1.1.
Prolegomena: Rechtskenntnis, Gesetzesflut und ‹information overload› ^
Bereits in seiner Salzburger Antrittsvorlesung «Rechtskenntnis und Gesetzesflut » im Wintersemester 1966/67 setzte sich Theo Mayer-Maly mit der ausufernden Zahl der Gesetze auseinander1 . Die Diskussion über das Übermaß an legistischen Akten ging und geht in der Regel mit einer Auseinandersetzung hinsichtlich deren Qualität einher2 . Während letztere wohl unbestritten nicht besser wird, ist die ungeheuren Ausmaße der Gesetzesflut auf nationaler und europäischer Ebene für den Rechtsanwender eine nicht zu bewältigende Aufgabe. Doch damit nicht genug. Der Rechtsanwender, insbesondere der Rechtsanwalt und der Rechtsanwaltsanwärter, haben sich auch mit der Fülle der weiteren Rechtsinformation auseinanderzusetzen: Das stetige wachsende Schrifttum und die Fülle an Rechtsprechung bringen eine ebenso schier unbewältigbare Informationsflut mit sich. Alvin Tofflers «information overload»3 hat auch die Juristen erreicht.
1.2.
Rechtskenntnis und erforderliche Sorgfalt des Rechtsanwalts ^
1.3.
Notwendige Zeitschriftenlektüre als Haftungsmaßstab im 20. Jahrhundert ^
Fast dreißig Jahre nach dem wesentlichen Aufzeigen der Gesetzesflut durch Theo Mayer-Maly hat Clemens Thiele16 sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit die Lektüre einschlägiger Fachzeitschriften für einen Rechtsanwalt aus haftungsrechtlicher Sicht erforderlich ist. Thiele hat überzeugend in Anlehnung an die einschlägige österreichische und deutsche Judikatur zwischen dem Anwalt mit allgemeiner Beratungs- und Prozesspraxis und dem Anwalt mit besonderer Fachkenntnis unterschieden. Thiele kam überzeugend zu dem Schluss, dass für Anwälte mit Allgemeinpraxis die Lektüre einschlägiger Fachzeitschriften, zu denen er ÖJZ, JBl, ecolex und RdW zählt, binnen vier Wochen nach deren Erscheinen haftungsrechtlich geboten ist. Der spezialisierte Anwalt habe darüber hinaus speziellere Fachzeitschriften zu lesen.Thiele plädierte überzeugend unter Berufung auf die deutsche Rechtsprechung17 , dass eine Kenntnis einer neuer Entscheidung ca. vier Wochen nach ihrer Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift zur Kenntnis genommen werden müsse, wobei hingegen die Unkenntnis nach drei oder mehr Monaten in der Regel als schuldhaft zu gelten habe18 . Hier ist aber nach seiner zutreffenden Ansicht zu beachten, dass es auf die Umstände des Einzelfalls ankommt und gerade z.B. die Angemessenheit der Frist der Kenntnisnahme bei der Übernahme eines kurzfristigen Mandats knapp vor Fristablauf nicht überspannt werden darf.
2.1.
Haftungsrechtliche Relevanz des Einsatzes von Rechtsdatenbanken ^
2.2.
Rechtsdatenbanken in Österreich ^
2.3.
Pflicht zur Nutzung nichtkommerzieller Rechtsdatenbanken (RIS und EUR-Lex) ^
2.4.
Notwendiger Einsatz von kommerziellen Rechtsdatenbanken ^
2.5.
Ausschließlicher Einsatz von Rechtsdatenbanken ^
3.
Zusammenfassung ^
Leonhard Reis,Rechtsanwalt und Universitätslektor, Hausmaninger Kletter Rechtsanwälte und Universität Wien, Franz Josefs-Kai 3, 1010 Wien,leonhard.reis@hhw.at ,www.hhw.at
- 1 Mayer-Maly ,T. , Rechtskenntnis und Gesetzesflut (1969).
- 2 Vgl. aus der Fülle der einschlägigen LiteraturMayer-Maly ,T., Gesetzesflut und Gesetzesqualität heute, in:Wilke, D., (Hg.) FS zum 125jährigen Bestehen der Juristen Gesellschaft zu Berlin (1984) S. 423-30.
- 3 Der Begriff wurde geprägt vonToffler ,A. , Future Shock (1970). Siehe dazu in juristischem Konzept z.B. den jüngsten Beitrag aus der Law Society Gazette vom 18. Oktober 2010, Lawyers suffer from ‚information overload’www.lawgazette.co.uk/news/lawyers-suffer-information-overload .
- 4 Grundlegend:Pisko in Klang² I S. 61 ff.
- 5 OGH AnwBl 1991, 120; JBl 1995, 530; AnwBl 1993, 512. Vgl.Völkl, W.,/Völkl , C., Beraterhaftung (2007) Rz 548ff.
- 6 Vgl. allgemeinFeil, E.,/Wennig, F., Anwaltsrecht4 (2006) S. 596 ff.
- 7 Die Rspr. verlangt – zu Recht – umfassende und lückenlose Kenntnis. OGH EvBl 1963/336; EvBl 1972/124 u.v.m.
- 8 OGH JBl 1972, 426; EvBl 1972/123; AnwBl 1990, 42.
- 9 Völkl/Völkl, FN 5, Rz 570.
- 10 OGH JBl 1995, 530; RdW 1996, 521; RdW 1999, 714.
- 11 OGH JBl 1995, 371; AnwBl 1993, 512; 3 RdW 1999, 714.
- 12 OGH 4 Ob 206/04 d.
- 13 OGH EvBl 1972/124; AnwBl 1991, 118.
- 14 Ibid.
- 15 OGH EvBl 1963/336.
- 16 Thiele ,C., Die Zeitschriftenlektüre des Rechtsanwalts als haftungsrechtliches Problem, ÖJZ 1998, S. 735.
- 17 OLG Düsseldorf, VersR 1980, 359 (360). DazuVölkl/Völkl, FN 5 Rz 571.
- 18 Thiele FN 16.
- 19 Ähnlich:Schnabl ,D., Juristische Online-Datenbanken im Lichte der Anwaltshaftung, NJW 2007, S. 3025.
- 20 Vgl. BGH 11. Januar 2007, XI ZR 55/03. Die Entscheidung hat die Frage nach dem notwendigen Einsatz von Rechtsdatenbanken im konkreten Fall offen gelassen. Siehe auch OLG Düsseldorf, NJOZ 2004, S. 1187.
- 21 Vgl.Mader, P ., Bemerkungen zur österreichischen Datenbanklandschaft, JusIT 2008,S. 29, der aber die jüngste Datenbank LindeOnline noch nicht berücksichtigen konnte. Zu letztererJahnel, D.,/Mader ,P. , Lindeonline – eine neue steuerrechtliche Datenbank JusIT 2010/14. Für freundschaftlich überlassene aktuelle Informationen zu der Datenbanklandschaft in Österreich danke ich Herrn Mag. Anton Geist.
- 22 In diesem Sinne bereitsThiele, FN 16.
- 23 Selbst für den Rechtsanwalt mit allgemeiner Beratungs- und Prozesspraxis OGH EvBl 1963/472; OGH SZ 44/139.
- 24 OGH AnwBl 1990,42 m.w.N.
- 25 Auch wenn der allgemein juristische Sprachgebrauch, wenn von einer «veröffentlichten» Entscheidung die Rede ist, eine in einer Fachzeitschrift veröffentlichte Entscheidung meint.
- 26 Interessanterweise begründetSchnabl , FN 19, mit der Vorauswahl durch Redaktionen die erhöhte Relevanz von Fachzeitschriften. Dies mag aufgrund der verhältnismäßig umfangreicheren Rechtsprechung in Deutschland berechtigt sein. In Österreich wird wohl von einem Rechtsanwalt zu erwarten sein, die für den konkreten Sachverhalt (die redaktionelle Vorauswahl mag ja vielleicht gerade die für den Mandatssachverhalt relevante Entscheidung außer Acht lassen) bedeutsamen Entscheidungen herauszufiltern.
- 27 Dies umso mehr, weil die Nutzung des Internets durch die verpflichtende Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs für einen Anwalt bereits zu den Berufspflichten gehört und eine entsprechende technische Ausstattung gegeben sein muss: § 9 Abs 1a RAO.
- 28 Völkl/Völkl, FN 5, Rz 573.
- 29 OGH 3 Ob 87/05y.
- 30 So auch für DeutschlandSchnabl, FN 19.
- 31 BGH NJW 2001, 675 (678).
- 32 Schnabl , FN 19, verneint auch in diesem Fall die Haftung.
- 33 An den Entscheidungen OGH EvBl 1963/472 und SZ 44/139, die von einem Anwalt mit einer allgemeinen Beratungs- und Prozesspraxis die Durchsicht gängiger Kommentare und kommentierter Gesetzesausgaben fordern, während die Durcharbeitung juristischer Spezialzeitschriften nicht erforderlich ist, hat sich dementsprechend nichts geändert.