Jusletter IT

Einführung zum Schwerpunkt Juristische Informatik-Systeme und Anwendungen

  • Author: Burkhard Schafer
  • Category: Short Articles
  • Region: Scotland
  • Field of law: Advanced Legal Informatics Systems and Applications
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2010
  • Citation: Burkhard Schafer, Einführung zum Schwerpunkt Juristische Informatik-Systeme und Anwendungen, in: Jusletter IT 1 September 2010
Im Workshop Juristische Informatiksysteme und Anwendungen wird ein Forschungsüberblick über die theoretischen, ethischen und rechtlichen Grundlagen juristischer Informatiksysteme gegeben. Es handelt sich um ein interdisziplinäres Projekt: KI-Forschung, Rechtswissenschaft, Philosophie, Linguistik und Logik. Der schnelle Zugriff auf Sachinformationen bleibt ein Hauptthema. Dies kann einerseits durch verbesserte Datenaufbereitung in wissensbasierten Systemen oder andererseits durch elektronische Kommentare erfolgen. Die abstrakte Strukturierung des Wissensstoffs in Ontologien ist eine Voraussetzung für fortgeschrittene Anwendungen, wie Verhandlungen von Agenten oder Vertretung über den Tod hinaus. Die aktuelle Forschung ist sehr facettenreich und verbindet technische, juristische und philosophische Fragestellungen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einführung zu den Sektionsbeiträgen

1.

Einführung zu den Sektionsbeiträgen ^

[1]

Das WorkshopJuristische Informatiksysteme und Anwendungen der IRIS-Konferenz findet auch dieses Jahr in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Informatik statt. Mit fünf Beiträgen eine der kleineren Sektionen der IRIS Konferenz, doch auch eine der vielseitigsten.

[2]

Immanuel Kant beschrieb es als Aufgabe der Philosophie, auf drei große Fragegruppen Antworten zu finden.

  • Was können wir wissen?
  • Was sollen wir tun?
  • Was dürfen wir hoffen?
[3]

Wendet sich die erste Frage an die theoretische Vernunft, so ist die praktische Vernunft zuständig für die zweite, und Religions- und auch Geschichtswissenschaft für die dritte.

[4]

Forschung in die theoretischen, ethischen und rechtlichen Grundlagen juristischer Informatiksysteme ist ein interdisziplinäres Projekt, dass Erkenntnisse aus der KI-Forschung, Rechtswissenschaft, Philosophie, Linguistik und Logik zu verbinden sucht. Es ist auch, wie die fünf Beiträge zeigen, ein Projekt dass sich an alle Fakultäten der Vernunft wendet.

[5]

Die Aufsätze von Geist und Schaudin haben mit je unterschiedlichen Perspektiven ihren Schwerpunkt in Fragen der theoretischen Vernunft. Recht und Rechtsanwendung sind wissensintensive Tätigkeiten, die schnellen Zugriff zu einer Fülle heterogener Information verlangen. Was können wir, mit der Hilfe intelligenter Technologie, als Juristen wissen?

[6]

Schaudins Beitrag stellt das Programm NeBIS vor, dass dem Juristen umfassend in der inhaltlich-juristischen Arbeit durch einen schnellen Zugriff auf Sachverhaltsinformationen einerseits, Rechtsinformationen andererseits unterstützt. Da ja, wieder mit Kant, Anschauungen ohne Begriffe blind, Begriffe ohne Anschauung leer sind, ist es besonders interessant zu sehen, wie sich Zugriff auf Anschauungen (die Fakten des spezifischen Falles) und Zugriff auf Begriffen (Information zur abstrakten rechtlichen Konzeptualisierung) gegenseitig ergänzen. Auch auf der methodologischen Metaebene zeigt sich in seinem Beitrag die Dualität von Anschauung und Begriff, ist NeBis doch als Produkt aus der direkten Praxiserfahrung entstanden und nun auch im Echtbetrieb eingesetzt, so dass seine abstrakten Begrifflichen Grundlagen nun auch durch erste Erfahrungen in der Praxis validiert worden sind. Schließlich zeigt sich die Kantische Dualität von Begriff und Anschauung auch gerade in dieser Praxiserfahrung, ziehen doch einige Anwender den Zugang über die Strukturierungshilfen, die das Programm anbietet, vor und ergänzen es erst dann mit Aktenhinweisen, während andere es bevorzugen zunächst aus der Akte den wesentlichen Inhalt zu erfassen und dann erst Strukturen zu bilden. Beiden Anwender -und Denktypen wird durch NeBis wertvolle Hilfe geleistet.

[7]

Geists Beitrag beginnt wo Schaudins endet. Mehr und mehr juristischer Information ist in digitaler Information und online verfügbar, einer der Gründe warum wir Systeme wie NeBis brauchen. Doch wie sehr ändert das Medium Internet die „Message“ des Rechts? Marshall MacLuhan erinnert uns durch seinen berühmten Ausspruch daran, wie symbiotisch die Beziehung zwischen dem Träger der Information und der Interpretation der Information ist. Was verlieren wir an Information, wenn wir den gedruckten Kommentar durch einen Online-Kommentar ersetzen, was gewinnen wir, und gibt es hier eine Gefahr, dass technische Aspekte der Wissensrepräsentation und die Architektonik der Datenbank subtil das Wesen des juristischen Wissens verfälscht? Was können und müssen wir noch wissen, wenn alles Wissen doch jederzeit abrufbereit und durch intelligente Technologie vorstrukturiert zur Verfügung steht?

[8]

Diese normativen Aspekte der juristischen Informatiksysteme bringen uns zur zweiten Gruppe von Beiträgen, die die Einordnung des Rechts als Feld der praktischen Vernunft betonen.

[9]

Der Beitrag von Raabe und Mitarbeitern überbrückt besonders elegant theoretische Vernunft und abstrakte Begrifflichkeit einerseits, praktische Vernunft und normgerechtes Handeln andererseits. In der digitalen Welt, so hat Larry Lessig's einflussreiches Werk zum „Code as Code“ gezeigt, verfließen die Unterschiede zwischen normativen und deskriptiven Kategorien. Regulierung von verhalten erfolgt durch Wahl und Gestaltung der Systemarchitektur. Raabes Forschungsgruppe nimmt das Internet der Dienste als Anwendungsfall für diese Einsicht. Rechtskonformität wird dabei bereits bei der Entwicklung von Diensten sichergestellt werden. Formalontologische, semantische Beschreibungen der Dienste werden in ihrem Ansatz auch dafür benutzt um ein technisches System zur Rechtsfolgenermittlung zu entwickeln. Diese Modellierungsverfahren dienen dann auch der Beschreibung von Rechtsbegriffen und der Abbildung von Regelmechanismen, welche rechtliche Normen und Begriffe repräsentieren und generische Mechanismen zur Ermittlung des Telos eines Begriffs oder einer Norm bereitstellen. Doch ist praktische Vernunft ohne einen Begriff der Freiheit denkbar? Wenn nicht führt Regulierung durch Softwarearchitektur zu einem radikal amoralisch doch rechtstreuen Raum.

[10]

Auch Dietrichs Beitrag zu Agentenverhandlungen beim elektronischen Vertragsschluss greift dieses Thema auf. Wenn wir autonome Softwareprogramme als unsere Stellvertreter ins Internet schicken, um für uns Verträge abzuschließen, müssen wir ihnen auch eine formale Repräsentation einschlägiger Rechtsnormen mit auf den Weg geben, um sicherzustellen, dass sie sich rechtskonform verhalten. Um seiner Aufgabe nachzukommen, muss der Agent zusätzlich auch die Benutzerpräferenzen und Verhandlungsstrategien des menschlichen Benutzers „verstehen“, die dieser zu Beginn dem Agenten übergeben kann. Diese Benutzerpräferenzen sind selber wieder Präferenzen mit juristischen Hintergrund, die während des Vertragsschlusses genutzt und in einer eventuellen Vertragsverhandlung über einzelne Vertragsbestandteile verwendet werden - etwa wenn in der Verhandlung längere Widerrufrechte gegen eine Limitierung der Haftung „aufgerechnet“ werden. Dem Software Agenten wird daher ein kleiner Teil der praktischen Vernunft seines Besitzers anvertraut.

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Noch größer ist das Vertrauen, das Schafer autonomen Softwareagenten geben will. In seinem Ansatz schließen sie nicht nur für ihren Besitzer Verträge ab, sie repräsentieren ihn auch „über den Tod hinaus“, etwa wenn sein Testament interpretiert werden muss. Sein Beitrag analysiert zum einen, was wir von einer historischen Perspektive aus für die Zukunft der Rechtsinformatik hoffen dürfen. In seiner Anwendung hilft ein entsprechend trainierter Computer etwa einem Richter dabei, das Patiententestament seines Besitzers im Lichte neuer Fakten – etwa einer neuen und unvorhergesehenen Heilmethode die aber sehr schmerzhaft ist – so zu interpretieren dass der putative Wille des Patienten vollständiger als bisher zum Ausdruck kommt. Dies ändert zu einem gewissen Gerade auch, was wir hoffen dürfen – wir dürfen (etwas mehr) hoffen, dass auch wenn wir selber nicht mehr Entscheidungen treffen können, unsere Wünsche Berücksichtigung finden und unser Vermächtnis geschützt ist.

[12]

In ihrer Gesamtheit geben die fünf Beiträge einen facettenreichen Überblick zur aktuellen Forschung im Feld der Juristischen Informatik Systemen, und zeigen auf, wie eng technische, juristische und philosophische Fragestellungen verbunden sind. Die IRIS Konferenz ist weltweit wohl die einzige ihrer Art, die in ihren Sektionen Rechtstheorie, Rechtsdogmatik und Technologie zusammenbringt. Die Sektion zu Juristischen Informatik-Systemen und Anwendungen ist so ein Mikrokosmos, der den Makrokosmos der IRIS widerspiegelt, und den Wert dieser intellektuellen Verbindung unter Beweis stellt.
 



Burhard Schafer, Senior Lecturer, Universiy of Edinburgh, School of Law, SCRIPT
South Bridge, EH8 9YL Edinburgh, Scotland
B.schafer@ed.ac.uk,www.law.ed.ac.uk/staff/burkhardschafer_69.aspx