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Der Einsatz von Rechtsdatenbanken als haftungsrechtliches Problem des Rechtsanwalts

  • Author: Leonhard Reis
  • Region: Austria
  • Field of law: Applications
  • Collection: Festschrift Erich Schweighofer
  • Citation: Leonhard Reis, Der Einsatz von Rechtsdatenbanken als haftungsrechtliches Problem des Rechtsanwalts, in: Jusletter IT 22 February 2011
Nicht nur die Zahl der erlassenen Gesetze, veröffentlichten Entscheidungen und juristischen Fachbeiträge steigt. Dies hat für den Rechtsanwalt als Rechtsberater möglicherweise auch haftungsrechtliche Konsequenzen: Die Haftung des Rechtsanwalts hängt u.a. davon ab, mit welcher Sorgfalt er sich mit der aktuellen Rechtsentwicklung auseinandersetzt. Der vorliegende Beitrag behandelt daher die Frage, inwieweit für einen Rechtsanwalt der Einsatz von Rechtsdatenbanken zur Information über die jüngste Rechtsprechung haftungsrechtlich erforderlich ist. Weiters wird der Frage nachgegangen, ob der ausschließliche Einsatz von Rechtsdatenbanken für den Rechtsanwalt zur Informationsrecherche aus haftungsrechtlicher Sicht ausreichend ist.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Gesetzesflut, Entscheidungsflut und Informationsflut als Haftungsprobleme des Rechtsanwalts
  • 1.1. Prolegomena: Rechtskenntnis, Gesetzesflut und ‹information overload›
  • 1.2. Rechtskenntnis und erforderliche Sorgfalt des Rechtsanwalts
  • 1.3. Notwendige Zeitschriftenlektüre als Haftungsmaßstab im 20. Jahrhundert
  • 2. Notwendiger Einsatz von Rechtsdatenbanken durch den Rechtsanwalt?
  • 2.1. Haftungsrechtliche Relevanz des Einsatzes von Rechtsdatenbanken
  • 2.2. Rechtsdatenbanken in Österreich
  • 2.3. Pflicht zur Nutzung nichtkommerzieller Rechtsdatenbanken (RIS und EUR-Lex)
  • 2.4. Notwendiger Einsatz von kommerziellen Rechtsdatenbanken
  • 2.5. Ausschließlicher Einsatz von Rechtsdatenbanken
  • 3. Zusammenfassung

1.

Gesetzesflut, Entscheidungsflut und Informationsflut als Haftungsprobleme des Rechtsanwalts ^

1.1.

Prolegomena: Rechtskenntnis, Gesetzesflut und ‹information overload› ^

[1]

Bereits in seiner Salzburger Antrittsvorlesung «Rechtskenntnis und Gesetzesflut » im Wintersemester 1966/67 setzte sich Theo Mayer-Maly mit der ausufernden Zahl der Gesetze auseinander1 . Die Diskussion über das Übermaß an legistischen Akten ging und geht in der Regel mit einer Auseinandersetzung hinsichtlich deren Qualität einher2 . Während letztere wohl unbestritten nicht besser wird, ist die ungeheuren Ausmaße der Gesetzesflut auf nationaler und europäischer Ebene für den Rechtsanwender eine nicht zu bewältigende Aufgabe. Doch damit nicht genug. Der Rechtsanwender, insbesondere der Rechtsanwalt und der Rechtsanwaltsanwärter, haben sich auch mit der Fülle der weiteren Rechtsinformation auseinanderzusetzen: Das stetige wachsende Schrifttum und die Fülle an Rechtsprechung bringen eine ebenso schier unbewältigbare Informationsflut mit sich. Alvin Tofflers «information overload»3 hat auch die Juristen erreicht.

1.2.

Rechtskenntnis und erforderliche Sorgfalt des Rechtsanwalts ^

[2]
Dies ist für den Rechtsanwalt jedoch auch mit korrespondierenden Berufspflichten und einem Haftungsrisiko verbunden: Die Verpflichtung des Rechtsanwalts geht über die in § 2 ABGB geforderte Rechtskenntnis weit hinaus4 . Nach § 9 Abs 1 RAO ist ein Rechtsanwalt verpflichtet, die übernommenen Vertretungen dem Gesetz gemäß zu führen und die Rechte seiner Partei mit Eifer, Treue und Gewissenhaftigkeit zu vertreten. Der Rechtsanwalt hat aufgrund seiner Berufspflichten für den Mangel an Fleiß und an den Kenntnissen einzustehen, die in seinem Beruf notwendig sind und über die Anwälte üblicherweise verfügen5 . Aus § 9 RAO i.V.m. §§ 1299 f. ABGB ist daher die größtmögliche Sorgfalt in der Berufsausübung gefordert6 . Daraus leitet die Rechtsprechung ab, dass nicht nur lückenlose und umfassende Gesetzeskenntnis von einem Rechtsanwalt gefordert wird7 , sondern dass ein Rechtsanwalt auch die (veröffentlichte und zugängliche) höchstrichterliche Judikatur kennen muss, indem er sich ausreichend über die einschlägige Judikatur und Literatur informiert8 . Im Regelfall hat sich der Rechtsanwalt sogar primär in seiner Beratungs- und Prozesstätigkeit an der veröffentlichten höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu orientieren9 .
[3]
Kein Haftungsfall liegt hingegen vor, wenn ein Rechtsanwalt, eine vertretbare Gesetzesauslegung vertritt, auch wenn diese in der Folge vom Gericht nicht geteilt wird10 . Vertretbar ist ein Rechtsstandpunkt dann, wenn er in Literatur oder in der höchstgerichtlichen Judikatur bereits angesprochen wurde11 . Gleiches gilt nach der Judikatur, wenn der Gesetzeswortlaut unklar ist und noch keine gefestigte Spruchpraxis vorliegt12 . Unvertretbar ist ein von einem Rechtsanwalt eingenommener Rechtsstandpunkt, wenn er von einer eindeutigen und wiederholt veröffentlichten Spruchpraxis eines Höchstgerichts abweicht13 oder wenn zwar keine höchstgerichtliche Spruchpraxis vorliegt, dem Standpunkt aber Lehre und Gesetzesmaterialien entgegenstehen14 .

1.3.

Notwendige Zeitschriftenlektüre als Haftungsmaßstab im 20. Jahrhundert ^

[4]
Insofern stellt sich die Frage, welche Maßnahmen ein Rechtsanwalt zu ergreifen hat, um haftungsrechtlich eine im Sinne der Rechtsprechung vertretbare Rechtsansicht einnehmen zu können. Konkret stellt sich die Frage, wie, in welchem zeitlichen Ausmaß und in welchem Umfang sich ein Rechtsanwalt über aktuelle Rechtsentwicklungen zu informieren und sich Kenntnis aktueller höchstgerichtlicher Entscheidungen anzueignen hat. Da die einschlägigen Monographien und Kommentarliteratur stets die Rechtslage zu einem in der Vergangenheit Stichtag behandeln und die danach ergangene Rechtsprechung und Lehre nicht mehr berücksichtigen (können), kam und kommt der Fortbildung durch Lektüre aktueller Entscheidung besondere haftungsrechtliche Bedeutung zu15 .
[5]

Fast dreißig Jahre nach dem wesentlichen Aufzeigen der Gesetzesflut durch Theo Mayer-Maly hat Clemens Thiele16 sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit die Lektüre einschlägiger Fachzeitschriften für einen Rechtsanwalt aus haftungsrechtlicher Sicht erforderlich ist. Thiele hat überzeugend in Anlehnung an die einschlägige österreichische und deutsche Judikatur zwischen dem Anwalt mit allgemeiner Beratungs- und Prozesspraxis und dem Anwalt mit besonderer Fachkenntnis unterschieden. Thiele kam überzeugend zu dem Schluss, dass für Anwälte mit Allgemeinpraxis die Lektüre einschlägiger Fachzeitschriften, zu denen er ÖJZ, JBl, ecolex und RdW zählt, binnen vier Wochen nach deren Erscheinen haftungsrechtlich geboten ist. Der spezialisierte Anwalt habe darüber hinaus speziellere Fachzeitschriften zu lesen.Thiele plädierte überzeugend unter Berufung auf die deutsche Rechtsprechung17 , dass eine Kenntnis einer neuer Entscheidung ca. vier Wochen nach ihrer Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift zur Kenntnis genommen werden müsse, wobei hingegen die Unkenntnis nach drei oder mehr Monaten in der Regel als schuldhaft zu gelten habe18 . Hier ist aber nach seiner zutreffenden Ansicht zu beachten, dass es auf die Umstände des Einzelfalls ankommt und gerade z.B. die Angemessenheit der Frist der Kenntnisnahme bei der Übernahme eines kurzfristigen Mandats knapp vor Fristablauf nicht überspannt werden darf.

2.

Notwendiger Einsatz von Rechtsdatenbanken durch den Rechtsanwalt? ^

2.1.

Haftungsrechtliche Relevanz des Einsatzes von Rechtsdatenbanken ^

[6]
Thiele hat bereits in seinem Beitrag 1998 die Frage aufgeworfen, inwieweit ein Rechtsanwalt auch elektronische Medien aus haftungsrechtlich geboten berücksichtigen muss. Aus dem seit damals wesentlich gesteigerten Einsatz von Rechtsdatenbanken lassen sich heute zwei Fragen ableiten: Besteht aus haftungsrechtlicher Sicht ein Gebot, Rechtsdatenbanken zu nutzen und ist es ausreichend, sich ausschließlich auf Rechtsdatenbanken zu verlassen19 . Hinsichtlich beider Fragen ist vorweg festzuhalten, dass bislang in Österreich – und soweit auch ersichtlich in Deutschland20 – noch keine Entscheidungen hinsichtlich der Haftung eines Rechtsanwalts durch den Einsatz bzw. die Nichtnutzung von Rechtsdatenbanken ergangen sind.

2.2.

Rechtsdatenbanken in Österreich ^

[7]
Dazu bedarf es einmal eines Blickes auf den Stand der Rechtsdatenbanken in Österreich21 . Hier sind (1) die nichtkommerziellen Rechtsdatenbanken, das Rechtsinformationssystem des Bundes (RIS), das u.a. die höchstgerichtliche Rechtsprechung von OGH, VwGH und VfGH beinhaltet sowie im Falle des europarechtrechtlichen Bezugs die Gesetzes- und Judikaturdatenbank EUR-Lex und (2) die kommerziellen Rechtsdatenbanken, die sowohl die bearbeiteten Entscheidungen aus dem RIS als auch über die Aufnahme von Zeitschriftenbeiträgen höchstgerichtliche Entscheidungen beinhalten, von Relevanz. Die Rechtsdatenbanken, die Kommentar- und sonstige Fachliteratur aufnehmen, sind für die haftungsrechtliche Frage von Kenntnis/Unkenntnis der einschlägigen Rechtsprechung weniger von Bedeutung, weil die (bloße) Lektüre von Monographie- und Kommentarliteratur für sich genommen nicht ausreichend ist22 , auch wenn die Durchsicht gängiger Kommentare und kommentierter Gesetzesausgaben unerlässlich ist23 . An kommerziellen Datenbanken, die Zeitschriftenliteratur beinhalten sind die RDB Rechtsdatenbank, LexisNexisOnline Österreich, Lindeonline, SpringerLink Journals sowie RIDA plus2 zu nennen, die im Wesentlichen bis auf die bei Manz erscheinende Zeitschrift „Die Privatstiftung“ und einige weitere praktisch weniger bedeutsame Zeitschriften die gesamte Bandbreite der österreichischen juristischen Fachzeitschriften (einschließlich der darin veröffentlichten Entscheidungen) abdecken.

2.3.

Pflicht zur Nutzung nichtkommerzieller Rechtsdatenbanken (RIS und EUR-Lex) ^

[8]
Aufgrund des Nebeneinanders von nichtkommerziellen und kommerziellen Rechtsdatenbanken sind die oben aufgeworfenen haftungsrelevanten Fragen zu präzisieren. Das Abstellen auf die Kenntnis der veröffentlichten und zugänglichen Rechtsprechung durch die (ältere) Rechtsprechung24 hat sich auch durch die Veröffentlichung von Entscheidungen im RIS (im Regelfall vor den Zeitschriftenveröffentlichungen) nichts geändert25 . Die Tatsache, dass im RIS und EUR-Lex die höchstgerichtliche Rechtsprechung zu einem (deutlich) früheren Zeitpunkt veröffentlicht wird als dies in den Fachzeitschriften der Fall ist, führt dazu, dass die notwendige Kenntnis der veröffentlichten Entscheidung binnen angemessener Frist von der Veröffentlichung der Entscheidung in einer nichtkommerziellen Datenbank und nicht mehr von einer Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift abhängt. Dazu kommt, dass die höchstgerichtliche Rechtsprechung im RIS immer vollständig verfügbar ist, während die Veröffentlichung in Zeitschriften stets selektiv durch Redaktion bzw. Entscheidungsbearbeiter erfolgt. Beide Gründe sprechen dafür, eine generelle Nutzungspflicht des RIS durch Rechtsanwälte als dem allgemeinen Haftungsmaßstab entsprechend zu begründen26 . Gleiches gilt bei europarechtlichen Bezügen für den Einsatz von EUR-Lex. Die Kenntnis von Judikatur, die in RIS und EUR-Lex veröffentlicht ist, wird daher als eine solche zu beurteilen sein, die für den Beruf eines Anwalts notwendig sind und über die Anwälte üblicherweise verfügen27 . Ein Rechtsanwalt hat somit für die Unkenntnis der im RIS veröffentlichten Entscheidungen einzustehen.
[9]
In der Literatur wurde bislang die Frage, ab wenn die Kenntnis einer in einer Datenbank veröffentlichten Entscheidung geboten ist, mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung angenommen28 . Dem ist aufgrund der unregelmäßigen Veröffentlichungszeiten nicht zu folgen. Vielmehr sind die von der Lehre und Rechtsprechung angenommene angemessene Frist von vier bis sechs Wochen ab Veröffentlichung auch für die Veröffentlichung von Entscheidungen in RIS und EUR-Lex anwendbar. Doch kann von einem Anwalt nicht gefordert werden, stets sämtliche in beiden nichtkommerziellen Datenbanken veröffentlichte Entscheidungen verinnerlicht zu haben. Vielmehr kann die gebotene Kenntnis eine jeweils mandatsspezifische bzw. eine rechtsgebietsspezifische sein. Für jedes bearbeitete Mandat bzw. für jedes bearbeitete Rechtsgebiet hat sich daher ein Anwalt mit den im RIS veröffentlichten Entscheidungen auseinanderzusetzen und mittels geeigneter Suche sich ausreichend Kenntnis zu verschaffen. Die allgemeine Fortbildungsverpflichtung, die in Zeitschriften veröffentlichten Entscheidungen in das Repertoire aufzunehmen, bleibt neben der Recherchepflicht unverändert bestehen.

2.4.

Notwendiger Einsatz von kommerziellen Rechtsdatenbanken ^

[10]
Der Einsatz von kommerziellen Datenbanken, auch wenn deren Einsatz in Österreich in den letzten Jahren zur Regel geworden ist, führt nicht zu einer (haftungsrechtlich begründeten) Nutzungspflicht. Ein Mandant wird von einem Rechtsanwalt erwarten, dass er in dem Ausmaß recherchiert, wie es der berufsrechtliche Standard gebietet. Ein durchschnittlich gewissenhafter und sorgfältiger Rechtsanwalt wird in seiner Rechtsrecherche die führende Kommentarliteratur, aktuelle Fachzeitschriften und das RIS einbeziehen. Gerade, weil auch die Haftung eines Rechtsanwalts nicht überspannt werden darf29 , ist es unter Berücksichtigung realistischer Rahmenbedingungen nicht zu erwarten, zu jedem Mandat bzw. in jedem Rechtsgebiet zusätzlich zu der gebotenen Sorgfalt eine Recherche in kommerziellen Rechtsdatenbanken hinzutreten zu lassen. Die generelle Pflicht zum Einsatz von kommerziellen Rechtsdatenbanken wird sich nur zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt feststellen lassen, wenn die Datenbanken von Rechtsanwälten genauso wie bisher die Fachzeitschriften branchenweit bei der jeweiligen Recherche ausnahmslos eingesetzt werden und als allgemeiner Standard gelten werden30 .
[11]
Ausnahmen könnten hinsichtlich der Mandatsbetreuung in den Rechtsgebieten bestehen, die ständig in Entwicklung begriffen sind und in denen (neue) höchstgerichtliche Rechtsprechung zu erwarten ist, wie z.B. dem Steuerrecht oder dem Sozialversicherungsrecht. Für diese Gebiete hat die deutsche Rechtsprechung die Verpflichtung aufgestellt, dass auch ein Anwalt mit Allgemeinpraxis sich über die auch nur in Spezialzeitschriften veröffentlichte Rechtsprechung und Aufsätze informiert, wenn er ein entsprechendes Mandat betreut31 . In diesen Fällen könnte eine erhöhte Sorgfaltspflicht, die auch eine Recherche zumindest in einer kommerziellen Datenbanken für erforderlich macht, denkbar sein32 . Hier ist jedoch wiederum der Grundsatz, dass die anwaltliche Sorgfaltspflicht im Einzelfall nicht überspannt werden darf, zu berücksichtigen, sodass eine generelle Nutzungspflicht kommerzieller Rechtsdatenbanken zu verneinen ist.

2.5.

Ausschließlicher Einsatz von Rechtsdatenbanken ^

[12]
Die aufgeworfene Frage, ob der ausschließliche Einsatz von Rechtsdatenbanken haftungsrechtlich ausreichend ist, ist insofern von Bedeutung, weil der Inhaltsumfang von Rechtsdatenbanken, die Aktualität der jeweiligen Inhalte und die Effektivität der Recherche – sofern der Nutzer entsprechend geübt ist – eine umfassendere und auch raschere Recherche erlaubt als dies mit herkömmlichen Recherchemöglichkeiten auch in einer bestens bestückten Handbibliothek der Fall wäre. Da die jeweilige Recherche bei Bestehen einer Recherchepflicht im RIS und EUR-LEX nur mandats- bzw. rechtsgebietsspezifisch ist, bleibt, wie bereits ausgeführt, die Fortbildungsverpflichtung durch Zeitschriftenlektüre weiterhin bestehen. Die Nutzungspflicht von nichtkommerziellen Rechtsdatenbanken tritt nur zu der Fortbildungsverpflichtung hinzu.
[13]
Dazu kommt, dass die Kenntnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung als Haftungsmaßstab ja nicht nur auf in der jüngsten Zeit ergangenen Entscheidungen beruht. Vielmehr ist auch die ältere höchstgerichtliche Rechtsprechung in Einzelfällen von Relevanz, die oftmals nicht einmal im RIS, oder wenn überhaupt, nur in Leitsätzen ohne Volltext der Entscheidung abrufbar sind. Genauso wenig sind diese älteren Entscheidungen in den kommerziellen Datenbanken vollständig abrufbar. Gerade weil das haftungsrechtliche Gebot der Orientierung an der höchstgerichtlichen Rechtsprechung besteht, kann der bloße Einsatz von nichtkommerziellen und kommerziellen Rechtsdatenbanken nicht genügen. Einzig in Verbindung mit der Standardfachliteratur (gängiger Kommentare und kommentierter Gesetzesausgaben), in der die ältere Rechtsprechung umfassend aufgearbeitet ist33 wird es ausreichend sein, sich auf eine Recherche in den Rechtsdatenbanken zu verlassen, wenn diese Standardfachliteratur in der Rechtsdatenbank erfasst ist.

3.

Zusammenfassung ^

[14]
Die anwaltliche Sorgfalt umfasst die Lektüre aktueller Entscheidungen in den Fachzeitschriften, weil ein Rechtsanwalt für die Nichtkenntnis veröffentlichter und zugänglicher höchstrichterlicher Judikatur einzustehen hat. Dies hat sich insbesondere durch das Aufkommen von nichtkommerziellen Rechtsdatenbanken, die neben Gesetzen die höchstgerichtliche Rechtsprechung erfassen, und kommerziellen Datenbanken, die in ihrer Gesamtheit vor allem die Fachzeitschriften beinhalten, teilweise geändert. Die Kenntnis von Judikatur, die in RIS und EUR-Lex veröffentlicht ist, wird als Kenntnis zu beurteilen sein, die für den Beruf eines Anwalts notwendig ist und über die Anwälte üblicherweise verfügen. Die Nichtkenntnis solcher Rechtsprechung nach einer angemessenen Frist von vier bis sechs Wochen nach ihrer Veröffentlichung in RIS und EUR-Lex ist daher im Regelfall haftungsbegründend. Eine Sorgfaltspflicht, kommerzielle Rechtsdatenbanken einzusetzen, besteht hingegen nicht. Zu beachten ist jedoch des weiteren, dass der bloße Einsatz von kommerziellen und nichtkommerziellen Rechtsdatenbanken andererseits den Ansprüchen anwaltlicher Sorgfalt nicht genügen wird, weil die ältere höchstgerichtliche Rechtsprechung regelmäßig nicht ausreichend von den österreichischen Rechtsdatenbanken erfasst sein wird.



Leonhard Reis,Rechtsanwalt und Universitätslektor, Hausmaninger Kletter Rechtsanwälte und Universität Wien, Franz Josefs-Kai 3, 1010 Wien,leonhard.reis@hhw.at ,www.hhw.at


  1. 1 Mayer-Maly ,T. , Rechtskenntnis und Gesetzesflut (1969).
  2. 2 Vgl. aus der Fülle der einschlägigen LiteraturMayer-Maly ,T., Gesetzesflut und Gesetzesqualität heute, in:Wilke, D., (Hg.) FS zum 125jährigen Bestehen der Juristen Gesellschaft zu Berlin (1984) S. 423-30.
  3. 3 Der Begriff wurde geprägt vonToffler ,A. , Future Shock (1970). Siehe dazu in juristischem Konzept z.B. den jüngsten Beitrag aus der Law Society Gazette vom 18. Oktober 2010, Lawyers suffer from ‚information overload’www.lawgazette.co.uk/news/lawyers-suffer-information-overload .
  4. 4 Grundlegend:Pisko in Klang² I S. 61 ff.
  5. 5 OGH AnwBl 1991, 120; JBl 1995, 530; AnwBl 1993, 512. Vgl.Völkl, W.,/Völkl , C., Beraterhaftung (2007) Rz 548ff.
  6. 6 Vgl. allgemeinFeil, E.,/Wennig, F., Anwaltsrecht4 (2006) S. 596 ff.
  7. 7 Die Rspr. verlangt – zu Recht – umfassende und lückenlose Kenntnis. OGH EvBl 1963/336; EvBl 1972/124 u.v.m.
  8. 8 OGH JBl 1972, 426; EvBl 1972/123; AnwBl 1990, 42.
  9. 9 Völkl/Völkl, FN 5, Rz 570.
  10. 10 OGH JBl 1995, 530; RdW 1996, 521; RdW 1999, 714.
  11. 11 OGH JBl 1995, 371; AnwBl 1993, 512; 3 RdW 1999, 714.
  12. 12 OGH 4 Ob 206/04 d.
  13. 13 OGH EvBl 1972/124; AnwBl 1991, 118.
  14. 14 Ibid.
  15. 15 OGH EvBl 1963/336.
  16. 16 Thiele ,C., Die Zeitschriftenlektüre des Rechtsanwalts als haftungsrechtliches Problem, ÖJZ 1998, S. 735.
  17. 17 OLG Düsseldorf, VersR 1980, 359 (360). DazuVölkl/Völkl, FN 5 Rz 571.
  18. 18 Thiele FN 16.
  19. 19 Ähnlich:Schnabl ,D., Juristische Online-Datenbanken im Lichte der Anwaltshaftung, NJW 2007, S. 3025.
  20. 20 Vgl. BGH 11. Januar 2007, XI ZR 55/03. Die Entscheidung hat die Frage nach dem notwendigen Einsatz von Rechtsdatenbanken im konkreten Fall offen gelassen. Siehe auch OLG Düsseldorf, NJOZ 2004, S. 1187.
  21. 21 Vgl.Mader, P ., Bemerkungen zur österreichischen Datenbanklandschaft, JusIT 2008,S. 29, der aber die jüngste Datenbank LindeOnline noch nicht berücksichtigen konnte. Zu letztererJahnel, D.,/Mader ,P. , Lindeonline – eine neue steuerrechtliche Datenbank JusIT 2010/14. Für freundschaftlich überlassene aktuelle Informationen zu der Datenbanklandschaft in Österreich danke ich Herrn Mag. Anton Geist.
  22. 22 In diesem Sinne bereitsThiele, FN 16.
  23. 23 Selbst für den Rechtsanwalt mit allgemeiner Beratungs- und Prozesspraxis OGH EvBl 1963/472; OGH SZ 44/139.
  24. 24 OGH AnwBl 1990,42 m.w.N.
  25. 25 Auch wenn der allgemein juristische Sprachgebrauch, wenn von einer «veröffentlichten» Entscheidung die Rede ist, eine in einer Fachzeitschrift veröffentlichte Entscheidung meint.
  26. 26 Interessanterweise begründetSchnabl , FN 19, mit der Vorauswahl durch Redaktionen die erhöhte Relevanz von Fachzeitschriften. Dies mag aufgrund der verhältnismäßig umfangreicheren Rechtsprechung in Deutschland berechtigt sein. In Österreich wird wohl von einem Rechtsanwalt zu erwarten sein, die für den konkreten Sachverhalt (die redaktionelle Vorauswahl mag ja vielleicht gerade die für den Mandatssachverhalt relevante Entscheidung außer Acht lassen) bedeutsamen Entscheidungen herauszufiltern.
  27. 27 Dies umso mehr, weil die Nutzung des Internets durch die verpflichtende Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs für einen Anwalt bereits zu den Berufspflichten gehört und eine entsprechende technische Ausstattung gegeben sein muss: § 9 Abs 1a RAO.
  28. 28 Völkl/Völkl, FN 5, Rz 573.
  29. 29 OGH 3 Ob 87/05y.
  30. 30 So auch für DeutschlandSchnabl, FN 19.
  31. 31 BGH NJW 2001, 675 (678).
  32. 32 Schnabl , FN 19, verneint auch in diesem Fall die Haftung.
  33. 33 An den Entscheidungen OGH EvBl 1963/472 und SZ 44/139, die von einem Anwalt mit einer allgemeinen Beratungs- und Prozesspraxis die Durchsicht gängiger Kommentare und kommentierter Gesetzesausgaben fordern, während die Durcharbeitung juristischer Spezialzeitschriften nicht erforderlich ist, hat sich dementsprechend nichts geändert.