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Kleine Phänomenologie des Rechts

  • Author: Peter Warta
  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Festschrift Erich Schweighofer
  • Citation: Peter Warta, Kleine Phänomenologie des Rechts, in: Jusletter IT 22 February 2011
Das positive Recht als ein von Menschen gemachtes System des Sollens ist eine geistige Kategorie. Seine für die Kommunikation unverzichtbare materielle Erscheinungsform ist der Text: bedrucktes Papier, gesprochener Schall oder digitalisierte Datei. Was bedeutet das für den Wahrheitsanspruch der Erkenntnisse der Rechtsdogmatik?

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Die Erscheinungsform des Rechts
  • 2. Die Rechtserkenntnistheorie des juristischen Positivismus
  • 3. Die Erscheinungsform des Rechts ist der Text
  • 4. Mehrdeutigkeit und Wahrheit
  • 5. Alles Wissen vom Recht ist Interpretation
  • 6. Das positive Regelsystem der Sprache
  • 7. Der Text als materielle Spur eines immateriellen Sinnes

1.

Die Erscheinungsform des Rechts ^

[1]
So viel Recht wie jetzt gab es noch nie. Und es wird ständig mehr. Recht begegnet uns in Behörden, vor Gericht, als Befehl eines Verkehrspolizisten, als Verbotstafel am Straßenrand. Aber auch wenn wir nicht Notiz von ihm nehmen, wissen wir: es ist überall, und das Meiste davon kennen wir gar nicht. Sucht man das Recht, so findet man es nicht ganz leicht aber doch in Gesetzblättern, in denen es anlässlich des in Kraft Tretens publiziert wurde, schon leichter, aber vielleicht nicht ganz aktuell in privat herausgegebenen Gesetzessammlungen, ausführlich erläutert in Kommentaren und seit einiger Zeit einfach und schnell im Internet. Aber ist das, was wir da finden, wirklich schon das «Recht»? Eines ist sicher: wir finden Texte.

2.

Die Rechtserkenntnistheorie des juristischen Positivismus ^

[2]
Der Rechtspositivismus in der Nachfolge Hans Kelsens liefert eine «Rechtserkenntnistheorie»1 , bei der zwischen einemempirischen und einemnormativen Element unterschieden wird: Quelle der empirischen Erkenntnis ist der Gesetzestext, ihr Thema derInhalt der Rechtsnorm; Thema der normativen Erkenntnis ist die Frage nach derGeltung der Norm. Und da die Geltung einer Rechtsnorm davon abhängt, ob sie gemäß einer anderen geltenden Norm erzeugt wurde, sieht sich der juristische Positivismus mit einem normativen Regress konfrontiert, der bei der Verfassung als oberster Rechtserzeugungsnorm endet. Für sie steht keine geltende positive Norm mehr als Geltungsbegründung zur Verfügung. Kelsen hat bekanntlich versucht, dieses Problem mit einer sogenannten Grundnorm zu lösen, die in einer Art Analogie zu den Kant’schen Erkenntnisbedingungen als transzendentallogische Erkenntnisbedingung des Rechts vorausgesetzt werden muss, wenn man eine bestimmte positive Rechtsordnung als objektiv geltend beschreiben will.
[3]
Empirisch nennen die Rechtspositivisten die Erkenntnis des Rechtsinhaltes deshalb, weil sie davon ausgehen, dass dieser Inhalt – wenn auch nur in seltenen Fällen in eindeutiger Weise – im Text des Gesetzes gleichsam beobachtbar enthalten sei und als solcher den Gegenstand der Rechtswissenschaft darstelle. Dementsprechend kann das Ergebnis empirischer Erkenntnis wahr oder falsch sein. Das tägliche rechtsdogmatische Brot der Juristen, Wissenschaftler wie Praktiker, scheint diese Sichtweise zu bestätigen: Kommentar, Kritik und Auslegung beginnen beim Text des Gesetzes. Die juristische Methodenlehre liefert analog zur Methodenlehre, wie man Pflanzen richtig bestimmt, das Handwerkszeug, mit dem der Gesetzestext analysiert werden kann, damit sein Inhalt empirisch zu Tage gefördert werde.

3.

Die Erscheinungsform des Rechts ist der Text ^

[4]
Rechtstexte aber sind Sprachgebilde. Sprache wird ganz allgemein als die Verbindung von akustischen oder optischen Phänomenen mit bestimmten Bedeutungen verstanden. Nach dem Vater der Linguistik Saussure2 vereinigt das sprachliche Zeichen eine Vorstellung und ein Lautbild. Dabei ist unter Lautbild nicht der tatsächliche Laut zu verstehen, der lediglich etwas Physikalisches ist, sondern der psychische Eindruck dieses Lautes. Dieser psychische Charakter unserer Lautbilder wird klar, wenn wir uns dabei beobachten, wie wir für andere unhörbar uns im Geist ein Gedicht vorsagen. Das gilt, kann man ergänzen, für den geübten Leser auch für schriftliche Wortbilder. Gerade die Erfahrung mit schriftlichen Wortbildern zeigt aber auch, dass ihre Verknüpfung mit Bedeutungen eingeübt werden muss. Jedes lesen Lernen beginnt mit dem Buchstabieren. Das, was Saussure sprachliches Zeichen nennt, hat seinen Ort nicht in der Außenwelt, sondern im Kopf des Sprachkundigen.
[5]
Hier sollen aber unter Zeichen sinnlich wahrnehmbare Phänomene der Außenwelt verstanden werden, die vom Wahrnehmenden als deutbare Symbole identifiziert und, wenn er über das entsprechende Deutungsschema verfügt, mit einer inhaltlichen Vorstellung assoziiert werden können.3
[6]
Die spontane Erfahrung, die wir beim Sprechen und Verstehen einer Sprache machen, die wir fließend beherrschen, verführt zur Annahme, dass auch dann, wenn wir ein Objekt zwar als Text identifizieren, aber nicht oder nur schlecht verstehen, dieser Text eine Bedeutung hat, und dass diese Bedeutung im Text, unabhängig davon, ob ihn gerade jemand versteht, objektiv enthalten sei. Für den Leser/Hörer versteckt zwar, aber doch vorhanden.
[7]
Dass hier Zweifel angebracht sind, kann an der Geschichte des folgenden Papyrusfragments gezeigt werden.
Abbildung 1: Faksimile aus Günter Lüling: Über den Ur-Qur’ân, Erlangen 1974
[8]
Zwar werden wahrscheinlich die meisten ihn als mit arabischen oder iranischen Schriftzeichen beschriebenes Blatt identifizieren können. Aber die Deutung eines Sinnes wird nur dem möglich sein, der über entsprechende Schrift- und Sprachkenntnisse verfügt. Und je nachdem, in welche Kontexte seine Kenntnisse eingebettet sind, wird dabei ein anderer Sinn herauskommen. Das Interessante an diesem Beispiel ist nämlich, dass sich der Sinn dieser Jahrhunderte alten Schrift im Laufe der Zeit aufgrund einer geänderten Deutungspraxis möglicherweise substantiell verändert hat.
[9]
Was heute von muslimischen Gelehrten als authentische Stelle aus dem Koran des Propheten Mohammed interpretiert wird, war vielleicht ursprünglich ein judenchristlicher Text mit anderem Sinn4 . Das vorliegende Schriftstück hat also gar keinen objektiv gegebenen und daher unveränderlichen Inhalt, sondern ist nur der materielle Nachlass eines ursprünglichen Sinnes. der zur Rekonstruktion einlädt, aber diese Rekonstruktion nicht endgültig determiniert. Natürlich wird nicht jede Deutung vor jedem Publikum bestehen können und wahrscheinlich werden Interpreten, die z.B. ein ideologisch motiviertes Interesse daran haben, ihre Version als wahr und abweichende Versionen als falsch bezeichnen. Sie werden Gründe dafür vorbringen, etwa dass ihre Interpretation dieses Textes die ältere und daher dem ursprünglichen Sinn nähere sei, oder aber gerade weil sie jünger sei, aktuelle Forschungsergebnisse besser berücksichtige. Es werden Vergleiche mit anderen Texten angestellt werden, um bestimmte Versionen zu untermauern und konkurrierende zu desavouieren. Doch welcher Sinn auch zur Diskussion steht, er wird stets nur das Ergebnis der Interpretation des beschriebenen Blattes sein und nie Erkenntnis eines objektiv gegebenen und der Erkenntnis zugänglichen Inhalts. Das Papyrusfragment für sich allein ist Materie ohne Sinn.

4.

Mehrdeutigkeit und Wahrheit ^

[10]
Dagegen könnte eingewendet werden, dass die Mehrdeutigkeit eines Rechtstextes seine wahrheitsfähige – und daher wissenschaftliche – Beschreibung lt nicht hindert, sondern im Gegenteil Thema einer solchen Beschreibung zu sein hat. Sei ein Text mehrdeutig, so habe der wissenschaftliche Jurist diese Mehrdeutigkeit und die Konsequenzen, die sich daraus ergäben (z.B. ein Ermessensspielraum des rechtsanwendenden Organs), darzulegen. Dabei wird allerdings außer Acht gelassen, dass die Auffassung, ein bestimmter Text sei mehrdeutig, selbst schon Ergebnis einer Interpretation dieses Textes mit Wahrheitsanspruch ist, also auch nur eine Version, die anderen gegenüberstehen kann, die eine Eindeutigkeit des (allenfalls je unterschiedlich rekonstruierten) Inhalts behaupten. Dass ein Text verschieden gedeutet wird, heißt ja noch nicht, dass er «objektiv» mehrdeutig sei, wenn man die Möglichkeit falscher Deutungen zulässt. Tatsächlich hat man es also mit einer Menge einander widersprüchlich gegenüberstehender, aber formal gleichberechtigter Deutungen zu tun, die sich alle auf den selben Text berufen. Es kann, unter Heranziehung irgendwelcher Kontexte, gute Gründe geben, einer dieser Versionen den Vorzug vor einer anderen einzuräumen. Doch dass sie wahr ist, könnte man nur beweisen, wenn es möglich wäre, sie mit einem ursprünglich gegebenen Sinn des Textes zu vergleichen, der ohne Deutung von Text, also «direkt» erkennbar wäre. Gibt es den?
[11]
Um diese Frage zu klären, muss überlegt werden, wie ein Rechtstext (oder irgendein Text) entsteht und wie er verstanden wird.
[12]
Wird eine Norm gesetzt, dann läuft ein Prozess ab, an dessen Beginn in den Köpfen irgendwelcher Personen eine Vorstellung davon besteht, was Inhalt der Norm sein soll, und an dessen Ende ein geschriebener, gesprochener oder digitalisierter Text vorliegt, der nach herkömmlicher Auffassung den Inhalt der Norm enthält.
[13]
Dieser Text ist aber nur als «hardware», als bedrucktes Papier, als durch Sprechen erzeugte Schallwellen oder geöffnete Datei ein wahrnehmbares Phänomen. Er kam zustande, weil der Normsetzer seine Vorstellung vom Inhalt der Norm in Begriffe fasste und diese weiter in Schrift, Rede oder andere Zeichen kodierte. Jeder dieser Schritte ist unvermeidlich mit einem gewissen Maß an Abstraktion von jenem Sinn verbunden, der den Autoren ursprünglich vorschwebte. Wer selbst erlebt hat, wie schwierig es sein kann, das, was man denkt, sprachlich so zu formulieren, dass man selbst damit zufrieden sein kann, weiß, was gemeint ist. Immerhin, das bewusste bedruckte Papier liegt jetzt vor (den gesprochenen Schall etwa einer mündlichen Urteilsverkündung lassen wir ab nun der Einfachheit halber weg, doch es gilt dasselbe analog auch für ihn).
[14]
Enthält dieses bedruckte Druckwerk die Norm, also den geistigen Inhalt, der ursprünglich in die Schriftzeichen kodiert wurde? Selbst wenn es sich bei dem Druckwerk nicht nur um Materie, handelte, sondern ihm auch Geist anhaftete, sehen können wir nur das, was die Materie Text an elektromagnetischen Wellen an unsere Augen aussendet: Helles, Dunkles, Farben. Sinn, überhaupt der Sinn eines Sollens, ist, so paradox das klingen mag, sinnlich nicht wahrnehmbar, Sinn ist nur denk- und vorstellbar.

5.

Alles Wissen vom Recht ist Interpretation ^

[15]
Auch dass es sich bei dem Text überhaupt um Zeichen handelt, die eventuell sinnvoll gedeutet werden können, ist schon das Ergebnis einer Interpretation mit Hilfe gelernter oder vereinbarter Regeln.
[16]
Wer einst als Kind Karl May las, wird sich vielleicht erinnern, dass Winnetou und Old Shatterhand einander beim nächtlichen Anschleichen an die Komantschen mit der Imitation von Käuzchen-Rufen verständigten, die von den Komantschen zwar gehört, aber nicht als Zeichen gedeutet werden konnten, weil sie die entsprechende Vereinbarung nicht kannten. Man kann Texte so tarnen, dass sie nur für Eingeweihte überhaupt als Texte erkennbar sind.
[17]
Vom Standpunkt des Normsetzers handelt es sich bei dem von ihm produzierten Text um die Kodierung des Sinnes seines Willens, der Norm, in ein Medium, das als Objekt sinnlicher Wahrnehmung nur ein materielles Phänomen sein kann und schon deshalb etwas ganz Anderes sein muss, als die Norm selbst, weil es der Welt des Seins angehört, während die Norm einen gedanklichen Inhalt dessen darstellt, was seinsoll und nicht dessen, wasist.

[18]
Erst wenn der Hörer oder Leser den Text interpretiert, wird die Norm als Sinn eines Sollens im Kopf des Lesers als Vorstellung, als «geistige Kategorie» existent. Nicht der Normsetzungsakt, der nur eine Textmaterie hervorbringt, sondern der Deutungsakt, der anhand des Textes den Inhalt der Norm im Kopf des Deutenden Gestalt werden lässt, ist die Geburtsstunde der wirksamen Norm als geistiger Kategorie. Der Willensakt des Gesetzgebers, ohnehin auch schon von Rechtspositivisten der zweiten Generation als problematisches Konstrukt betrachtet5 , verliert an Bedeutung gegenüber dem hermeneutischen Prozess der Rekonstruktion der Norm aus der Textmaterie.
[19]
Die semantischen Differenz zwischen dem in einen Text kodierten und dem aus diesem Text dekodierten Sinn kann gering sein, aber schon deshalb nie völlig ausgeschaltet werden, weil jede Kodierung, wie gesagt, stets auch mit einer Abstraktion verbunden ist.
[20]
Wird z.B. vom Foto eines Gesichtes eine Zeichnung anfertigt und diese Zeichnung gelingt, dann erkennt jeder sofort auch anhand der Zeichnung: das ist die Person XY. Gibt es das Foto nicht mehr, so bleibt natürlich die Ähnlichkeit des gezeichneten Porträts zur dargestellten Person bestehen. Aber es ist unmöglich, die Abstraktion, die die Zeichnung gegenüber dem Foto darstellt, rückgängig zu machen und aus ihr das Foto, genau so wie es war, zu rekonstruieren.

6.

Das positive Regelsystem der Sprache ^

[21]
Dazu kommt, dass die Regeln der natürlichen Sprachen für die Kodierung und Dekodierung von Sinn nur beschränkt nach einem präzise normierten Verfahren, in dem klare Ermächtigungen vorgesehen sind (z.B. Schulgrammatik, Rechtschreibung), erzeugt, vermittelt und der sich beständig wandelnden Praxis angepasst werden. Außerhalb des verhältnismäßig präzise geregelten Bereiches geschieht dies hingegen in einem höchst komplexen Prozess, in dem Sprachschöpfungen und -änderungen durch Wissenschaft, Publizistik und auch Recht, Definitionen in Wörterbüchern, Moden und auch Zufall eine im Detail nicht leicht verfolgbare und so gut wie unvorhersehbare Rolle spielen. Nicht von ungefähr nimmt die Definition der verwendeten Begriffe in Fachpublikationen einen großen Raum ein. Doch auch im auf wissenschaftliche Genauigkeit bedachten Definitionsregress sind Autor und Leser letzten Endes auf die natürliche Alltagssprache zurückgeworfen.
[22]
«Natürlich» darf hier nicht missverstanden werden. Es gibt selbstverständlich eine historische Entwicklung der Sprachen, in die jedenfalls zunächst nicht «künstlich» eingegriffen wurde. Angeboren und damit «natürlich», also Naturgesetzen folgend, ist dem Menschen aber nur dieFähigkeit , Sprachen zu erlernen und zu gebrauchen, eine nicht nur, wenn man so will, «geistige», sondern auch in hohem Maß körperliche Fähigkeit, was die für das Sprechen und Schreiben nötige Feinmotorik der Zunge und der Hände betrifft. Die Sprachen selbst, also die jeweilige Verknüpfung von optischen, akustischen und auch taktilen Wahrnehmungen mit vorgestellten Bedeutungen, sind nicht naturgesetzlich determiniert, sondern beliebig gestaltbar und nur historisch, nicht logisch zu erklären. Deutlich wird das bei dem, wofür Schriftzeichen stehen.
[23]
Nachdem die Kenntnis der ägyptischen Hieroglyphen in der späten Antike verloren gegangen war, hielt man sie ihrer bildhaften Zeichen wegen für eine Bilderschrift. Ein Irrtum: die Hieroglyphen sind Phonogramme wie die Buchstaben unseres Alphabets, auch und zwar eine Konsonantenschrift, ergänzt durch Determinativ-Zeichen.
[24]
Ein und dasselbe grafische Zeichen kann in verschiedenen Sprachen und Schriften Verschiedenes bedeuten, z.B. für einen unterschiedlichen Laut stehen:
Unterschiedliche Aussprachen für das Zeichen «H»
[25]
Schon lange werden Sprachregeln in Grammatiken und Wörterbüchern kodifiziert. Diese Bücher sind für den Normtheoretiker insofern interessant, weil sie auf bemerkenswerte Weise zwischen deskriptiv und normativ oszillieren. Sie werden von Sprachwissenschaftlern deskriptiver Absicht («wie man sich in der Sprache X tatsächlich ausdrückt») verfasst, aber von den Benützern nicht selten normativ («wie man sich in dieser Sprache auszudrücken hat») gelesen.
[26]
Dass das Verfassen und Verstehen von Texten dennoch deutlich häufiger gut funktioniert, als in ein heilloses babylonisches Chaos zu münden, wird durch ein Regelsystem gewährleistet,
  • das zwar nicht naturhaft fixiert und auch niemals abgeschlossen und fertig vorgegeben ist,
  • aber von der Sprachgemeinschaft zu einer gegebenen Zeit als geltend6 akzeptiert wird
  • und durch die in die praktische Kommunikation eingebauten Usancen der mehrfachen Rückmeldungen und Redundanzen Missverständnissen effektiv vorbeugt.
[27]
Das System der Sprachregeln scheint sich übrigens nicht grundsätzlich von anderen positiven Regelsystemen für menschliches Verhalten zu unterscheiden, wenn auch die Gewohnheit als Regeln erzeugender Tatbestand eine besonders große Rolle spielt. Sie, die Sprachregeln, sind stets veränderbar, nicht selten mehrdeutig, sie engen die Spielräume für richtiges Sprechen und Verstehen ein, determinieren es aber so gut wie nie hundertprozentig. Die unübersehbare, aber in ihrer jeweiligen Version doch endliche, komplexe Vielfalt der Sprache, das bunte Spektrum möglicher Kontexte für die praktische Erarbeitung der Bedeutung eines Textes, ist kein Argument gegen die Normativität von Sprachregeln, sondern eher eines für deren adäquate Komplexität. Nur die (überwiegend spontane und selten bewusste) Einhaltung solcher hochkomplexer Regeln sorgt dafür, dass das einigermaßen «richtige» Verstehen von Gemeintem über die Vermittlung von Text – bei allen Unschärfen, aber gleichzeitig auch in feinsten Subtilitäten – den für Kommunikation nötigen Grad von Wahrscheinlichkeit der Übereinstimmung erreicht und nicht dem Zufall überlassen bleibt.

7.

Der Text als materielle Spur eines immateriellen Sinnes ^

[28]
Das kann aber nichts an dem Faktum ändern, dass das Medium Text, mit dem rechtliche Inhalte kommuniziert werden, Materie ist und diese Inhalte nicht enthält. Nur vermittels gewusster Dekodierungsregeln ist es dem Leser oder Hörer möglich, einen Sinn in Texte hinein zu interpretieren. Dieser Sinn kann auch nur in dem Ausmaß dem ursprünglichen Inhalt im Kopf des Autors entsprechen, in dem der angewandte Dekodierungsschlüssel dem seinerzeitigen Kodierungsschlüssel adäquat ist. Ob das der Fall ist, lässt sich durch Feedbacks brauchbar, aber nie exakt überprüfen.
[29]
Ein Satz ist wahr, wenn das, was er über einen Sachverhalt sagt, auf diesen Sachverhalt auch wirklich zutrifft. Wahrheitsfähig ist er, wenn es möglich ist, seine Aussage anhand des Sachverhaltes empirisch zu überprüfen. Bei Aussagen über den Sinn eines Rechtstextes geht das nicht. Denn der Sinn einer Norm, über den ein Jurist einen Kommentar verfasst, steht diesem Juristen nicht in der Außenwelt objektiv beobachtbar zur Verfügung, sondern nur als das Ergebnis seiner eigenen Interpretation des Normtextes. Das Recht existiert inhaltlich konkret nur als Wissen in den Köpfen der Wissenden. Die Texte, die in den Bibliotheken zur Verfügung stehen, sind nur materielle Spuren, die zur Rekonstruktion des Sinnes, den sie repräsentieren, auffordern.
[30]
Deshalb können divergierende Thesen über den Inhalt des Rechtes auch nicht durch empirische Beweise in wahre und falsche geschieden werden. Welche der Thesen sich im Fachdiskurs durchzusetzen vermag, hängt von der Plausibilität der Begründungen ab. An die Stelle der Beweise treten die Zitate prominenter Autoren. Im Wettkampf der Meinungen entscheidet die Deutungsmacht der Diskursteilnehmer. Was da gewinnt, wird daher zu Recht als herrschende Lehre und nicht als wahre Theorie bezeichnet.
[31]
Rührend mutet in diesem Zusammenhang der Versuch des österreichischen Bundesverfassungs-Gesetzes an, der Wirklichkeit mit irreführenden Vokabeln eine Maske aufzusetzen. Dort werden nämlich die Urteile der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts nicht als Urteile, sondern als Erkenntnisse bezeichnet. Und auch die ordentlichen Gerichte verwenden in ihren Entscheidungen regelmäßig die Floskel «zu Recht erkannt». Der verbale Talar passt zu dem aus Tuch.
[32]
Die Rechtswissenschaft steht damit, dass sie keine wahren Theorien, sondern nur herrschende Lehren hervorbringen kann, nicht alleine da. Alle Geistes-, oder, wie man sie heute weniger esoterisch nennt, alle Textwissenschaften trifft dieses Los. Es ist nur für Literaturwissenschaftler leichter erträglich, als für Juristen oder gar Theologen, die von der Illusion leben müssen, über wahres Wissen aus Texten zu verfügen.



Peter Warta, Freischaffender Autor, Grünangergasse 3-5, 1010 Wien AT,warta@aon.at


  1. 1 Vgl.Ralf Dreier, Bemerkungen zur Rechtserkenntnistheorie, inWerner Krawietz u.a. (Hg) Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Rechtstheorie, Beiheft 1, Berlin 1979, S. 94 ff.
  2. 2 Ferdinand de Sussure, Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 1931 (orig.: Cours de Linguistique Générale, 1916).
  3. 3 In der Metapher von der «Außenwelt» und dem «Kopf», also der vom Gehirn physisch repräsentierten Gedankenwelt eines denkenden Menschen, sind die Sinnesorgane dieses Menschen die Schnittstellen der Unterscheidung. Deshalb kann auch der «Kopf» unmetaphorisch, Außenwelt sein: als Quelle eines empfundenen Schmerzes etwa.
  4. 4 Vgl. dazuGünter Lüling, Über den Ur-Qur’ân, Erlangen 1974.
  5. 5 Vgl.Clemens Jabloner, Kein Imperativ ohne Imperator, Anmerkungen zu einer These Kelsens, in: Walter (Hrsg.) Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre II (1988).
  6. 6 «Geltend» heißt hier, dass regelkonformes Umgehen mit Sprache als «richtig», regelwidriges als «falsch» bewertet wird.