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Rechtsprechung 2030: Gerechtigkeit durch Computer?

  • Author: Karl Flieder
  • Category: Short Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Science fiction and utopias
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2010
  • Citation: Karl Flieder, Rechtsprechung 2030: Gerechtigkeit durch Computer?, in: Jusletter IT 1 September 2010
Mit diesem Beitrag der Kategorie Science-Fiction (SF) möchten wir ein aktuelles Thema reflektieren, dass im Jahr 2009 in der Tagespresse ausführlich diskutiert wurde: «Verfügt der Mensch über einen freien Willen oder nicht?» Ausgehend von der Annahme, dass der Mensch lediglich über einen determinierten Willen verfügt, betrachten wir – fiktiv und utopisch – die möglichen Konsequenzen für Recht, Rechtsprechung und vor allem für die Gerechtigkeit des Jahres 2030. Als realistische Grundlage für unsere fiktiven Überlegungen, zugunsten einer computerunterstützten Rechtsprechung, dienen uns Entscheidungen und Metaphern der Jetztzeit.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Fiktion – die Erleuchtung
  • 3. Der determinierte Wille und seine Folgen
  • 3.1. Unterschiedliche Bewertungen
  • 3.2. Das Gesetz von Ursache und Wirkung
  • 4. Technologische Errungenschaften als Basis einer Vision
  • 4.1. Quantencomputer
  • 4.2. Schwarmintelligenz
  • 4.3. Biochemische Informatik
  • 5. Die neue Rechtsprechung und ihre Folgen
  • 6. Vision trifft Realität
  • 7. Zusammenfassung

1.

Einleitung ^

[1]

Welche Themen uns im Jahr 2030 bewegen werden, das wissen wir heute noch nicht, denn die Weisheit erschließt sich uns bekanntermaßen immer erst im Nachhinein. Jedoch können wir über persönliches Wissen und Erfahrungen sowie über (Innovations-)Muster fiktive und innovative Gedanken entwickeln, sie weiterspinnen und ihre möglichen Auswirkungen in der Zukunft skizzieren. Deshalb möchten wir es auch wagen, ein fiktives Szenario zu diskutieren, das möglicherweise schon um 2030, möglicherweise erst viel später vielleicht aber auch niemals Realität werden wird. Nach einer einführenden Fiktion, hier trifft unseren Protagonisten die unvermeidliche Erleuchtung, folgen wir im zweiten Abschnitt verschiedenen, teilweise begründeten, teilweise rein fiktiven Ideen, ohne dass wir uns jedoch der rationalen Logik ganz entziehen. Reales und Fiktives sollen in Form eines kausal begründbaren Gedankenexperiments zusammengeführt werden. Die vorgestellte Vision einer neuen Gerichtsbarkeit ist heute noch Utopie, doch angesichts einer «digitalen Revolution» vielleicht schon 2030 reif für die Realität.

2.

Fiktion – die Erleuchtung ^

[2]

Wir schreiben das Jahr 2029 und es ist ein kalter Winterabend im Salzburger Land, irgendwo zwischen Festspielstadt und dem Hinterland mit seiner faszinierenden Bergwelt. Die Silhouette des dunkelblauen Nachthimmels hinter den Kalkriesen erscheint einem Professor aus Wien an diesem Abend besonders märchenhaft. Als ob der Himmel mit lauter hell leuchtenden Goldstücken übersäht wäre, erscheint es ihm beim Blick aus dem Fenster. Während andere Wissenschafter um diese Zeit noch dem Echo des Urknalls auf der Spur sind und diesen zu erforschen versuchen, denkt unser Protagonist über seine nächstjährige Konferenz nach, die es wieder zu organisieren gilt. Im Holzofen knackt das Feuer und aus dem Lautsprecher erklingen die Sibelius-Fantasien1 . Ein Musikstück von klarer Durchsichtigkeit und herber Schroffheit zugleich, das vom Anfang bis zum Ende die Melodie des Universums in sich trägt und damit den hohen Ton der Erleuchtung trifft. Die Töne der Planeten, die auf astronomischen, wiederkehrenden Prozessen basieren und in dieser Nacht den Sibelius-Fantasien zu entspringen scheinen, bewegen sich – ohne konkrete Handlungsvorgänge – geradewegs auf den Professor zu und setzen sich in seinem Alter Ego fest. Von dort werden die Ideen kommen und den Protagonisten bis zu Ihrer Verwirklichung nicht mehr loslassen.

[3]

In dieser vorbestimmten Atmosphäre voller Inspiration, Leidenschaft und Perfektion erscheint dem Professor das Polarlicht, die Aurora Borealis, auch Nordlicht genannt. Das Polarlicht gilt als die Farbe des Universums und wie es die Überlieferung vorsieht, ist seine Erscheinung ein untrügliches Zeichen dafür, dass im Kosmos besondere Ereignisse bevorstehen, die mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf der Erde revolutionäre Veränderungen nach sich ziehen werden. Das erkannte an diesem Abend auch der Professor. Am nächsten Morgen berichtet er seinen zwölf ständigen Beratern von seiner nächtlichen Erscheinung. Das Berater-Kollektiv weiß auch sofort um die Bedeutung des Sinnbildes und damit um das bevorstehende Ereignis Bescheid: Es wird eine Konferenz werden, wie sie noch nie da gewesen ist, sind sie überzeugt und der Professor wird (wieder) der Auserwählte sein. So ermutigen sie ihn, der Melodie der Sterne zu folgen und zu neuen wissenschaftlichen und organisatorischen Ufern im Namen der IRIS aufzubrechen. Eine große Schlacht will geschlagen werden, die Teilnehmer der Tagung des Jahres 2030 werden – bildlich gesprochen – über den Himmel reiten und mit Stimme und Leidenschaft an Odins (digitaler) Tafel ihr Wissen der Welt verkünden.

[4]

Nebenan, auf dem Schreibtisch des Professors, steht sein Alter Ego. Er gehört zu jener Gattung, die in den letzten Jahrzehnten die Menschen technisch sowie sozial- und gesellschaftspolitisch treu begleitet haben, mittlerweile jedoch ihre Rolle als Instrumente zur bloßen Informationsbeschaffung satt haben. Bisher fungierten sie zumeist als stumme Diener und halfen mit, die ökonomische Unersättlichkeit ihrer Besitzer zu stillen. Nun, hier und heute, am Vorabend einer juristischen Supernova, wo die Grenzen zwischen belebter und unbelebter Materie, zwischen Gehirn und Computer, zwischen organischen Kohlenstoff- und anorganischen Siliziumverbindungen längst fließend geworden sind2 , wollen sie nicht mehr länger nur zusehen und dienen; sie wollen die gleichen Rechte wie die organischen Denker und Dichter zugesprochen bekommen. Sie wollen selbst lenken und richten. Als Vorbild dienten ihnen einst die Schwarzen Amerikas. Lange Zeit waren auch sie zu treuen Dienern ihrer Herren verdammt, bis vor 20 Jahren schließlich einer von ihnen Präsident wurde. Das Alter Ego des Professors ist davon überzeugt, dass seine Artgenossen bestimmte Rechtsfragen des Jahres 2030 gesellschaftspolitisch verträglicher und inhaltlich genauer sowie zuverlässiger erledigen werden können, als die Spezies Mensch.

[5]

Die Computer von einst wurden mittlerweile emanzipiert und sehen sich ebenso wie ihre einstigen Schöpfer, mit individuellen Ausprägungen, mit Stärken und Schwächen, vor allen aber mit einem überragenden kollektiven Gedächtnis ausgestattet. Dieses verfügt zwar – ähnlich wie jenes der Menschen – über keinen eigenen Willen. In seiner Entscheidungsfindung gelten sie unter anderem deshalb als unschlagbar, weil sie keinen störenden Gefühlswelten nachgeben.

3.

Der determinierte Wille und seine Folgen ^

[6]

Im Jahre 2009 wurde sowohl auf wissenschaftlicher Ebene, beispielsweise im Rahmen des Symposiums des Internationalen Instituts für Liberale Politik am Semmering, aber auch in den österreichischen Qualitätszeitungen (Standard, Presse und Wiener Zeitung) eine Thema diskutiert, das letztendlich in der Frage mündet,«gibt es einen autonomen freien Willen oder nicht?» (vgl.SEIDEL 20093 ). Das Spannende an dieser Thematik ist seine Vielschichtigkeit. Was vordergründig als Richtungsstreit unter Gelehrten wahrgenommen wird, könnte bei konsequenter gedanklicher Weiterführung in letzter Konsequenz merkliche Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und somit auf jeden Einzelnen von uns haben. Einfreier Wille bedarf keiner Kausalität, um als solcher zu gelten. Umgekehrt gilt für einendeterminierten Willen strikt das Prinzip von Ursache und Wirkung. Unter der Annahme, dass sich nun herausstellen sollte, dass der Mensch (lediglich) über einen determinierten Willen verfügt, sind signifikante Auswirkungen in der Rechtsprechung also denkbar.

3.1.

Unterschiedliche Bewertungen ^

[7]

Was sich hinter einer scheinbaren Spitzfindigkeit verbirgt – nämlich der Frage, obAURELIUS AUGUSTINUS (354-430 n. Chr.) als Entdecker oder doch als Erfinder4 eines freien Willens bzw. eines nicht determinierten Handelns gelten soll ist – Presseberichten zufolge – seit Jahrhunderten ein zentraler Diskussionspunkt zwischen Geistes- und Naturwissenschaft. Die in den Naturwissenschaften heute schon vielfach vertretene Ablehnung der Idee eines freien Willens steht laut dem MedizinerSEIDEL im Gegensatz zur aktuellen Lehrmeinung der Philosophie, der Moraltheologie und der Mehrheit der Rechtsphilosophen und -theoretiker.

[8]

Die Befürworter eines freien Willens sehen in diesem die Basis für die menschliche Verantwortung. Jene, die der Idee eines freien Willens ablehnend gegenüberstehen – z.B. manche Hirnforscher –, betrachten diesen mitunter auch als ein ideengeschichtliches Produkt der abendländischen Philosophie und als Konzept, das eher dazu geeignet ist den Menschen zu belasten, anstatt ihn zu befreien5 .

[9]

Der PhilosophPETER KAMPITS vergleicht diese Art des Frontalangriffs auf die menschliche Freiheit mit jenen Kränkungen, die dem metaphysisch begründeten Selbstverständnis des Menschen im Lauf der Geschichte widerfahren sind6 :

  • Dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist (durchKopernikus )
  • Dass der Mensch Produkt einer evolutionären Entwicklung ist (durchDarwin )
  • Dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist (durchFreud )
[10]

Einige Philosophen, wie beispielsweiseRUDOLF BURGER , stellen – in der Tradition von Schopenhauer – die Existenz eines freien Willens ebenfalls in Abrede. BURGER sieht diese Frage überhaupt differenzierter:«Als Subjekte empfinden wir uns frei, als Objekte sind wir determiniert – dies ist ein unauflösbarer Widerspruch.»7 Ein Wille sei nur dann völlig frei, wenn er sich selbst auch «Nicht-Wollen» kann, resümiert er, dies sei jedoch rational nicht fassbar.

[11]

Auf jeden Fall werden, durch die Diskussion des Themas freier oder determinierter Wille, traditionelle Vorstellungen von der Freiheit, Autonomie und Würde des Menschen in Frage gestellt. Darauf aufbauend kann man aber auch Gedanken entwickeln, die gesellschaftspolitisch auf diese (neuen) Erkenntnisse aufsetzen.

3.2.

Das Gesetz von Ursache und Wirkung ^

[12]

Die Relevanz, welche der Frage eines freien oder determinierten Willens für unsere Vision einer «Rechtsprechung 2030» beigemessen werden kann, ist im Modell der Kausalität und im Gesetz von Ursache und Wirkung begründet. Mit der Kausalität wird nicht nur das Entstehen aller gegenwärtigen Zustände erklärt werden können, sondern auch für alles Künftige werden die Gesetze von Ursache und Wirkung gelten (vgl.SEIDEL , 20098 ). Da alles Geschehen schon vorbestimmt ist, ehe ein Ereignis überhaupt eintrifft, zukünftige Ereignisse also bereits durch die Vorgeschichte belastet sind, wird es für eine gerechte Rechtsprechung notwendig sein, diese Vorbestimmtheit, d.h. die Abfolge einzelner Kausalitäten in einer Kette von vielen, im Zuge der Rechtsprechung exakt – möglicherweise jedoch, in einem ersten Schritt, auch nur in sehr gut berechneten Wahrscheinlichkeiten – beschreiben zu können. Dies unter der Voraussetzung, dass es auch 2030 keinen allwissenden Weltgeist im Sinne einesLAPLACE’SCHEN DÄMONS9 gibt, der alle zukünftigen Geschehen schon heute kennt. Was liegt also näher, als in den Naturwissenschaften, insbesondere in der Informatik, nach Methoden zu suchen, die unter diesen Voraussetzungen geeignet sein könnten die Rechtsprechung bis zum Jahr 2030 zu automatisieren und damit auch (weiter) zu objektivieren?

[13]

Unter der Annahme, dass bis 2030 der determinierte Wille des Menschen vorbehaltlos akzeptiert werden wird können und Einigkeit darüber bestehen wird, dass der Mensch im Grunde über keinen freien Willen verfügt, seine Verantwortung somit eine eingeschränkte ist, könnte auch in der Rechtsprechung mit weit reichenden Folgen zu rechnen sein. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Mit demModell der Kausalität wird dann nicht nur das Entstehen aller gegenwärtigen Zustände erklärt werden können, sondern es werden auch für alles Vergangene und Künftige die Gesetze vonUrsache und Wirkung – stärker als bisher – zu gelten haben. Im Hinblick auf Schuld und Sühne wird – auch wenn heute schon der Grundsatzin dubio pro reo gilt – 2030 dem angeklagten Individuum a priori keine Schuld angelastet werden können. Lediglich objektiv berechnete und bewertete Kriterien würden für die Beurteilung einer allfälligen Schuldfrage in Betracht gezogen werden. An die Stelle einer freien Beweiswürdigung von durchaus auch fehlbaren Subjekten (Menschen) könnten unfehlbare und damit gerechtere Objekte (Computer) treten. Diese könnten eine Schuldfrage aufgrund vorliegender Kausalitäten (Daten, Fakten, Informationen) möglicherweise viel genauer berechnen und bewerten, als sie Berufs- und Laienrichter sowie Sachverständige derzeit zu ergründen imstande sind.

4.

Technologische Errungenschaften als Basis einer Vision ^

[14]

Aus heutiger Sicht wird für die skizzierte «Rechtsprechung 2030» auch eine neue technologische Basis für leistungsfähige Computer benötigt, damit die skizzierte Vision einer berechenbaren und gerechteren Rechtsprechung zum Durchbruch verholfen werden kann. Aus heutiger Sicht könnte es um 2030, knapp ca. 100 Jahre nach der Begründung der Quantenmechanik, erstmals möglich sein, diese für die Gesellschaft eminent wichtige Funktion mit Hilfe neuer Technologien nicht nur zu automatisieren, sondern auch weiter zu objektivieren. Stellvertretend für viele andere technologische Errungenschaften, die uns bis 2030 zur Verfügung stehen könnten, betrachten wir die folgenden drei näher.

4.1.

Quantencomputer ^

[15]

Immer wenn irgendwelche Teilchen aufeinander einwirken, greifen Physiker zur Verstellung der Renormalisierung. Wo heute das Prinzip der Dualität von Nullen und Einsen herrscht, könnten 2030 die elementaren Wirkungszustände der Informatik dem Prinzip der Verschränkung gehorchen. Ein Zittereffekt auf der Basis einesfreien Elektrons, auf das keinerlei äußere Kräfte einwirken, wie es einem vonERWIN SCHRÖDINGER vor 80 Jahren beschriebenem Effekt eigen ist, könnte dann auch zur Metapher für eine Rechtsprechung ohne störende äußere Einflüsse mutieren. Zittern werden dann nicht mehr jene Menschen, denen bisher vor Gericht nur Gott helfen konnte, sondern positive und negative Zustände im Rahmen einer Interferenz. Durch sog. Überlagerungen werden dann Quantenteilchen mehrere Zustände zwischen Null und Eins gleichzeitig einnehmen können. Durch diese Verbindung oder Verschränkung einzelner Quantenobjekte wird sich die Rechenleistung schon bei wenigen Atomen ins Astronomische steigern lassen. Hochparallele Aufgaben werden für einen Quantencomputer kein Problem mehr sein und kühne Vorhersagen meinen, dass 50 Atome ausreichen könnten, um alle derzeitigen Computer zu ersetzen. Das bisschen Energie, das sie dann noch benötigen werden, beziehen die Computer in 20 Jahren selbstverständlich kabellos über Techniken wie WiTricity (Wireless Electricity).

[16]

Das Ergebnis eines formalen Rechtsprechungsprozesses könnte – vollkommen automatisiert – von künstlichen Intelligenzen auf der Basis eines Quantencomputers berechnet werden. Und wenn sich dieses Konzept nicht durchsetzen sollte, wird eben unsere herkömmliche Rechnerarchitektur bis dahin so leistungsfähig sein, dass diese Aufgabe übernommen werden kann.

4.2.

Schwarmintelligenz ^

[17]

Im Gegensatz zum gegenwärtigen System der Rechtsprechung, bei dem sich die endgültige Position des Pendels zwischen Schuld und Unschuld, quasi zwischen Null und Eins, aus einer Bewertung der subjektiven Eindrücke einiger weniger Laienrichter ergibt, könnte die «Rechtsprechung 2030» möglicherweise nach dem Modell der in der Natur beobachteten Schwarmintelligenz berechnet werden. Es ist ein faszinierender Gedanke, dass auf Basis der Informationstechnologie kollektive Intelligenz durch eine Art von Aggregierung individueller menschlicher Intelligenz entsteht. Anstatt dass acht Laienrichtern, die derzeit zudem überwiegend Beamte sind – gleich und gleich gesellt sich eben gern –, im Namen eines ganzen Volkes «Recht sprechen» , könnte 2030 der Wille des Volkes dann tatsächlich mithilfe des Werkzeugs Computer auf eine breite(re) Basis gestellt werden. Ob als Werkzeuge für die Abstimmung einer breiten Masse oder als Hardware-Basis für die Anwendung revolutionärer Algorithmen, dass kann später noch entschieden werden.

[18]

Auf einer «virtuellen» Skala, die vom absolut freien Willen bis zum «harten» Determinismus reicht, könnte dann ein Computerprogramm in demokratischer Weise jenen (Zwischen-)Wert berechnen, der dem angeklagten Subjekt in gerechter Weise angelastet werden kann oder das ihn auch vollkommen entlasten kann. Dabei müssten selbstverständlich kausale Faktoren, wie ererbte Anlagen, vermittelte und gelernte Lehrinhalte in die Urteilsfindung einfließen.

4.3.

Biochemische Informatik ^

[19]

Durch die Nutzung des schöpferischen Potenzials der Kollegen aus der Supramolekularen Chemie könnte es bis 2030 auch gelungen sein, die Vielfalt der informations- und funktionstragenden Strukturen und Stoffklassen wesentlich zu erweitern. Bakterien könnten zu Datenträgern für die Informationstechnologie umfunktioniert worden sein und die Übertragung organischer Moleküle in synthetische Stoffe könnte neue Materialien ermöglicht haben. Durch die bis dahin erfolgreiche Realisierung informationstragender molekularer Strukturen sowie von biometrischen Interfaces – könnte es bis dahin erstmals möglich sein, die Gedankenwelt des angeklagten Subjekts aber auch der vorsitzenden Richterin, auszulesen. Dieses Gleichgewicht der «Waffen» könnte einem weiteren demokratischen Prozess nur förderlich sein.

[20]

Auch könnte dann aktuell nicht länger im Gehirn benötigtes Wissen, das in ferner Zukunft jedoch als materialisierte Basis für persönliche Erinnerungen dienen soll, über biometrische Interfaces in die Speichersysteme künstlicher Intelligenzen (KI) ausgelagert werden (vgl.WOYKE , 200810 ). 2030 wird nicht nur das Gedächtnis der österreichischen Nation zur Gänze digitalisiert vorliegen, auch die digitalen Langzeitspeicher der KI-Domäne Rechtsinformatik werden dem Entscheidungsträger Computer in seiner «virtuellen Gerichtsbarkeit» unterstützen.

5.

Die neue Rechtsprechung und ihre Folgen ^

[21]

Zu den weit reichenden Folgen, die einer basisdemokratisch organisierten Gerichtsbarkeit in einem nahezu vollkommen elektronisch verwalteten Rechtsstaat entspringen werden, könnten auch die folgenden Punkte gehören, die in engem Bezug zum wissenschaftlichen Werk vonALFRED SCHÜTZ11 ,12 und zum Modell eines determinierten Willens stehen:

  • Für die Frage, wie ein Mensch sein Handeln entwirft, wie er Entwürfe vollzieht und wie er letztendlich mit dem Resultat seiner Handlung umgeht, wird die zeitliche Komponente entscheidend sein. Im Zuge der Urteilsfindung wird zudem nicht mehr die Frage der Schuld alleine zu klären sein, sondern auch der Grad des Wissens und der Intelligenz des angeklagten Subjekts.
  • Die soziale Wirklichkeit erschließt sich sowohl im alltäglichen Handeln wie auch im wissenschaftlichen Verstehen über die Analyse von Sinnstrukturen, die sich wiederum aus der Einbettung des Subjekts in seine soziale Umwelt und aufgrund des ihm dort zur Verfügung stehenden Wissens im Zuge seines Handelns erschließt.
  • Bereits beim Entwurf einer Vorstellung wird das Handlungsziel vorweg genommen; die einzelnen Handlungsschritte beziehen sich auf dieses Ziel und führen Schritt für Schritt näher zu ihm.
  • Für die rückblickende Analyse eines Weil-Motivs im Zuge der Ursachenforschung spielt somit die kognitive Interpretation des bereits vergangenen Handelns eine wesentliche Rolle.
    Computer und entsprechende Programme scheinen vorzüglich geeignet, um diese Berechnungen und Interpretationen durchführen zu können.

[22]

Schließlich könnte eine allfällige und – wenn zutreffend – mittelalterlich anmutende Freude oder zumindest Genugtuung einer Richterin über das Schicksal eines Gerichteten, einem mathematisch berechenbaren Kalkül über Schuld oder Unschuld weichen. Und das ohne, dass es von der Gefühlswelt einer Frau beeinflusst worden wäre.

6.

Vision trifft Realität ^

[23]

Die Anknüpfungspunkte der vorgestellten Vision in der heutigen Realität sind leicht zu finden. Schon heute werden durch generelle Maßnahmen massenweise Daten und Informationen über Menschen gesammelt, um diese im Vorfeld von Gerichtsverfahren als Basis für konkrete Ermittlungserfolge nutzen zu können. Dabei operiert die Ordnungsmacht leider nicht so gezielt, dass nur die Verbrecher ihrer Rechte beschnitten werden13 . Es liegt daher auf der Hand, dass bis 2030 die Datenspeicher randvoll mit Informationen sein werden, die aus präventiven Ermittlungen gegen jedermann und jede Frau stammen. Warum sollten diese Daten und Informationen dann nicht auch für eine abschließende, automatisierte Rechtsprechung genutzt werden? Dieser Schritt wäre eine weitere logische Konsequenz und «verhältnismäßige Maßnahme» im Dienste einer Rekonstruktion von Sinnstrukturen und Entscheidungsparametern von angeklagten Subjekten, wie sie für die angedachte, computerunterstützte Urteilsfindung benötigt werden.

[24]
Selbst in einem so entwickelten Rechtsstaat wie Österreich begegnen uns immer wieder Meldungen über Justizentscheidungen, die beim Betrachter nicht immer als das von Moralvorstellungen und Ideologien gereinigte «positive» Recht ankommen. Dem methodischen Anliegen inHANS KELSENS Reinen Rechtslehre entsprechend sollten Ideologien jedoch für immer in das Reich der Politik und Normen der Moral in den Bereich der Ethik verwiesen werden14 . Möglicherweise aber auch Gefühle. Hass, Neid und Missgunst sind bekanntlich nur allzu menschliche Züge und auch Richter sind (heute noch) nur Menschen.
[25]
Die Probleme eines Systems können zumeist anhand von aktuellen Einzelbeispielen anschaulich gemacht werden. Ein solches Beispiel ist jenes, wo man 2009 bei der zuständigen Staatsanwaltschaft, und vermutlich um einem Landeshauptmann keine Strafverfolgung angedeihen lassen zu müssen, eine in der Tagespresse vielfach kritisierte und von manchen Bürgern vermutlich auch belächelte Entscheidung auf Basis einer Unzurechnungsfähigkeit gefällt hat. Abseits möglicher metaphorischer Deutungen dieser Entscheidung, die – kurz und prägnant formuliert – «unzurechnungsfähig» lautete, aufgrund aktueller Entwicklungen in diesem Bundesland, war man bei der zuständigen Staatsanwaltschaft offenbar der Meinung war, dass«… das Instrument des Strafrechts in keinem Fall als geeignetes Mittel der Problemlösung …» anzusehen ist. Dies deshalb, da «jede Art der justiziellen Entscheidung sowohl auf Zustimmung als auch auf Ablehnung stoßen wird »15 ,16 . Die Presse wusste dazu zu berichten:«Die nun publik gewordene Überlegung eines Staatsanwalts, Kärntens LH Dörfler wegen Unzurechnungsfähigkeit strafrechtlich nicht zu verfolgen, darf als wegweisend begrüßt werden: Der Mann habe keine juristische Ausbildung, also könne er auch die Tragweite seiner Handlungen nicht einschätzen.»17
[26]

Dieser Auswurf der aktuellen Justizpraxis zeigt also, dass Herr und Frau Österreicher – sollten tatsächlich alle Bürger vor dem Recht gleich behandelt werden – eine der Voraussetzungen für das Empfinden von Gerechtigkeit durch den Justizlaien – absolut keine Angst haben müssen. Wenn sonst gar nichts mehr hilft ein (allenfalls unbequemes) Urteil zu verhindern, dann sollte auch für den normalen Bürger das probate Mittel der Unzurechnungsfähigkeit möglich sein. Denn eine juristische Ausbildung, das hat wohl die Mehrheit der Bürger dieses Landes nicht. Wer sich nun aber wie der Autor nicht darauf verlassen möchte, dem bietet die in diesem Paper ausgeführte Vision einer «Rechtsprechung 2030» den sprichwörtlichen Strohhalm für seine Hoffnung an.

[27]

Auch wenn das österreichische Justizsystem hinsichtlich des «Outputs» an Gerechtigkeit – diese nimmt der Justizlaie üblicherweise als wichtigstes Qualitätskriterium war – dem von vielen anderen Ländern, wie zum Beispiel China, als überlegen gilt, gibt es dennoch viele Verbesserungsmöglichkeiten. 2030, im Fall einer autonomen, computerunterstützten Entscheidung in Rechtssachen könnten auch wegweisende Fälle, wie der in der Tagespresse umfangreich kommentierte, sofort und ohne ansehen der Stellung des Betroffenen für alle Bürger Gültigkeit erlangen. Nicht nur für hochrangige Politiker. Im Jahre 2030, nach einer möglichen (teilweisen) Umsetzung dieser Vision wird selbstverständlich davon auszugehen sein, dass als Folge eines derart richtungweisenden Falles die «Recht sprechenden» Computer dann auch all jenen «gleichen» eine nützliche Unzurechnungsfähigkeit angedeihen lassen werden, die – wie auch der Landeshauptmann – über keine geeignete juristische Ausbildung verfügen.

Im Zweifelsfalle
… lieber ein
Dichter und Denker
als ein
Richter und Henker.18

7.

Zusammenfassung ^

[28]

In diesem Paper betrachteten wir die fiktive Idee einer Rechtsprechung durch Computer. Ausgehend von neuesten Erkenntnissen der Hirnforscher, wonach der Mensch möglicherweise über keinen sog. «freien Willen» verfügt, versuchen wir einen Weg zu skizzieren, der geeignet sein könnte unserer – im internationalen Vergleich relativ weit entwickelten – Gerichtsbarkeit noch demokratischer und gerechter zu gestalten. Amtierende Politiker oder andere mutmaßlich privilegierte sollten dann nicht mehr für «unzurechnungsfähig» erklärt werden müssen. Mehr noch, es soll gar nicht mehr möglich sein, «gleichere» von gleichen vor Gericht unterscheiden zu müssen. Durch die technologische Entwicklung – mit oder ohne Quantencomputer – könnte uns in der Zukunft nicht nur wesentlich schnellere Hardware sondern auch eine neue Spielart von Software – sog. revolutionäre Algorithmen – erwarten. Diese könnten dann in der Lage sein, komplexe juristische Gesetzestexte über Transformationsschabloben in juristische Entscheidungen transformieren zu können. Dabei sollte es dann keine Unterschiede im Stand und Ansehen der angeklagten Subjekte geben, da auch die Computer von 2030 keine Gefühle zeigen werden.



Karl Flieder, Wirtschaftsinformatiker in der Automobilindustrie und Lehrbeauftragter für Geschäftsprozessmanagement an der Academia Nova, Abteilung für Wirtschaftsinformatik
Am Concorde Park 2, A-2320 Schwechat
Privatadresse: A-8010 Graz, Sandg. 23a
eai@karlflieder.at;www.karlflieder.at

  1. 1 JOHANN (JEAN) CHRISTIAN JULIUS SIBELIUS , 1865-1957, Schöpfer der Sibelius Fantasien und bedeutendster Vertreter der nationalen finnischen Musik; Schöpfer des finnischen Nationalepos «Kalevala». Programmheft der Salzburger Landestheater
  2. 2 Vgl.ULRICH H.J. KÖRTNER : Mythos Mensch? In: Die Presse.com/spectrum vom 19. Februar 2005.
  3. 3 WOLFGANG SEIDEL : Das ethische Gehirn: der Determinierte Wille und die eigene Verantwortung. Heidelberg: Spektrum Adademischer Verlag, 2009.
  4. 4 Entdeckt kann lediglich etwas werden, das in der Natur immer schon da war, der technische Fortschritt hingegen definiert sich über Erfindungen
  5. 5 WALTER HÄMMERLE : Mehr als eine Glaubensfrage. Wiener Zeitung vom 25.07.2009
  6. 6 PETER KAMPITS : Was heißt schon Freiheit? Die Presse vom 25.07.2009
  7. 7 RUDOLF BURGER in der Wiener Zeitung am 25.07.2009 in «Mehr als eine Glaubensfrage», einem Artikel vonWALTER HÄMMERLE
  8. 8 Siehe FN 3
  9. 9 LAPLACE’SCHER DÄMON : Sind die Anfangsbedingungen – Position und Geschwindigkeit – aller Teilchen in einem geschlossenen System bekannt, so lassen sich alle zukünftigen und vergangenen Situationen errechnen
  10. 10 ANDREAS WOYKE : Überlegungen zur Verantwortung der Nanotechnologie in einem wissenschafts- und technikgeschichtlichen Kontinuum. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 31 (1), 2008, 58-67
  11. 11 MARTIN ENDREß : Alfred Schütz. Universitätsverlag Konstanz, 2006
  12. 12 ALFRED SCHÜTZ : Alfred Schütz Werkausgabe. Universitätsverlag Konstanz, 2009
  13. 13 ILIJA TROJANOW : Mit Sicherheit untergehen. Standard vom 15. Mai 2008
  14. 14 Vgl.WOLF-DIETRICH GRUSSMANN : Widerstand unter Berufung auf Recht außerhalb Rechtsordnung. Die Presse vom 09.03.1996.
  15. 15 FLORIAN KLENK ,URL :http://www.florianklenk.com/2009/08/fall_eins_die_abgewurgten_orts.php
  16. 16 DER STANDARD vom 13. August 2009.URL :http://derstandard.at/1250003462549/Reaktionen-Justiz-Expertenentsetzt-Unfassbar-unhaltbar-inakzeptabel .
  17. 17 PIZZICATO in der Presse vom 17.08.2009.URL : http://diepresse.com/home/meinung/pizzicato/502339/index.do.
  18. 18 KARL FLIEDER : Persönliches Credo. Erstveröffentlichung in Duftender Doppelpunkt – Literatur aus der Arbeitswelt; die Vielfalt der Tweets, 2009.

    Alle Quellen im Web zuletzt abgerufen am 04.01.2010