich als Worte deutbar.
- Zeichen: Als kleinste mögliche textuelle Einheit ist das einzelne Zeichen zugleich der «mächtigste», weil flexibelste Ansatzpunkt für rekursive n-dimensionale Referenzbildung. Mit heutiger Rechnerleistung freilich wäre sie nicht zu bewältigen.
In materieller Hinsicht wird die Granularität des legistischen Netzes nicht an formalen (bibliographischen oder textuellen), sondern an «deontischen» Einheiten festzumachen sein, an den «Regeln» im materiellen Sinn. Was aber ist eine solche Regel? Idealtypisch werden Regeln gerne als Konditionalbeziehungen gesehen: das normative System umfasst freilich auch Regeln, die sich nicht als «deterministische» Wenn-dann-Beziehungen darstellen lassen, wie z.B. Ermessensbestimmungen oder Kann-Bestimmungen; viele Jurisdiktionen sind gerade hinsichtlich der geforderten Determiniertheit von Ermessensbestimmungen weniger rigoros als die österreichische!
«Legal reasoning»wird natürlich stets an Regeln anzuknüpfen und diese daher zu identifizieren haben. Angesichts der Schwierigkeit, ein umfassendes «Regel»-Konzept zu entwickeln, wird jedoch normatives Wissensmanagement nicht umhin können, ein Konzept formaler Granularität des legistischen Netzes anzuwenden, um dieses in allen seinen Elementen fassen und darstellen zu können. Als legistisches Postulat mag bestehen bleiben, dass die ideale formale legistische Struktur die materielle widerzuspiegeln hätte; in der Praxis wird letztere häufig in der Interpretation erst zu rekonstruieren sein.
2.3.
Referenzen im n-dimensionalen Legiversum ^
Die Elemente oder Objekte des Legiversums, wie auch immer granuliert, stehen zu einander in Referenz. Haben wir das Legiversum graphisch gefasst, dann bilden somit seine Elemente die Knoten, ihre Referenzen zueinander die Kanten des Graphen.
Nehmen wir wieder zunächst die normativen Elemente der legistischen Netze als der Basisschicht des Legiversums in den Blick, dann sehen wir sie untereinander durch normative Referenzen verbunden, die innerhalb der gleichen Zeitschicht, also in unserem Bild horizontal, oder zwischen verschiedenen Zeitschichten, also vertikal, bestehen können:
- Formale horizontale (synchrone) Referenzen bestehen zu allen gleich- bzw. über- und untergeordneten Elementen der gleichen bibliographischen Einheit; sie ermöglichen die Rekonstruktion der bibliographischen Einheiten aus ihren textuellen Elementen.
- Materielle horizontale (synchrone) Referenzen können zu anderen Elementen der gleichen oder anderer bibliographischer Einheiten bestehen: typische Formen sind die Rezeption (durch welche etwa ein anderes Element für analog anwendbar erklärt werden kann) oder die Exzeption (die in zwei Richtungen wirken kann, aus der Perspektive der lex specialis bzw. der lex generalis). Sie können explizit durch Verweisung erfolgen (eine statische Verweisung kann allerdings bereits in die diachrone Dimension hineinreichen!) oder implizit bleiben; die Sichtbarmachung einer solchen impliziten Referenz fordert natürlich zugleich eine Ressourcenreferenz.
- Vertikale (diachrone) Referenzen können (explizit oder implizit) zu derogierten bzw. derogierenden Elementen – sie ermöglichen die Rekonstruktion der bibliographischen Einheiten in den einander überlagernden Zeitschichten – oder auch zu in statischen Verweisungen referenzierten Elementen bestehen.
Erweitern wir unser Blickfeld auf die übrigen Dimensionen des Legiversums, dann wird der Katalog möglicher Kategorien von Referenzen durchaus umfangreich:
- Historische Referenzen bestehen zu der umfangreichen Klasse der Gesetzgebungsmaterialien als Quelle der «historischen Interpretation» der Normen: Vorparlamentarische Entwürfe und parlamentarische Vorlagen enthalten ebenso Erläuterungen wie die Ausschussberichte, und zwar in der Regel sogar in expliziter Zuordnung zu indexierten textuellen Einheiten, wenngleich manchmal (beispielsweise in den «allgemeinen Teilen» der Erläuterungen) die Zuordnung auch implizit bleibt und daher nachträglich zu erschließen ist. Dies gilt, seit Spezialdebatten aus der Mode gekommen sind, allgemein für die Dokumentation der parlamentarischen Deliberation, wie sie in den Stenographischen Protokollen vorliegt; hier bleibt die explizite Zuordnung auf die Debattengegenstände beschränkt, also auf die bibliographischen Einheiten, und auch dies nur, wenn nicht die Debatte über mehrere Gegenstände zusammengefasst wird. Schließlich fallen auch die meist besonders breit gefächerten Konsultationsmaterialien in diese Kategorie, denen zumindest die Bedeutung einer Interpretationshilfe kraft Kenntnis verworfener Alternativen zukommt.
- Anwendungsreferenzen verweisen auf Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen, die in ganz unterschiedlichen Repräsentationsformen vorliegen können, z.B. in amtlichen Textsammlungen oder etwa in amtlichen oder auch nichtamtlichen Leitsätzen. Die normative Bedeutung der Judikate bestimmt sich naturgemäß im Kontext des Rechtsquellenkonzepts der jeweiligen Jurisdiktion.
- Evaluierungsreferenzen beziehen sich auf unterschiedliche Formen administrativer Quellen, z.B. Berichten an die normsetzende Autorität über die Vollziehung der Norm.
- Dogmatische Referenzen stellen die Verbindung her zu der üblicherweise breit gefächerten Behandlung der Normen in der Lehre, also z.B. zu Kommentaren, Lehrbüchern, Aufsätzen oder Entscheidungsbesprechungen.
- Didaktische Referenzen tragen dem Umstand Rechnung, dass von administrativer Seite, aber auch beispielsweise von Seiten von Nichtregierungsorganisationen «populär» gestaltete Rechtsinformationsangebote an Bedeutung zunehmen.
- Massenmediale Referenzen beziehen einschlägige tagesaktuelle Berichterstattung, soweit sie von interpretativer Relevanz sein mag, in das Legiversum ein.
- Linguistische Referenzen machen die Interpretation alltagssprachlicher Begriffe in den Normen unterstützende Quellen verfügbar.
- Interaktive Referenzen erschließen das «Social Web» als junge, aber umso rascher wachsende Wissensbasis, also die Welt der Wikis, Foren, Blogs, «social networks» oder«mailing lists» , die oft ein hohes Maß an fachlicher Spezifität und Relevanz aufweisen; dabei handelt es sich um Ressourcen, die entweder als Archive sozialer Webinteraktion bereits vorhanden sind oder aber ad hoc kreiert werden können, etwa indem ein Rechercheagent automatisch eine Anfrage in facheinschlägigen Expertenforen absetzt und die Antworten sammelt sowie vorauswertet.
- Personale Referenzen schließlich eröffnen den Zugang zu über einschlägige Expertise – und Eignung beispielsweise als Ansprechpartner für spezifische Fragen oder als Rechtsvertreter – in Betracht kommenden Personen und werden damit der Erfahrung gerecht, dass viel, wenn nicht das meiste Wissen immer noch implizit in den Köpfen der Menschen geborgen ist und erst explizit gemacht werden muss.
3.
Wege durch das Legiversum ^
Können wir uns im «Linienverkehr» durch das Legiversum bewegen, wird der Betrieb eines umfassenden «Liniennetzes», wie es klassisch in der intellektuellen Beschreibung von Relationen in Datenbanken angelegt worden ist, leistbar sein? Angesichts des Umfanges des Legiversums, der zunehmenden Menge und Komplexität von Normen und der exponentiell wachsenden Masse an kontextuell relevanten Wissensressourcen ist dies nicht anzunehmen.
Die datenbankgestützte intellektuelle Wissenserschließung wird sich vielmehr auf Kernzonen des normativen und legislativen Wissens zu beschränken haben, während die breiten Randzonen zum Zielgebiet automationsunterstützten Wissensmanagements werden dürften. Die Referenzerkennung wird kontextsensitiv automationsunterstützt zu erfolgen haben. Wir werden uns, je nach aktuellem Wissensreiseziel, auf flexiblen Routen, gleichsam per Anhalter, durch das Legiversum bewegen.
Der Gedanke, juristischen Sachverstand durch Maschinen zu ersetzen, ist nicht neu: Seit den 1950er Jahren schon sind theoretische Konzepte, seit den 1980er Jahren erste operationale AI-Systeme entwickelt worden, so z.B. induktive Systeme mit dem Ziel, Fälle in Regeln umzuwandeln, und fallbasierte «reasoning»–Systeme zur Identifizierung von Präzedentien und Analogien. Neuronale Netze und «natural language processing» bergen ein großes, noch unausgeschöpftes Potential.
Für die allernächste Zukunft verheißen am meisten die Ansätze des «Semantic Web», die letzthin auf einen sehr einfachen Grundgedanken zurückzuführen sind: Metadaten zur Beschreibung der Daten sollen Maschinen befähigen, sie in Wissen umzuwandeln. Ist in der ersten Generation von «Semantic Web»-Anwendungen noch die intellektuelle Metadatenanreicherung der Datenbestände gefordert gewesen, so zeichnet sich nun die Möglichkeit weitgehend automationsunterstützter Anreicherung ab; das Konzept des «ontology learning» basiert auf der automationsunterstützen Extraktion von Ontologien aus Daten durch «clustering» und Erkennen von Mustern, Regeln und Klassifikationen.
Der automationsunterstützten Gewinnung normativen Wissens auf der Basis der Strukturierung von Normen in XML und ihrer Kontextualisierung in RDF/OWL wird die Zukunft, soweit sie überhaupt absehbar ist, gehören: Im jurisdiktionalen Rahmen werden dabei sowohl die Normen (in RDF) als auch ihre Beziehungen zu anderen Normen bzw. Kontextelementen (in OWL), im «globalen» Rahmen translingual die normativen Aquivalenzen (wiederum in OWL) zu beschreiben sein, und dies wird, um intellektuell erschlossene Kernbestände herum, überwiegend automationsunterstützt geschehen.
Anwendung von Recht ist Interpretation, Interpretation ist Anwendung. Mit der automationsunterstützten Konstituierung normativen Wissens wird auch die seit Jahrzehnten geführte Diskussion darüber, inwiefern nicht auch in der verbindlichen administrativen und judikativen Praxis Maschinen den Menschen ersetzen könnten und sollten, neue Nahrung erhalten. Aber das ist eine andere Geschichte.
Günther Schefbeck, Parlamentsdirektion, 1017 Wien-Parlament, AT
guenther.schefbeck@parlament.gv.at
- 1 Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M., S. 448, (1992),.
- 2 Vgl. § 2 ABGB und § 9 StGB.
- 3 Oliver Wendell Holmes, Jr., The Common Law, Boston, S. 1 (1881).
- 4 Karl Irresberger verdanke ich das schöne Beispiel von der Verwendung des Begriffs «hochfeuerfest» in einer Verordnung, die nur dann korrekt im Sinne des Autors interpretiert werden kann, wenn der dem Autor vertraute Kontext technischer Standards, welche diesen Begriff exakt definieren, mitgedacht wird.
- 5 Bei Douglas Adams, The Hitch Hiker’s Guide to the Galaxy (London 1979), der Covertext des darin fiktionierten gleichnamigen Reiseführers; auch als (vielleicht ein wenig euphemistisches) Motto für jedes Werkzeug zur Vermittlung normativen Wissens geeignet.