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Das Prinzip der Verhältnismässigkeit (Thesen für die Diskussion)

  • Region: Slovenia
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Festschrift Erich Schweighofer
  • Citation: , Das Prinzip der Verhältnismässigkeit (Thesen für die Diskussion), in: Jusletter IT 22 February 2011
Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit baut auf dem rechten Maß zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig auf, darum grenzt es sich schon von vornherein ab, sowohl vom Ziel (Wert, Maß-stab), das selbstgenügsam ist, als auch vom Mittel, das blind und folgsam ist. Am bedeutendsten ist gerade die Frage, wie man das rechte Maß zwischen Rechten und Rechtspflichten, zwischen Gütern und Lasten bzw. zwischen dem Zweck und den Mitteln, die sich in Konflikt befinden, erreichen kann. Das Prin-zip der Verhältnismäßigkeit muss berücksichtigen, dass alle Rechte und Rechtspflichten korrelativ sind. Die Korrelativität besteht immer auch darin, dass der Träger eines Rechts dessen Grenzen (d.h. die Grenzen der rechtlichen Berechtigung) nicht überschreiten darf und dass der Träger einer Rechtspflicht im-mer berechtigt ist, von den Anderen zu verlangen, dass sie ihn in seinem Handeln nicht behindern. Die Verhältnisse zwischen dem Staat und den Individuen als den Trägern der Grundrechte sind nur ein Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit.
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Kein Argument ist in dem Sinne selbstständig, dass es schon allein eine Rechtsentscheidung begründen würde. Jedes Argument muss in einem Kontext und im Hinblick auf andere Argumente, mit denen man sich bezüglich einzelner Elemente des rechtlichen Entscheidens und bezüglich deren gegenseitiger Verhältnisse erklärt, angewendet werden. Wenn es für ein Element gilt, dass es ausdrücklich unselbstständig ist, ist dies das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. In der Theorie hat sich der Standpunkt herausgeformt, dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit «keine unabhängigen Werte verkörpert und schützt; es ist ein Mittel zum Schutz eines Rechts oder Interesses oder ein Mittel zur Harmonisierung von solchen Interessen oder Rechten in Situationen, in denen deren gleichzeitige und vollständige Verwirklichung unmöglich ist, weshalb alle in einem bestimmten Maße eingeschränkt werden müssen».
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Wenn man daraus folgern würde, dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit nur ein «Instrumentalprinzip» sei, würde man jedoch schon gleich zu Beginn die Reichweite verfehlen, die dieses Prinzip haben sollte. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit baut auf dem rechten Maß zwischen Zuviel und Zuwenig auf, weswegen es sich schona priori vom Zweck (Wert, Maßstab), der selbstgenügsam ist, und vom Mittel, das blind und folgsam ist, distanziert. Von größter Bedeutung ist gerade die Frage, wie man das rechte Maß zwischen subjektiven Rechten und Rechtspflichten, zwischen Gütern und Lasten bzw. zwischen dem Zweck und den widerstreitenden Mitteln erreichen kann.

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Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit muss berücksichtigen, dass alle subjektiven Rechte und Rechtspflichten korrelativ sind. Die Korrelativität besteht immer auch darin, dass der Träger eines subjektiven Rechts dessen Grenzen (d.h. die Grenzen der rechtlichen Berechtigung) nicht überschreiten darf, während der Träger einer Rechtspflicht immer berechtigt ist, von Anderen zu fordern, dass sie ihn bei seinem Handeln nicht behindern. Dieser Aspekt der Korrelativität wird oft vernachlässigt oder zumindest nicht genügend berücksichtigt, obwohl es gerade dieser Aspekt ist, der verlangt, dass unser Handeln mit dem Handeln Anderer rechtlich entsprechend übereinstimmt.

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Als Erstes muss man feststellen, ob der Konflikt von zwei oder mehreren rechtlichen Handlungsweisen rechtlich erlaubt ist. Das Schulbeispiel eines erlaubten Wettbewerbs ist lauterer Wettbewerb ; wenn die Maßstäbe dieses Wettbewerbs berücksichtigt werden, ist das Handeln der konkurrierenden Parteien rechtlich . Die zweite Möglichkeit ist es, dass ein Konflikt von zwei subjektiven Rechten vorliegt, von denen das eine stärker (bedeutender) ist, weshalb das zweite (weniger bedeutende) dem Recht, das in concreto rechtlich bedeutender ist (etwa im Fall, wenn der Schutz des Rechts auf Privatsphäre stärker als die Freiheit der Meinungsäußerung ist), weichen muss. In der Fortsetzung werden wir zu dieser Frage zurückkehren und uns fragen, wie man auf diesen Konflikt reagiert, wenn ein Grundrecht und behördliches (staatliches) Handeln aufeinander treffen.

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Die dritte Möglichkeit ist es, dass es zu einem Konflikt von zwei subjektiven Rechten kommt, für die ein Miteinander und Koexistenz nötig sind. Wenn es sich um zwei derartige Rechte handelt, kann sich niemand auf das Prinzip berufen, dass derjenige, der sein Recht ausübt, niemandem schadet(Qui suo iure utitur, neminem laedit) . Wer so handelt, stützt sich nicht auf sein Recht, sein Handeln ist lediglich eine «scheinbare Ausübung des subjektiven Rechts» (Art. 7/3 des slowenischen Schuldrechtsgesetzbuchs) und ist im Ganzen verboten (reine Rechtsverletzung).
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Es ist ein allgemeiner Grundsatz, dass die Rechte der Rechtssubjekte «durch die gleichen Rechte Anderer beschränkt sind» (siehe Art. 7/1 des slowenischen Schuldrechtsgesetzbuchs; siehe auch Art. 14/2 und Art. 15/3 der Verfassung der Republik Slowenien). Wenn einzelne Subjekte ihre Rechte so ausüben, dass sie teilweise oder gänzlich in die Rechte Anderer eingreifen, muss das überschrittene Recht inhaltlich beschränkt und eine Versetzung in den früheren Zustand angeordnet werden, wenn sie angesichts der Natur des Eingriffs in das Recht des Anderen möglich ist. Für unser Problem ist von Schlüsselbedeutung, den entsprechenden Maßstab zu finden, wie die widerstreitenden Rechte inhaltlich definiert, beschränkt und dadurch auch abgegrenzt werden können. Prinzipiell kann man sagen, dass das subjektive Recht nicht jene Grenze überschreiten darf, die in einem qualitativ gleichen Umfang auch dem Anderen erlaubt, sein zugehöriges Recht zu aktivieren und auszuüben. Wenn das Subjekt diese Grenze überschreitet, handelt es sich schon um einen Missbrauch und nicht mehr um die Ausübung des Rechts.

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Der Maßstab des qualitativ gleichen Umfangs beider subjektiven Rechte ist ziemlich unpräzise und muss zunächst im Hinblick auf die Natur beider Rechte und die konkreten Umstände operationalisiert werden. Das slowenische Schuldrechtsgesetzbuch fordert, dass man die Rechte in Einklang mit den Grundsätzen des Gesetzbuchs (etwa mit dem Grundsatz von Treu und Glauben) und mit deren Zweck ausüben muss (siehe Art. 7/1). In der Gerichtspraxis haben sich schon Maßstäbe durchgesetzt, wie der Zweck des Rechts, Handeln gemäß Treu und Glauben [z.B. Venire contra factum proprium (nemini licet) ], berechtigtes Interesse, Nichtbestehen eines Nutzens (d.h. eines rechtlich geschützten Nutzens), die Natur der Sache, das entsprechende Mittel (d.h. das am wenigsten belastende Mittel, das noch immer vollständig das rechtlich beschützte Interesse verwirklicht), «die Waffengleichheit» der Parteien (in Verfahren), das unbegründete Hinausziehen des Verfahrens (Missbrauch der Prozessrechte!) usw. Unter diesen Maßstäben sind von besonderem Gewicht das rechtlich geschützte Interesse bzw. der rechtlich geschützte Nutzen (als der Zweck des Rechts), das Prinzip des am wenigsten belastenden Handelns und die proportionale Berücksichtigung des Anderen im Hinblick auf sein Recht. Wenn sich ein oberer und ein unterer Wasserberechtigter im Konflikt befinden und einer von ihnen Bauer (Eigentümer eines landwirtschaftlichen Grundstücks) und der andere Eigentümer eines Ferienhauses ist, haben beide ein Recht auf Wasser, doch in einem unterschiedlichen quantitativen Umfang , weil sich das Recht des Bauern qualitativ vom Recht des Eigentümers eines Ferienhauses unterscheidet.

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In allen diesen Fällen befindet man sich auf sehr empfindlichem Boden, wo man ein Werten und Nuancieren im Hinblick auf konkrete Umstände nicht vermeiden kann. Die Aufgabe der Gerichtspraxis ist es, diese Fälle zu typisieren und den bereits ausgeformten Handlungstypen neue oder wenigstens Unterarten typischer Tatbeständen zuzufügen. Es geht um eine Typisierung, die das rechte Maß zwischen zwei widerstreitenden Rechten ausdrücken soll: das Maß ist recht, wenn es ihm gelingt, ein Größenverhältnis zu finden, wodurch beide Rechte im Hinblick auf ihre Qualität miteinander leben können.
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Mutatis mutandis gilt das auch für Grundrechte, in die die Staatsgewalt eingreifen und sie beschränken darf, und überhaupt für die gesetzgebende Tätigkeit, die ebenfalls nicht grundlos Rechte einengen und Rechtspflichten steigern darf. In ausländischer Theorie (z.B. der deutschen) und Gerichtspraxis (z.B. vor dem Gericht der Europäischen Gemeinschaften und vor dem Europäischen Gericht für Menschenrechte) hat sich das Prinzip der Verhältnismäßigkeit durchgesetzt, das auch vom slowenischen Verfassungsgericht übernommen worden ist. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ist zweistufig . Auf der ersten Stufe muss man feststellen, ob der Zweck des Rechtsaktes (z.B. einer Gesetzesbestimmung) und die Maßnahme (das Mittel), wodurch der Zweck verwirklicht werden soll, rechtlich sind (insbesondere, ob sie verfassungsmäßig und gesetzlich sind). Das sollte der sog. «Legitimitätstest» sein, der überprüfen sollte, ob «der Zweck, der von Staat verfolgt wird, legitim, d.h. sachlich berechtigt ist» und «ob die vom Staat angewendeten Mittel als solche rechtlich zulässig sind». Es folgt die zweite Stufe , ihre Aufgabe ist es, die Qualität der Mittel zu überprüfen und festzustellen, ob zwischen dem Zweck und dem Mittel ein entsprechendes (rechtlich richtiges) Verhältnis besteht (das sog. Prinzip der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne des Wortes). Die Qualität der Mittel wird durch die Maßstäbe der Geeignetheit (engl. suitability ) und Erforderlichkeit (engl. necessity ) des Mittels überprüft. Ein Mittel ist geeignet , wenn es überhaupt fähig ist, dass man dadurch den Zweck erreicht (sonst geht es um ein Fehlmittel). Ein Mittel ist erforderlich , wenn es sich um ein Interventionsminimum handelt, das ein noch milderes Mittel zur Erreichung des Zieles ausschließt (das Prinzip des mildesten bzw. des am wenigsten belastenden Mittels). Der Kern der zweiten Stufe ist die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne des Wortes , die sich auf das Verhältnis zwischen dem Zweck und dem Mittel konzentriert: der Zweck, den man verfolgt, darf keine unverhältnismäßig große (zu große) Lasten im Vergleich zum Nutzen, den man erreicht, erfordern. Das Schulbeispiel ist ein gefährlicher Gehirntest bei der Feststellung von Zurechnungsunfähigkeit: in einem konkreten Fall wurde bei einem Bagatelldelikt ein derartiger Test als unverhältnismäßig gegenüber dem Zweck abgewiesen, da bei zehn Prozent der Untersuchungen Störungen des Gesundheitszustands (in Sonderfällen sogar ernste gesundheitliche Verwicklungen) auftreten.

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Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ist stufenartiger Natur und spielt eine bedeutende Rolle in der Rechtspraxis. In Slowenien ist es das Verfassungsgericht, das sich am intensivsten damit befasst und bereits mehrere Präzedenzstandpunkte gefasst hat. Das Grundbedenken wird durch den sog. Legitimitätstest mitgeteilt, der irreführend sein kann. Das Missverständnis könnte darin bestehen, dass sich das Verfassungsgericht in die Rolle des Gesetzgebers stellt und urteilt, ob der Zweck des Gesetzgebers legitim ist. Diese Zuständigkeit hat das Verfassungsgericht nicht; in seiner Kraft liegt es «lediglich» festzustellen, ob der Zweck des Gesetzgebers verfassungsmäßig (auch gesetzlich, wenn es um einen unter dem Gesetz stehenden Rechtsakt geht) sei.Hassemer würde wahrscheinlich sagen, dass es sich um einen Zweck innerhalb der Grenzen der Verfassungsdemokratie handeln muss.

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Das slowenische Verfassungsgericht hat über alle Elemente der Verhältnismäßigkeit bereits seine Standpunkte dargelegt. Wenn man sie der Reihe nach betrachtet, ist zunächst die Wortverbindung «legitime Zwecke des Gesetzgebers» umstritten. Die Wortverbindung legitimer Zweck bzw. legitimes Interesse (legitimate aim, legitimate interest ) muss alsgesetzlicher (verfassungsmäßiger) Zweck (Interesse) verstanden werden. Es geht darum, einen legitimen (inhaltlich begründeten) Zweck auf einem legalen (verfassungsmäßigen, gesetzlichen) Weg zu erreichen. In einer anderen (bereits angeführten) Entscheidung war das Verfassungsgericht bestimmter und sagte ausdrücklich, dass es sich um einen «verfassungsmäßig zulässigen Zweck» handeln muss. Weiter: Das nächste Element bezieht sich auf die Verfassungsmäßigkeit (Gesetzlichkeit) des Mittels (der Maßnahme), das den verfassungsmäßigen (gesetzlichen) Zweck verwirklichen soll. Ein klassisches Beispiel wäre die Verletzung des Folterverbots (ein verfassungswidriges Mittel), um einen verfassungsmäßig zulässigen Zweck zu erreichen. Weiter: Ein Mittel ist ungeeignet (Geeignetheit des Mittels ), wenn eine «Beschränkung der Wahl des Ortes einer Rechtsanwaltskanzlei» als «eine Maßnahme, um die Unparteilichkeit der Entscheidungsfindung von Richtern und Staatsanwälten zu gewährleisten» bestimmt wird. Weiter: ein Mittel ist nichterforderlich , wenn das Gesetz «um die Sicherheit von Menschen zu gewährleisten, nur die Haft und keine alternativen, weniger strengen Präventivmaßnahmen vorsieht, die noch immer die Sicherheit von Menschen gewährleisten würden». Und noch: Das rechte Maß erfordert, dass der Zweck und das Mittelausgewogen sind; das Gleichgewicht ist zerstört, wenn «die Höhe der Miete für reservierte Parkflächen (...) in einem offensichtlichen Missverhältnis mit dem Wert dieser ausschließlichen Benutzung eines Gemeinwohls» ist.
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Die Ausgewogenheit von Zweck und Mitteln führt zurück zum Kern des Problems – der Korrelativität von Rechtsverhältnissen, die ein zentrales Merkmal von Recht ist. Über Korrelativität spricht man immer dann, wenn es um einen gegenseitige Abhängigkeit des Handelns zwischen zwei oder mehreren Rechtssubjekten geht. Eine Korrelativität besteht auch zwischen Rechtsträgern und zwischen den Trägern von Rechten, die gemäß ihres Inhalts verpflichtender Natur sind (z.B. Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern) sowie zwischen Trägern von Rechtsverpflichtungen, die inhaltlich miteinander verbunden sind. Die Verpflichtungskorrelativität durchdringt insbesondere das Verwaltungs- und überhaupt das öffentliche Recht. In öffentlich-rechtlichen Verhältnissen sind etwa die Bürger oft Träger von Rechtsverpflichtungen (z.B. Steuerverpflichtungen), denen die «Berechtigungen» der Staatsorgane entsprechen, dass die Bürger ihre Verpflichtungen auch erfüllen. Die «Berechtigungen» der Staatsorgane sind ihrem Inhalt nach Rechtsverpflichtungen, worauf die Staatsorgane nicht verzichten können, weil sie sonst von Sanktionen betroffen werden.

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Die Korrelativität des rechtlich möglichen Handelns (Korrelativität der Rechte, Korrelativität der Rechte und Pflichten, Korrelativität der Pflichten) können nicht der Beziehung zum Anderen ausweichen. Die Qualität des Rechts hängt immer auch davon ab, wie alle diese Verhältnisse de iure und de facto hergestellt sind. Bei geeigneter Gelegenheit wird man auch diese Seite des Rechts enthüllen und entsprechend analysieren müssen.



Marijan Pavčnik, Professor; Faculty of Law, University of Ljubljana, Poljanski nasip 2, 1000 Ljubljana, Slowenien,Marijan.Pavcnik@pf.uni-lj.si