1.
Digitale Unschärfe ^
«Durch die Digitalisierung wandeln sich die Aufgaben des Rechts ebenso wie seine Instrumente,» stellte Volker Boehme-Neßler in seiner vor kurzem vorgelegten Habilitation fest. «Dieser Veränderungsprozess, der gerade erst beginnt, muss theoretisch und dogmatisch erfasst und für die Praxis operationabel gemacht werden. Die deutliche Tendenz zur digitalen Unschärfe in der Lebenswelt und im Recht ist eine dreifache Herausforderung – für die Rechtstheorie, für die Rechtsdogmatik und für die Rechtspolitik,»1 so weiter Boehme-Neßler. Es gilt also, die Unschärfe als Methode auch für das Recht zu öffnen – im Grunde ein Feldzug gegen das Ideal des modernen westlichen Rechts, das auf «Ab- und Eingrenzung, Eindeutigkeit, Klarheit und Formalität»2 beruht. Wurde eine solche «Schärfe» insbesondere durch die Verwendung von Schrift3 ermöglicht, so wird sie im Zuge der Digitalisierung wieder relativiert. Was ist mit der Relativierung des Rechts gemeint? Werden Dinge digitalisiert, so verändern sich grundsätzlich ihre Eigenschaften – sie werden virtualisiert, vernetzt, ubiquitär, schaffen neue Zeitregime, sie werden durch und in einer anderen Medialität erfahrbar. Dies macht eine Reihe von bestimmten Regulierungen obsolet und viele neue notwendig. Virtualisierung, Vernetzung, Ubiquität oder Multimedialität – um einige der Phänomene, die mit der technisch motivierten Digitalisierung einhergehen zu nennen – betrifft aber nicht nur die Dinge des Rechts, sondern auch das Recht selbst. Würde eine methodische Aktualisierung der Beziehung von Ordnungen und Dingen nicht stattfinden – so könnte man Boehme-Neßlers Argumentation systemisch zuspitzen –, würde das Komplexitätsgefälle von Recht und Gesellschaft nur steigen und das Recht wäre seiner gesellschaftsstabilisierenden Funktion nicht mehr fähig.4
Boehme-Neßler schlägt eine transrechtliche (d.h. vor allem transmethodische) Kooperation als Kompensation vor: Recht plus Technik, Recht plus Politik, Recht plus Zivilgesellschaft, Recht plus Wirtschaft, Recht plus Individuum und Recht plus Kunst lauten seine Ergänzungsvorschläge. Kurz: Recht plus X.5 Aus der Sicht der E-Government-Forschung ist die Beziehung von Technik und Recht vom besonderen Interesse: «Recht und Technik verfolgen […] in einem integrierten und koordinierten, arbeitsteiligen Zusammenwirken die Ziele, die das Recht allein nicht (mehr) verwirklichen kann. […] Der Datenschutz [etwa] muss von Anfang an bei der Entwicklung der Technik, bei ihrer Gestaltung, Markteinführung und Anwendungsvorbereitung berücksichtigt werden. […] In der transrechtlichen Kooperation mit der Technik bleibt das Recht der normative Akteur, der die Zielsetzungen definiert.»6 Einen großen Teil seiner «Überlegungen zur Relativierung des Rechts in der digitalisierten Welt» widmet Boehme-Neßler der Beziehung von Multimedialität und Recht, womit er vor allem die Praxis der Visualisierung meint.7 Behandelt wird dabei nicht nur die Notwendigkeit des Rechts, auf die (als evident angenommene) wachsende Penetration von Bildern/Multimedia in der Gesellschaft zu reagieren, sondern – ähnlich wie bei der methodischen Öffnung hin zur Technik – auch die Möglichkeiten, verschiedene Medien im Recht zu verwenden. Visualisierung sollte dabei als probates Mittel der wachsenden Komplexität – wenn wir, e-Government-spezifisch, bei der Beziehung von Technik und Recht bleiben wollen, dann wird die Komplexität eben an beiden Seiten gemeint – entgegenwirken. Systemisch hieße das im engeren Sinne, dass ein «Relationsgefüge eines komplexen Zusammenhanges durch einen zweiten Zusammenhang mit weniger Relationen rekonstruiert wird.»8 In der Praxis muss dieser Komplexitätsverlust durch einen Mehraufwand etwa in der Bildproduktion, -literalität oder an sonstigen Regelergänzungen (als «besser organisierte Selektivität»9) kompensiert werden, denn «[n]ur Komplexität kann Komplexität reduzieren.»10 (Auf nichts anderes läuft auch Boehme-Neßlers Recht-plus-X-Vorschlag hinaus.) Diese mediale Strategie bringt aber nicht nur Recht und Technik oder Recht und Medialität zusammen, sondern kann, wie wir annehmen wollen, durchaus im Sinne der Unschärfe als Methode auch einen breiteren, e-Government-spezifischen Kooperations-, bzw. Wissensverbund verschalten – etwa Recht plus Technik plus Medialität. Ein konkretes Beispiel soll dies veranschaulichen.
2.
Wolke ^
Seit geraumer Zeit dominiert in der IT-Szene ein bemerkenswertes Bild. Es stellt ein ästhetisches Objekt dar, das die Unschärfe selbst verkörpert: die Wolke. Cloud Computing ist auch technisch gesehen eher ein obskurer Begriff. Die Definition von Was-auch-immer-als-Service ist sehr breit und richtet sich vielmehr auf die Art der Nutzung der IT. Im Prinzip steht die Wolke für eine Abstraktion der Infrastruktur.11 Die Unschärfe dieser Wolke hat auch bedeutende juristische Konsequenzen.12 Die Medialität der Wolke, wie sie im Cloud Computing auftaucht, hat aber auch eine ästhetische Dimension.13 Wahrscheinlich könnte man ihre Spur bis in die Kybernetik der 1960er-Jahre verfolgen. Damals markierten die Wolken allerdings das, was außerhalb des systemischen Regelkreises lag, und damit eben das Jenseits des (maschinell) Berechenbaren. Parameter also, von denen man annahm, dass sie sich zwar auf das System auswirken, jedoch in einem unberechenbaren Maße.14 Heute ist es das Rechnen selbst, das von der Wolke verschleiert wird (Abb. 1). Ein bemerkenswerter Platztausch, der auf eine viel längere Geschichte von Wolken in der Kunst hinweist. Dabei standen die Wolken nicht so sehr dafür, was man in ihnen erkennen kann, als für das Verbergen an sich. Was auch immer wir ihnen andichten, die Wolken zeigen in erster Linie, dass sie etwas verbergen. So machen sie das Unsichtbare sichtbar.15 Auch die Wolke im Cloud Computing macht sichtbar, dass sie etwas verbirgt – die (technische) Komplexität, die aus der Problematik der Skalierbarkeit, Flexibilisierung und Virtualisierung entsteht.
3.
Vielflach ^
Die Verwendung der Wolken dient also der Verstellung der technischen (wirtschaftsinformatischen) Komplexität, die eine juristische hervorbringt. Eine ähnliche Pseudo-Vereinfachung beobachtete Anthony Judge bei der strategischen Verwendung von Pfeilern im Bereich der internationalen Governance.16 Er kam (im Anschluss an Buckminster Fuller) mit dem Vorschlag, die Geometrie der Pfeiler zu verkomplizieren: Statt simplifizierender Pfeiler (analog zu Wolken) könnte man für die Darstellung dreidimensionale Strukturen der Polyeder nehmen.17 Der Vorteil gegenüber der Pfeilerlinearität (oder der Wolkenunschärfe) läge in der Mehrschichtigkeit und Bestimmtheit (z.B. Symmetrie, Nähe, Opposition, Grenzen; eben nicht Unschärfe) der Relationen, die man bei der Betrachtung der Polyeder zu sehen bekommt. (Abb. 2) Die «Verkomplizierung» durch eine solche Abbildung, so unsere Beobachtung, kommt – im Gegensatz zur Verwischung durch Wolke – mit einem epistemischen Mehrwert einher: Nicht nur, dass man bei dem Mapping auf eine Vielflachstruktur die gemappten Relationen ständig hinterfragen muss, ihre Betrachtung (Anschauung) bringt mehr Dynamik in die Wahrnehmung des Betrachteten Objekts, ohne dabei auf einen hohen Grad an Komplexität zu verzichten. Die Verwendung von Polyedern im E-Government, wie auch in der Rechtsvisualisierung, ist bisher nur wenig erforscht. Vor allem im Bezug auf die digitale Unschärfe könnte es Sinn machen – etwa im Bereich des digitalen Ordnungsdenkens – diesen Ansatz in der Zukunft weiterzuverfolgen.
4.
Literatur ^
Armbrust, Michael et al., Above the Clouds: A Berkeley View of Cloud Computing. In: www.eecs.berkeley.edu/Pubs/TechRpts/2009/EECS-2009-28.pdf aufgerufen 19.1.2010 (2009).
Boehme-Neßler, Volker, Unscharfes Recht. Überlegungen zur Relativierung des Rechts in der digitalisierten Welt, Berlin (2008).
Critchlow, Keith, Order in Space. A Design Source Book, London (1969).
Forrester, Jay W., World Dynamics, second edition, Cambridge MA (1973).
Judge, Anthony, Towards Polyhedral Global Governance. Complexifying oversimplistic strategic metahpors. In: Ders., laetus in praesens, www.laetusinpraesens.org/docs00s/hellenic.php aufgerufen 19.1.2010 (2008).
Koval, Peter, Bewölkt. Zur Konjunktur des Cloud Computing. In: eGov Präsenz, Nr. 2, S. 38 f (2009).
Koval, Peter & Riedl, Reinhard, Pattern Language and Swarming – Towards the future of e-government implementation. In: Proceedings of the 7th Eastern European e|Gov Days, Wien (2009).
Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main (1987).
Schulz, Carsten, Rechtliche Aspekte des Cloud Computing im Überblick. In: Taeger, J. & Wiebe, A., Inside the Cloud – Neue Herausforderungen für das Informationsrecht, Edewecht, S. 403–418 (2009).
Weitzel, Jürgen, Schriftlichkeit und Recht. In: Günther, H. & Ludwig, O. (Hrsg.), Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, 1. Halbband, Berlin u.a., S. 610–619 (1994).
Peter Koval / Reinhard Riedl, Berner Fachhochschule, Kompetenzzentrum Public Management und E-Government
Morgartenstrasse 2a, Postfach 305, 3000 Bern 22 CH
peter.koval@bfh.ch; reinhard.riedl@bfh.ch; http://e-government.bfh.ch
- 1 Volker Boehme-Neßler, Unscharfes Recht. Überlegungen zur Relativierung des Rechts in der digitalisierten Welt, Berlin 2008, S. 665.
- 2 Ebd., S 655.
- 3 Schrift gilt (immer noch) als das maßgebliche Medium des Rechts. Zur Spezifität der Schrift im historischen Rückblick vgl. Jürgen Weitzel, «Schriftlichkeit und Recht», in: H. Günther und O. Ludwig (Hrsg.), Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, 1. Halbband, Berlin u.a. 1994, S. 610–619.
- 4 Der relative, weltweite Wahlerfolg der Piratenpartei steht exemplarisch für die Brisanz dieser Problematik.
- 5 Boehme-Neßler 2008, S. 641 ff.
- 6 Ebd. Zur möglichen Ausgestaltung dieser Kooperation vgl. auch P. Koval und R. Riedl, Pattern Language and Swarming – Towards the future of e-government implementation, in: Proceedings of the 7th Eastern European e|Gov Days, Wien 2009.
- 7 Boehme-Neßler 2008, S. 226.
- 8 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1987, S. 49.
- 9
- 10
- 11 Vgl. Michael Armbrust et al., Above the Clouds: A Berkeley View of Cloud Computing, 2009. Online: http://www.eecs.berkeley.edu/Pubs/TechRpts/2009/EECS-2009-28.pdf. Letzter Zugriff am 19.1.2010.
- 12 Vgl. z.B. Carsten Schulz, Rechtliche Aspekte des Cloud Computing im Überblick, in: J. Taeger und A. Wiebe, Inside the Cloud – Neue Herausforderungen für das Informationsrecht, Edewecht 2009, S. 403–418.
- 13 Die Autoren danken Peter Bexte für wertvolle Ideen und Hinweise zur Geschichte der Wolke in der Ästhetik.
- 14 Vgl. Jay W. Forrester, World Dynamics, second edition, Cambridge MA (1973), S. 17ff.
- 15 Wir haben diesen Gedanken bereits anderswo ausgeführt. Vgl. Peter Koval, Bewölkt. Zur Konjunktur des Cloud Computing, in: eGov Präsenz, Nr. 2, 2009, S. 38 f.
- 16 Anthony Judge, Towards Polyhedral Global Governance. Complexifying oversimplistic metaphors, 2009. Online: http://www.laetusinpraesens.org/docs00s/hellenic.php .
- 17 Für eine praktische Einführung in die Gestaltung von Polyedern vgl. Keith Critchlow, Order in Space. A Design Source Book, London 1969.