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Die Struktur von Begründungen

  • Author: Florian Holzer
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Festschrift Erich Schweighofer
  • Citation: Florian Holzer, Die Struktur von Begründungen, in: Jusletter IT 22 February 2011
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie juristische Entscheidungen begründet werden. Dabei wird der These nachgegangen, dass das Rechtsdenken stark an mentale Bilder gebunden ist. Die Begründungen juristischer Entscheidungen sind von diesen mentalen Bildern geprägt. Darüber hinaus wird die These aufgestellt, dass die Aufgabe der sprachfixierten Rechtswissenschaft sein muss, immer neue mentale Bilder zu entwerfen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Differenzierung
  • 2. Die Quelle des Rechtsdenkens
  • 2.1. Das Denken und die Metaphern
  • 2.2. Das metaphorische Denken in der Rechtswissenschaft
  • 2.2.1. Das metaphorische Rechtsdenken am Beispiel des Strafrechts
  • 2.2.2. Das metaphorische Rechtsdenken am Beispiel der alic
  • 2.2.2.1. Die kognitiven Lösungsmittel
  • 2.2.2.2. Begründungsmodelle
  • 3. Die Begründung einer Entscheidung – heute und morgen
  • 4. Vorbilder
  • 5. Die Rolle der Rechtsinformatik
  • 6. Literatur
[1]
Dem Jubilar verdanke ich durch seinen Einsatz für das IRIS die Bühne für meine ersten wissenschaftlichen Arbeiten. Mein erster Beitrag in einem IRIS-Tagungsband beschäftigte sich mit Metaphern in der Rechtssprache. Daran möchte ich hier anknüpfen.

1.

Differenzierung ^

[2]
Das Recht ist meines Erachtens mühsam geworden. Im Zentrum der Wissenschaft steht zurzeit die Differenzierung. Diese Differenzierung scheint keine Grenzen zu kennen. Sie bringt unzählige Informationen hervor. Die Schematisierung dieser Information ist zu einer der Hauptaufgaben der Universitäten geworden. Einige fordern daher eine Spezialisierung. Auch der Ruf nach Automatisierung der Fallbearbeitung wird immer lauter. So richtig will man nicht glauben, dass das ein Fortschritt ist.
[3]
Warum schwimmen wir auf dem Fluss der endlosen Differenzierung abwärts? Wird das darin enden, dass wir irgendwann in einem Meer der unendlich differenzierten Begrifflichkeiten ertrinken zu drohen?

2.

Die Quelle des Rechtsdenkens ^

[4]
Wer Wissen schaffen möchte, muss das eigene Denken reflektieren. Deshalb möchte ich hier einmal flussaufwärts schwimmen. Ich will mich bis zu einer der Quellen des Rechtsdenkens vorwagen. Ich will dabei die vielen kleinen Differenzierungen – objektiv-subjektiv, absolut-relativ, mittelbar-unmittelbar, etc. (Röhl, 2008) – umschiffen. Zum Rechtsdenken gibt es viele große Meinungsströme. Es gibt aber auch einige unscheinbare Seitenarme, die meines Erachtens einen sehr guten Zugang zur Quelle des Rechtsdenkens verschaffen. Einen dieser Seitenarme will ich hier hinaufschwimmen. Im Zentrum dieser Reise soll die Frage stehen, wie juristische Entscheidungen begründet werden.
[5]

Es gab zu Beginn des 20. Jahrhundert einen herausragenden Rechtswissenschaftler. Sein Name war Walter Pollack . Über ihn ist fast nichts bekannt. Er hat sich mit der Visualisierung des Rechts beschäftigt. Es gibt ein Buch von ihm. Es trägt den Titel: Perspektive und Symbol in Philosophie und Rechtswissenschaft (Pollack, 1912).

[6]

Dort hat er, kaum auffindbar, jene These aufgestellt, die 70 Jahre später von den Sprachwissenschaftlern Lakoff/Johnson populär gemacht wurde (Lakoff/Johnson, 1980). Er hat es damals so formuliert:

«Es ist bekanntlich eine noch immer bestrittene Frage, ob unser Denken sich in abstrakten oder in anschaulichen Vorstellungen vollzieht. Sollte sich unser Denken in Bildern vollziehen, so gewänne der Vorschlag, eine anschauliche Methode der Wissenschaft zu verwenden, eine unmittelbare Berechtigung und die Aufgabe würde darin bestehen, diese Bilder möglichst scharf sichtbar zu machen und eventuell sogar aus dem unergründlichen Meer des sogenannten Unbewussten hervortauchen zu lassen, um durch die damit verbundene Intensitätssteigerung des Bewusstwerdens den Fortschritt der Wissenschaft zu befördern.» (Pollack, 1912)

2.1.

Das Denken und die Metaphern ^

[7]
Lakoff/Johnson haben einen wichtigen Aspekt in das Bewusstsein einiger Wissenschaftler gerückt. Unser Denken, unsere Sprache und die Wahl unserer Wörter wird maßgeblich durch Metaphern bestimmt (Lakoff/Johnson, 1980). Die Aussagen, die wir machen, folgen daher implizit der Logik der Metapher (Pielenz, 1993). Hierzu gibt es ein einfaches Beispiel aus der Alltagssprache (Lakoff/Johnson, 1980).

Zeit ist Geld

Sievergeuden meine Zeit.
Dieses Gerät wird Ihnen viel Zeitersparen.
Ich habe viel Zeit in diese Frauinvestiert.
Haben Sie noch viel Zeit?

2.2.

Das metaphorische Denken in der Rechtswissenschaft ^

[8]
In einigen Wissenschaften ist dieses metaphorische Denken bereits bei vielen Vertretern bewusst. In den Naturwissenschaften wird der bewusste Umgang mit dem metaphorischen Denken sogar gezielt dazu eingesetzt, um neue Theorien zu entwerfen (Sachs-Hombach, 2006). In der Rechtswissenschaft hingegen ist das metaphorische Denken weitgehend unbekannt. Nichtsdestotrotz hat es einen starken Einfluss auf das Rechtsdenken (Grossfeld, 1995). Das im Folgenden genannte Beispiel hierzu stammt aus dem Bereich der Strafrechtswissenschaft.

2.2.1.

Das metaphorische Rechtsdenken am Beispiel des Strafrechts ^

[9]

Das metaphorische Rechtsdenken in der Strafrechtswissenschaft förderten bislang nur Wenige zu Tage. Einer der dazu beitrug war Franz v. Liszt . Er verwendete einst eine Metapher, um seinen Studierenden eine Hilfestellung beim Lernen zu geben (Hardtung, 2009). Er hat seinen Studierenden erklärt, dass das Verbrechen auf drei unterschiedlichen Ebenen zu prüfen sei. Das sei gleichsam die Struktur des Verbrechens. Diese Struktur findet sich nirgends im Gesetz. Sie ist eine wissenschaftliche Erfindung. Jeder Jurist kennt sie. Es geht um Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld. Man kann darüber streiten, ob dieser Aufbau zwei oder drei Ebenen hat. Es bleibt aber immer ein Aufbau, ein Gebäude.

[10]
Diese Metapher ist tief im Denken der Strafrechtswissenschaftler verwurzelt. Sie bestimmt, so meine These, weite Teile des strafrechtlichen Denkens. Die Logik dieser Metapher wird immer wieder zu Entscheidungsbegründungen herangezogen. Besonders deutlich wird dies bei den Theorien zur Lösung der Probleme bei der actio libera in causa.

2.2.2.

Das metaphorische Rechtsdenken am Beispiel der alic ^

[11]

Die actio libera in causa beschreibt zunächst nur einen besonderen Sachverhalt. Dabei geht es darum, dass sich der Täter zunächst betrinkt, um nachher im schuldunfähigen Zustand eine Straftat zu begehen. Diesen Sachverhalt kann man, wie es bei Hilgendorf zu sehen ist, leicht graphisch darstellen (Hilgendorf, 2008).

Abbildung 1: actio libera in causa
[12]
Rechtlich betrachtet geht es um die Ebene der Tatbestandsmäßigkeit und der Schuld. Allerdings mit dem Problem, dass die Schuld nicht vorliegt. Das kann man ebenso leicht graphisch darstellen.
[13]

Die Frage ist, wie man dogmatisch den Wunsch begründen kann, dass man diesen Täter bestraft. Das Problem ist, dass die Schuld geradedann nicht vorliegt, wenn die Tatbestandsmäßigkeit gegeben ist. Im Strafrechtsdenken müsste man es aber eigentlich anders formulieren. Die Schuld liegt dort nicht vor, wo die Tatbestandsmäßigkeit vorliegt – davor aber schon. Auch das kann man graphisch formulieren. Auf Irritationen, die dadurch entstehen, dass der statische Aufbau mit der zeitlichen Dynamik des Sachverhalts kombiniert wird, kann hier nicht näher eingegangen werden. Der Leser ist dazu angehalten diese Irritation für die Lektüre dieses Beitrags zu verdrängen.

2.2.2.1.
Die kognitiven Lösungsmittel ^
[14]
Die kognitive Herausforderung besteht darin, dass sich dieser Fall nicht mit den herkömmlichen Differenzierungen lösen lässt (Röhl, 2008). Es wird nämlich eine statische Regel des Verbrechensaufbaus, das Koinzidenzprinzip, berührt. Wenn man die Juristen beobachtet, wie sie dieses Problem lösen, kann man sehr gut feststellen, zu welchen kognitiven Mitteln sie greifen. Sie modifizieren die Theorie vom Verbrechen, um zu einer Lösung zu kommen. Dabei offenbart sich, dass die Möglichkeiten der Modifikation nicht unendlich sind. Sie sind stark abhängig von der ursprünglich gewählten Metapher.
[15]
Kurz gesagt: Wenn die Theorie vom Verbrechen einem Gebäude ähnelt, kann man die Theorie vom Verbrechen nur so modifizieren, wie man ein Gebäude modifizieren kann.
2.2.2.2.
Begründungsmodelle ^
[16]
Es gibt verschiedene Ansätze zur Lösung der alic (Roxin, 2006). Zunächst gibt es das Ausnahmemodell. Es besagt, dass ausnahmsweise die Schuld nicht vorliegen muss, wo die Tatbestandsmäßigkeit gegeben ist. Das ist eine Modifikation des Verbrechensaufbaus, welche auf die Ebene der Schuld einfach verzichtet. Diese Theorie stößt folglich auf umfassende Kritik (Roxin, 2006). Dieser Ansatz passt nicht in das Bild des Verbrechensaufbaus. Er verstößt gegen Konstruktionsgrundsätze. Man kann in der Folge – konsequent in architektonischem Vokabular – davon sprechen, dass derartige Überlegungen kein Fundament in der Verfassung fänden.
[17]
Daneben gibt es das Tatbestandsmodell. Es besagt, dass die Tatbestandsmäßigkeit ausgedehnt werden kann. Es ist sozusagen ein kleiner Anbau an das bestehende Verbrechensgebäude. Der Tatbestandsraum, der vom Täter zu füllen ist, wird vergrößert. Graphisch sähe das wie folgt aus.
[18]
Es gibt mittlerweile zahlreiche Argumente, die auch dieser Theorie widersprechen. So verschiedenartig diese Argumente auch sind, zielen Sie aber alle darauf, dass der Tatbestandsraum nicht oder nicht so weit ausgedehnt werden dürfe.
[19]

Beide Modelle setzen massive Eingriffe in die statische Konstruktion des Verbrechensaufbaus voraus. Deshalb – folgt man meiner These – werden Sie zunehmend abgelehnt. Die Strafrechtswissenschaft und auch die Strafrechtspraxis tendieren meines Erachtens – über längere Zeit gesehen – stets zur Restaurierung des mentalen Modells vom Verbrechensaufbau. Das zeigt sehr deutlich auch ein Beitrag von Hardtung (Hardtung, 2009), auf den ich gleich näher eingehen werde.

[20]
Die Lösung derartiger Probleme liegt nahe. Wenn man ein Gebäude nicht soweit modifizieren kann, dass ein bestimmter Sachverhalt darin Platz fände, muss ein tatsächlicher – kein rechtlicher – Neubau her. Man schafft dann einen neuen Tatbestand, der die Besonderheit des Sachverhalts als Tatbestandmerkmal begreift. Die Theorie kann dann bestehen bleiben. So geschah es durch die Schaffung des § 323a dStGB. Dann gibt es einen Raum für die entsprechende Sachverhaltskonstellation.

3.

Die Begründung einer Entscheidung – heute und morgen ^

[21]
Man kann durch den bewussten Umgang mit sogenannten theoriekreativen Metaphern (Pielenz, 1993) Begründungen für Entscheidungen prognostizieren. Sie werden sich im Strafrecht, solange die Theorie vom Verbrechen besteht, – nicht in jedem Einzelfall, aber auf längere Zeit gesehen – an der Logik der Metapher des Verbrechensgebäudes orientieren. Damit ist zurzeit von vornherein ein begrenztes Lösungsspektrum vorgezeichnet.
[22]
Je komplexer Sachverhalte werden, desto schwieriger wird es sie in dieses alte Gebäude zu integrieren. Durch Differenzierung kann man in vielen dieser komplexen Fälle noch zu tragfähigen Begründungen gelangen. Man muss aber auch die Differenzierungswerkzeuge stetig erweitern (Röhl, 2008).
[23]

Viele Handlungen sind aber derart komplex, dass diese nicht mehr in das statische Gebäude integriert werden können. Früher hat man sich in diesen Fällen mit dem Argument der Fragmentarität des Strafrechts geholfen. Das ist eine schöne Lösung. Heute wird mit einer Normenflut reagiert. Im Strafrecht etwa kommt es zu einer Explosion des Nebenstrafrechts. Jedes neue Gesetz, welches eine neue Materie regelt, wird mit Strafvorschriften flankiert. Viele der neue Normen funktionieren als strafrechtliche Auffangtatbestände (Volk, 2010). Vielleicht wäre es besser eine neue Theorie zu entwickeln, die nullum crimen, nulla poena sine lege und der Komplexität unserer Zeit auch gerecht werden können. Dadurch gäbe es auch ganz neue Begründungsmuster.

[24]

Wie wäre es daher mit einer neuen Theorie vom Verbrechen? Wie wäre es mit einem ganzen Strauß neuer Bilder vom Verbrechen? Eines dieser Bilder könnte die Bühne von Lachmayer sein (Lachmayer, 2002). Durch dieses Bild lassen sich vor allem situative Aspekte des Strafrechts durchdenken. Dabei geht es in erster Linie um Personen, Handlungen und deren Relationen. Die Tatherrschaftslehre von Roxin ließe sich dadurch einfach erklären (Roxin, 2006). Schon jetzt wird die Kernaussage der Tatherrschaftslehre – die Existenz von Haupt- und Nebenfiguren – faktisch durch ein Bühnenmodell erklärt (Wessels/Beulke, 2010).

4.

Vorbilder ^

[25]

Die Bildwissenschaft macht darauf aufmerksam, dass es seit längerem Theorien gibt, die besagt, dass sich die Wissenschaften an immer neuen gedanklichen Bildern fortentwickeln (Sachs-Hombach, 2006). Als Beispiel sei hier nur Rutherford genannt, welcher das planetarische Modell zur Erklärung des Atoms heranzog (Sachs-Hombach, 2006).

[26]
Die Strafrechtswissenschaft macht bei dieser Form der Wissenschaft offenbar nicht mit. Die Strafrechtspraxis gibt hier keine Impulse. Von ihr kann man das auch nicht verlangen. Das ist nicht ihre Aufgabe. Sie arbeitet mit den Modellen, welche die Wissenschaftler erfinden müssen.

5.

Die Rolle der Rechtsinformatik ^

[27]
Was hat das alles mit Rechtsinformatik zu tun? Die Rechtsinformatik ist nicht nur die wissenschaftliche Subdisziplin, welche die Rechtsvisualistik beherbergt. Die Rechtsinformatiker sind durch ihren starken Bezug zur formalen Logik die Gruppe jener Wissenschaftler an die man berechtigterweise die Hoffnung richten kann, dass sie das Rechtsdenken offen legen und seine Strukturen erklären können. Leider – so ist es meine Erfahrung aus München – fühlen sich zu viele von ihnen auch für jeden Papierstau in den Büros ihrer Fakultät zuständig. Es bleibt die Hoffnung, dass die Rechtsinformatik, nach ihrer dritten Geburt, endlich in die Führungsrolle hineinwächst, die meines Erachtens dringend benötigt wird. Wer könnte mehr dazu beitragen als der noch junge Jubilar, der – so wünsche ich es ihm und mir – noch viele Jahrzehnte wirken möge.

6.

Literatur ^

Grossfeld (1995): Rechts als bejahte Ordnung, Wiesbaden.
Hardtung (2009): Die Obstruktion der Konstruktion, Über die Bremswirkung gewohnter Denkmuster im Strafrecht, ZIS 13/2009, S. 795-812.
Hilgendorf (2008): dtv-Atlas Recht, Band 1, München: dtv.
Lachmayer, F. (2002): Die Visualisierung des Abstrakten, In: Schweighofer u.a., IT in Recht und Staat. Aktuelle Fragen der Rechtsinformatik (S. 309-317), Wien.
Lakoff/Johnson (1980): Metaphors We Live By, Chicago: The University of Chicago Press.
Pielenz (1993): Argumentation und Metapher, Frankfurt am Main.
Pollack (1912): Perspektive und Symbol in Philosophie und Rechtswissenschaft, Berlin: Walter Rothschild.
Röhl (2008): Allgemeine Rechtslehre, Köln: Heymanns.
Roxin (2006): Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, München: C.H. Beck.
Sachs-Hombach (2006): Das Bild als kommunikatives Medium, Köln: Halem-Verlag.
Volk (2010): Bildersprache in der Strafrechtsdogmatik, In: Dölling u.a., Verbrechen – Strafe – Resozialisierung (S. 369-380), Berlin: De Gruyter.
Wessels/Beulke (2010): Strafrecht. Allgemeiner Teil. Heidelberg: C.F. Müller.



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