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Moralische Doppelwirkungen – die Wiederkehr einer naturrechtlichen Denkfigur aus dem Internet

  • Author: Lothar Philipps
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Lothar Philipps, Moralische Doppelwirkungen – die Wiederkehr einer naturrechtlichen Denkfigur aus dem Internet, in: Jusletter IT 5 October 2011
«We are equipped with a mental barometer that distinguishes between killing as a means and killing as an unintended but foreseen side effect» (Marc Hauser). Das hätte sich auch im Latein des Thomas von Aquin sagen lassen, alsactio duplicis effectus;doch als scholastische These war es lange Zeit vergessen, auch in den Standardwerken katholischer Moralphilosophie. In der amerikanischen Literatur ist die Unterscheidung freilich vor einigen Jahrzehnten wieder aufgetaucht, weltweit populär gemacht hat sie der Psychologe Marc Hauser im Wege derexperimental philosophy. Hauser hat im Internet eine Reihe einschlägiger Fälle (die «Trolley-Fälle») vorgestellt und das Publikum um Stellungnahme gebeten. Ich habe die Fälle in formlosen Gesprächen beim Spazierengehen erörtert, mit dem Ergebnis, dass meine Gesprächspartner – sämtlich Laien – die Unterscheidung mit erstaunlicher Sicherheit verstanden, wenn sie auch – anders als Hausers Publikum aber vielleicht typisch für uns Deutsche heutzutage – in der Regel nicht bereit waren, das Leben von Menschen zu retten, die Tötung anderer Menschen in Kauf zu nehmen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Marc Hauser und die Trolley-Fälle
  • 2. Gespräche über die Trolley-Fälle
  • 3. Die Aktualität der Lehre von der moralischen Doppelwirkung
[1]
Naturrecht ist ein weites Feld. Das mag resignativ klingen, doch richtig ist auch dieses: Wenn Felder umgepflügt werden, zumal mit neuen Gerätschaften, können Dinge ans Licht kommen, die vergessen schienen. So geschah es unlängst mit der thomistischen Lehre von den moralischen Doppelwirkungen.

1.

Marc Hauser und die Trolley-Fälle ^

[2]
Vor einigen Jahren ist das Buch «Moral Minds» von Marc D. Hauser erschienen und hat sogleich für Aufsehen gesorgt.1 Hauser glaubt nachweisen zu können, dass der Mensch von seiner biologischen Natur her mit einem Sinn für gerechtes Handeln in Konfliktfällen ausgestattet sei. Im Mittelpunkt seines Buches steht ein Fall in vier Variationen.2

  1. Albert steht auf einer Eisenbahnbrücke und sieht, wie ein führerloser Trolley (ein leichtes Schienenfahrzeug) heranrollt. Der Wagen wird fünf Wanderer, die auf den Schienen gehen, zermalmen, wenn nicht ... – ja, es gibt eine Abzweigung, und Albert hat die Möglichkeit, eine Weiche umzustellen, so dass der Trolley auf ein anderes Gleis geleitet wird. Auf diesem geht freilich ein einzelner Wanderer, der nun getötet würde. Darf Albert die Weiche stellen?
  2. Auch Bettina steht auf einer Eisenbahnbrücke, und ein Trolley rollt heran, auf fünf Wanderer zu. Es gibt keine Abzweigung und keine Weiche; aber neben Bettina beugt sich ein Mensch von gewaltiger Statur weit über das Geländer. Sie braucht ihm nur einen Schubs zu geben, und der Mensch wird auf das Gleis stürzen und den Trolley aufhalten. Er wird sterben, doch die fünf Wanderer werden leben. Darf Bettina den Menschen hinabstoßen? (Bettina ist schlank und zierlich; wollte sie sich selber opfern, so würde sie keinen Trolley aufhalten.)
  3. Clemens wiederum kann (wie Albert) den Trolley, der auf fünf Wanderer zurollt, auf ein abzweigendes Gleis leiten. Dieses Gleis macht freilich einen Bogen und führt wieder auf das erste Gleis mit den fünf Wanderern zurück. Auf dem abzweigenden Gleis steht jedoch ein Mensch von gewaltiger Statur, über den kein Trolley hinwegkäme. Darf Clemens die Weiche zum Tod dieses Mannes stellen?
  4. Dorotheas Situation ähnelt der vorhergehenden; auch sie kann eine Weiche stellen zu einem abzweigenden Gleis, das einen Bogen schlägt und wieder zu dem ersten Gleis zurückführt. Der Mann, der auf dem abzweigenden Gleis steht, ist allerdings von normaler Statur; er würde getötet werden, ohne den Trolley aufzuhalten. Doch hinter ihm steht ein zusammengebrochener Lastwagen auf den Schienen; der würde den Trolley stoppen. Darf Dorothea den Trolley auf das abzweigende Gleis lenken und so fünf Wanderer retten, den Mann freilich opfern?

Gleise mit abzweigenden Nebengleisen: Wenn man die Weiche zum Nebengleis umstellt, wird die Fünfergruppe vor dem Überfahrenwerden durch einen Trolley bewahrt, der Einzelgänger auf dem Nebengleis freilich geopfert. Zur zweiten Konstellation stelle man sich die Möglichkeit vor, einen schweren Menschen, vom gleichen Format wie rechts daneben, auf das Gleis zu stürzen.
[3]
Diese Fälle, neben anderen ähnlicher Art, haben Hauser und seine Arbeitsgruppe zu einemMoral Sense Test ins Internet gestellt.3 Mehr als 200 000 Menschen, aus den verschiedensten Völkern, Religionen, Schichten und Berufen, haben die Fragen dazu beantwortet, und es scheint so, als bilde sich aus ihren Antworten ein Muster heraus: Bettina und Clemens, die den Trolley, um ihn zu stoppen, auf einen schwergewichtigen Menschen auffahren lassen, handeln demnach unerlaubt. Erlaubt dagegen handeln Albert und Dorothea, die den Trolley auf eine wegführende Spur leiten oder ihn auf einen schweren Gegenstand aufprallen lassen, wobei freilich ebenfalls ein Mensch ums Leben kommt.
[4]
Warum die Teilnehmer amMoral Sense Test in dieser Weise entschieden haben, wissen sie zumeist selber nicht zu sagen; auch das hat Hauser geprüft. Sie entscheiden demnach mit großer Sicherheit, sind sich aber der Gründe ihrer Entscheidungen nicht bewusst. Hauser hat eine Erklärung dafür: Menschen folgten in ihren fundamentalen moralischen Entscheidungen keiner Regel, die sie durch Erziehung oder sonstwie gelernt haben; vielmehr wohne der Menschennatur eine «moralische Grammatik» inne, die wie ein Instinkt wirke; Instinkt braucht keine Gründe.4 Was die Trolley-Fälle anlangt, so entscheide man, wie Hauser annimmt, auf folgender Grundlage:

We are equipped with a mental barometer that distinguishes between killing as a means and killing as an unintended but foreseen side effect. Killing is wrong if it is intended as a means to some end. Killing is permissible if it is unintended but a foreseen by-product of a greater good.
[5]
In allen vier Fällen wird ein Mensch getötet, um fünf Menschen zu retten. Das Leben von fünf Menschen mag man mit Hauser als ein höheres Gut ansehen verglichen mit dem Leben eines einzigen; darüber wollen wir jetzt nicht rechten.5 Wenn nun trotzdem jene Rettungsaktionen, die mit dem Tode des schwergewichtigen Menschen enden, von den meisten Testteilnehmern als unerlaubt bewertet werden: was ist das Besondere an ihnen? In diesen Fällen wird das Tötungsgeschehen angestrebt, als ein Mittel zum Zweck: die Masse eines menschlichen Körper wird dazu benutzt, den Trolley zu stoppen. Dass auch in den beiden übrigen Fällen ein Mensch ums Leben kommt, ist eine wenn auch vorausgesehene Nebenwirkung (by-product, side-effect); der Trolley wird auf andere Weise unschädlich gemacht, nämlich auf einen schweren Gegenstand geleitet oder einfach weggeleitet.

2.

Gespräche über die Trolley-Fälle ^

[6]
Killing is permissible if it is … a foreseen by-product of a greater good. Dieser Satz verschlug mir den Atem.Permissible bedeutet zwar nicht schonpermitted , aber trotzdem! Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht, um einige Mitmenschen zu fragen, wie sie sich in den vier Situationen verhalten würden. Die meisten davon sind Rentner und Hundehalter wie ich, Leute, mit denen ich mich ohnehin regelmäßig unterhalte, wenn ich mit meinem Hund in den Isarauen spazieren gehe; Intellektuelle sind es nicht. Ich habe zunächst keinen getroffen, der bereit gewesen wäre, den Hebel umzulegen, um fünf Menschen zu retten – und einen zu töten. Einen Menschen von einer Brücke stoßen würden sie erst recht nicht. Die immer wiederkehrende Begründung war: «Man soll nicht Gott spielen, ... nicht Schicksal spielen». Ein jüngerer Hundebesitzer, der durch eine militärische Ausbildung gegangen war, sagte allerdings: «In Friedenszeiten, in einer zivilen Umgebung, würde ich keinen Hebel umlegen. Anders aber im Kriege, in einer Kampfsituation. Man kann es sich nicht leisten, auf vier oder fünf Mitkämpfer zu verzichten.»6
[7]
In den Isarauen steht auch «Münchens ältestes Standl », welches Bier und Wiener Würstchen, Eis und Limonade anbietet; darin tätig ist eine lebenssprühende Verkäuferin. Sie fragte mich: «Warum warnt der Mensch auf der Brücke die Wanderer nicht durch Zuruf?» Ich antwortete: «Es ist eine Baustelle mit lärmenden Maschinen; daher auch die Gleise und Trolleys.» Sie darauf: «Ja wissen Sie, wenn jemand auf einer Baustelle auf den Schienen herumläuft ...» Sie ließ den Satz bedeutungsschwer in der Luft hängen. Ich: «Sie meinen: wegen Menschen, die sich so leichtfertig selber gefährden, braucht man sich nicht in Gewissenskonflikte zu stürzen?» «Genau, das meine ich!» bestätigte sie. In späteren Gesprächen habe ich, wenn die Frage noch dem möglichen Warnruf kam, einen romantischen Wasserfall rauschen lassen.
[8]
Ein Hundehalter, den ich am nächsten Tage traf, hatte außer diesem noch eine ganze Reihe anderer Einwände parat. «Wie, zum Beispiel, wenn der Einzelgänger irgendwie bedeutender ist als die anderen Wanderer?» «Das kann man von der Brücke aus nicht sehen», antwortete ich, ließ auch die These von der Gleichwertigkeit eines jeden Menschenlebens anklingen. Ein paar Tage später war er es, der mich auf die Fälle ansprach; er hatte sich inzwischen eine Meinung gebildet. «Wenn ich in eine solche Situation geriete, würde ich mich in einer Weise verhalten, die ich jetzt nicht vorhersagen könnte und möchte, schon weil es Umstände geben wird, die ich jetzt nicht kennen kann, und ich kann auch nicht die Gefühlslage kennen, in der ich mich befinden werde, ob eher zupackend oder eher zaudernd, – wahrscheinlich würde ich ganz irrational entscheiden, einfach weil mir jemand auf der einen oder der anderen Seite sympathischer wäre.7 In Gewissenskonflikte gerät man ja so oder so.» Deshalb hielt er es auch für falsch, juristisch festlegen zu wollen, wie man sich in solchen Situationen verhalten müsse.
[9]
Die beiden Buchhändlerinnen, an deren Geschäft (Buch in der Au ) ich regelmäßig vorbeikomme, waren die ersten Intellektuellen, die ich interviewt habe. Sie berieten miteinander und kamen zu folgendem Ergebnis: Die Weiche würden sie umstellen, aber jemanden auf die Gleise hinabstürzen würden sie nicht. Dabei legten sie Wert auf die Feststellung, dass normativ gesehen kein Unterschied zwischen den vier Fällen bestehe, wohl aber psychologisch. In späteren Interviews habe ich den Brückensturz zunächst in der Weise modifiziert, dass der Mensch auf der Brücke nicht den Körper des Menschen neben ihm anfassen muss: Das Geländer ist nunmehr provisorisch angebracht, für die Arbeiter auf der Baustelle. Man braucht nur einen Bolzen aus der Konstruktion zu ziehen, und das Geländer klappt hinunter, der schwere Mann, der sich darauf lehnt, stürzt auf die Gleise und blockiert den Weg des Trolleys. Es ist bemerkenswert, dass sich daraus keine Änderung in den virtuellen Entscheidungen meiner Gesprächspartner ergab. Dann habe ich die Variante mit dem Brückensturz ganz weggelassen, weil ich den Eindruck hatte, dass in seinem Schatten die subtilen Unterschiede zwischen den anderen Varianten nicht recht sichtbar sind.
[10]
Ich habe die Fälle auch gegenüber einem rechtswissenschaftlichen Kollegen erwähnt. «Diese Frage hat das Bundesverfassungsgericht ja nun geklärt», meinte er, in einem Tonfall, der mich daran zweifeln ließ, dass er mit dieser Klärung ganz einverstanden sei. (Das Urteil des BVerfG vom 15. Februar 2007 erklärte das «Luftsicherheitsgesetz» für nichtig, welches die Möglichkeit vorsah, ein Flugzeug abzuschießen, das mutmaßlich von Terroristen zur Begehung eines Anschlags gekapert war.) Wir konnten das Gespräch leider nicht vertiefen, weil andere Partygäste sich dazwischendrängten. Eine Rechtsanwältin sagte mit berufstypischer Schnelligkeit und Schärfe: «Jaja, die Amerikaner. Haben sich solange auf ‹bloße Kollateralschäden› berufen, bis sie jetzt selber daran glauben.» Ein Mathematiker und Physiker war nicht minder schnell. Was die beiden Varianten mit den sich trennenden und dann wieder sich vereinigenden Gleisen anlangt, so fand er, dass man die Weiche zwar in Richtung auf den Mann stellen dürfe, der vor einem ausrangierten Lastwagen steht. Nicht aber – die andere Variante – in Richtung auf denschwergewichtigen Mann. Das Verhalten eines Menschen sei nämlich nicht völlig prognostizierbar. Es gebe also eine Chance, dass der Mensch vor dem Lastwagen zur Seite trete – aus welchen Gründen auch immer – und der Trolley keinen Schaden anrichten könne. Für einen guten Ausgang in der anderen Variante müssten dagegen sowohl der schwergewichtige Wanderer auf dem Nebengleis als auch – nach der Wiederzusammenführung der Gleise – alle fünf Wanderer auf dem Hauptgleis zur Seite treten. Doch die Wahrscheinlichkeit für ein solches Zusammentreffen sei extrem gering; er würde nicht darauf setzen und also bei dieser Variante nicht eingreifen und den Hebel umlegen. Im Ergebnis eine Differenzierung, wie sie Hauser prognostiziert hat, aber mit einer anderen und dabei erstaunlich plausiblen Begründung. Eine Jurastudentin war es schließlich, deren Antworten ganz den Hauser’schen Erwartungen entsprachen, auch darin, dass sie keine Gründe für ihre Entscheidungen angeben konnte. Sie empfand es hinterher als «peinlich, dass ich mit so einem Gefühl auch noch voll im Mainstream liege».
[11]
Jurastudenten zu den Fällen zu befragen ist gar nicht so einfach. Die erste Version (mit der schlichten Umleitung auf ein hinwegführendes Gleis) ist jedem Studenten bekannt; handelt es sich doch um einen Schulfall der deutschen Rechtswissenschaft, der vielleicht schon im 19. Jahrhundert diskutiert wurde, als das Eisenbahnwesen noch Unbehagen und Ängste auslöste.8 Nach der Standardlösung des Schulfalles ist das Umstellen der Weiche mit tödlichen Folgen eine rechtswidrige Handlung. Gleichwohl kann der Weichensteller nicht bestraft werden; denn man möchte ihm nicht eine Handlung vorwerfen, mit der er Schlimmeres verhütet hat. Ihm kommt deshalb ein «übergesetzlicher Schuldausschließungsgrund» oder, nach anderer Ansicht, ein «rechtsfreier Raum» zugute.9 Wie dem auch sei, wichtig ist, dass der in einer «existentiellen Situation» sich so oder aber so Verhaltende nicht bestraft werden darf.10
[12]
Es fragt sich nun, ob das Strafrecht in den neueren Versionen des Falles, bei denen ein schwergewichtiger Mann als Hindernis eingesetzt und vielleicht sogar von der Brücke hinabgestürzt wird, zu anderen Ergebnissen kommt. Das ist vermutlich zu verneinen, da der Saldo in allen Versionen der gleiche ist: Das Leben von fünf Menschen wird gerettet, einer muss allerdings sterben. Die gegenwärtige deutsche Strafrechtslehre folgt weitgehend einer auf Rechtsgüter bezogenen, konsequentialistischen Konzeption.11
[13]
In meinen ersten Gesprächen mit Studenten habe ich sie gebeten, ihr juristisches Wissen auszublenden und nur auf das zu horchen, was sich dann vielleicht als «Stimme der Moral» meldet. Eine solche Epoché vorzunehmen ist aber schwer und unter den Bedingungen eines Gesprächs im Alltagston kaum durchführbar. Ich habe den Studenten bald einen anderen Vorschlag gemacht: Sie sollten die freisprechenden Entscheidungen einer virtuellen Strafkammer unangetastet lassen und sich lediglich fragen, in welcher Fallversion, verglichen mit einer anderen, ihnen bei dem Freispruch «weniger wohl zumute» wäre. Ich habe also nur noch nach komparativen Urteilen gefragt. Beim Brückensturz war jedem «am wenigsten wohl zumute». Ein Teil der Gesprächspartner unterschied weiterhin (wie von Hauser prognostiziert) zwischen dem Stopp durch den Körper des schweren Mannes einerseits und durch den Lastwagen andererseits; andere lehnten jede weitere Differenzierung ab.
[14]
Ich habe die Gespräche geführt, weil mich bei der Lektüre des Hauser’schen Buches Neugierde erfasst hatte, nicht um eine Statistik widerlegt zu finden. Weder waren meine Fragen standardisiert, noch waren die Befragten ein repräsentatives Sample. Immerhin haben sich Ergebnisse angedeutet. Sicher ist, dass der Brückensturz allgemein abgelehnt wurde. Auch die, die ohnehin jeden Eingriff in das Geschehen ablehnten, betonten eigens, dass das Hinunterstoßen eines Menschen für sie völlig indiskutabel sei.12
[15]
Warum hebt sich der Brückensturz von den anderen Fällen so deutlich ab? Eine Möglichkeit der Erklärung ist die psychologische: man scheut davor zurück, einen Menschen, um ihn zu töten, anzufassen. So, außer den erwähnten Buchhändlerinnen, schon der australische Philosoph Peter Singer in einem Zeitungsartikel zumMoral Sense Test , wo er die Ergebnisse des Tests evolutionsbiologisch deutet: «... it is only in the past couple of centuries – not long enough to have any evolutionary significance – that we have been able to harm anyone by throwing a switch that diverts a train. Hence the thought of it does not elicit the same emotional response as pushing someone off a bridge.»13 Von einer neurowissenschaftlichen Arbeitsgruppe um Joshua D. Greene (Princeton Universität) wird das bestätigt.14 Die Gruppe hat die Gehirnaktivitäten von Menschen in Konfliktsituationen nach Art des Brückensturzes und der anderen Trolley-Fälle mit einem bildgebenden Verfahren untersucht.
[16]
Es gibt aber auch normative Erklärungen, von denen die folgende sehr plausibel ist: In dreien der vier Fälle wird eine schon bestehende, vom Trolley ausgehende Gefahr lediglich umgeleitet: von dem einen Adressaten (der Fünfergruppe) zu dem anderen Adressaten (dem Einzelgänger). Wenn dagegen jemand von der Brücke gestürzt wird, so verwirklicht sich darin keine schon vorher begründete Gefahr, vielmehr wird ein ganz anderer Geschehensablauf in Gang gesetzt. Diese Betrachtungsweise, nach der es darauf ankommen kann, ob sich in der Verletzung eine spezifische Gefährdung verwirklicht, ist der Jurisprudenz vertraut.15
[17]
Um auf die drei verbleibenden Fallversionen zurückzukommen: Die meisten Gesprächspartner wollten auch hier nicht eingreifen, und die wenigen, die eingreifen würden, täten das zumeist nicht, wenn sie den Trolley mit dem Körper eines Menschen stoppen müssten. Auch komparativ gewertet scheint es bedenklicher zu sein, den Trolley mit der Masse eines Menschen zum Stehen zu bringen als mit der Masse eines unbelebten Gegenstandes, obwohl auch bei dieser Variante ein Mensch sein Leben lassen muss. Jedenfalls bin ich auf mehrere Gesprächspartner gestoßen, die das meinten; die umgekehrte Rangordnung – besser den schwergewichtigen Menschen opfern als den dünneren, hinter dem ein Lastwagen steht – hat niemand für richtig gehalten, selbst wenn ich ausdrücklich danach fragte.16 Alles in allem hat sich also ein ähnliches Bild ergeben wie bei demMoral Sense Test , wenn auch viel schwächer ausgeprägt und natürlich statistisch nur sehr schwach gestützt. Doch vermutlich sind die Deutschen in der Tat weniger zu Aggression aus Hilfsbereitschaft geneigt als die Amerikaner, vielleicht weil wir das Gefühl haben, schon zu viele Hebel umgelegt zu haben.17
[18]
Bei meinen Gesprächen in den Isarauen ist mir bewusst geworden, welch glücklichen Griff Hauser getan hat, als er die Trolley-Fälle als Beispiele wählte. Es geht ihm um die These, dass den Menschen eine moralische Grammatik innewohne, die der Kultur und der Erziehung vorhergehe und die es ihnen ermögliche, in einer universellen Weise zwischen gut und böse zu unterscheiden; eben das versuchte er mit Hilfe des alle Grenzen überspringenden Internets zu zeigen. Die vier Trolley-Fälle sind so präzise voneinander abgegrenzt, dass man die Unterschiede spürt, aber auch wiederum so fein, dass die meisten Menschen nicht erklären können, was sie spüren. Es ist, wie wenn man vor einem Kunstwerk steht und weiß, dass es schön ist und doch nicht sagen kann, warum. Wie leicht hätte Hauser ein Aufbäumen des moralischen Gefühls in Empörung oder Mitleid erzielen können durch ein passendes Beispiel; doch seiner Theorie wäre das nicht dienlich gewesen.
[19]
Sagte ich: Hauser «hätte ...»? Er hat! Gleich imPrologue seines Buches führt er einen Fall einto show the working of our moral instincts.18 Ein habgieriger Onkel wird ein beträchtliches Vermögen erlangen, wenn sein junger Neffe stirbt. Also will er ihn in der Badewanne ertränken. In der ersten Version des Falles verwirklicht er sein Vorhaben. In einer zweiten Version sieht er, als er das Badezimmer betreten will, das Kind mit dem Gesicht nach unten im Wasser liegen; es ist bereits im Begriff zu ertrinken. Der Onkel schließt die Badezimmertür und lässt seinen Neffen sterben. «Würden Sie befriedigt sein, wenn eine Jury den Onkel im ersten Fall für schuldig erklärte, im zweiten Falle dagegen nicht?» fragt Hauser. Darauf ist zu antworten: Für jede zivilisierte Rechtsordnung gilt: Dass jemand mit der Absicht unterwegs ist, einen Mord zu begehen, macht ihn noch nicht zum Mörder. Und ein Mord durch die unterlassene Rettung des Neffen läge nur vor, wenn der Onkel mit dem Kind in einer Familie zusammenlebte oder es ihm zur Aufsicht anvertraut wäre; davon wurde indessen nichts gesagt. Im nordamerikanischen Recht verhält sich das auch nicht anders. Wenn jeder gegenüber jedem für jeden Schaden haftete, den er hätte abwenden können, würde das zu einer Erstarrung des sozialen Lebens führen. Man sollte aber dem unglücklichen Beispiel nicht zuviel Gewicht beimessen; es ist nur zur Einstimmung des Lesers gedacht.
[20]
Doch das muss man Hauser lassen: Sinn für Effekte hat er.PERMISSIBLE KILLING hat er über das Kapitel mit den Trolley-Fällen gesetzt. Hätte er stattdessenFORBIDDEN KIILLING geschrieben, wäre mir vielleicht manches anregende Gespräch entgangen. Dabei scheint mir diese Hälfte der Hauser’schen Doppelformel die aktuellere zu sein:Killing is wrong if it is intended as a means to some end.

3.

Die Aktualität der Lehre von der moralischen Doppelwirkung ^

[21]
Dass der Natur des Menschen eine «moralische Grammatik» innewohne, die ihn in den Stand setze, zwischenright undwrong zu unterscheiden, klingt wie eine naturrechtliche These. Und Hausers Theorie ist in der Tat naturrechtlichen Ursprungs. Sie geht auf Thomas von Aquin zurück19 : alsactio duplicis effectus ,moralische Doppelwirkung ,moral double effect . Wer Hausers Buch liest, mag freilich den Eindruck bekommen, die moralische Doppelwirkung sei erst vor wenigen Jahrzehnten in den USA entdeckt worden.20 Kein Wort zu Thomas von Aquin, kein Wort auch zu Blaise Pascal, der in seinenLettres à un Provincial diese Lehre und ihre Anwendung in den Beichtstühlen aufs Heftigste attackiert hat. Und doch hat Hauser nicht ganz Unrecht; denn in der Darstellung der Lehre (von Schriften zur Moraltheologie abgesehen) scheint es eine Lücke und einen Neuanfang zu geben: Wo hätte man vor einigen Jahrzehnten den Begriff der Doppelwirkung eher gesucht als imPhilosophischen Wörterbuch von Walter Brugger S.J. (Herder Verlag, 1967) oder im sechsbändigenHandbuch philosophischer Grundbegriffe , hrsg. von Hermann Krings, Hans-Michael Baumgartner und Christoph Wild (Kösel Verlag, 1973–74) oder in den dickleibigen Büchern von Johannes Messner, etwa derEthik , einem «Kompendium der Gesamtethik» (Tyrolia Verlag, 1955) oder demNaturrecht , (Tyrolia Verlag, 6. Auflage 1966). Aber Fehlanzeige: Gefunden hätte man die Doppelwirkung hier nicht. Mittlerweile hat sich einiges geändert: ImLexikon der Ethik , hrsg. v. Otfried Höffe, 3. Aufl. München 1986 (C.H. Beck), wird der Begriff von Maximilian Forschner kommentiert. Von Peter Knauer, einem Moraltheologen, ist ein Buch über die Doppelwirkung erschienen:Handlungsnetze. Über das Grundprinzip der Ethik (Frankfurt a.M. 2002). Und neuerdings hat der Rechtswissenschaftler Jan C. Joerden seine Kollegen mit einem Aufsatz überSpuren der duplex-effectus-Lehre im aktuellen Strafrechtsdenken überrascht.21
[22]
In der Literatur zur Lehre von der Doppelwirkung gibt eine Vielzahl von schwierigen Problemen und scharfsinnigen Auseinandersetzungen. Darauf einzugehen, ist hier nicht der Ort; es sei nur noch einmal ein Blick auf das für verfassungswidrig erklärte Luftsicherheitsgesetz geworfen. Soll man den Abschuss eines von Terroristen gekaperten Flugzeugs, um tausendfachen Mord zu verhindern, so sehen: als gezielte Vernichtung eines Gesamtobjekts aus Metall, Kunststoff – und vor allem Menschen? Oder so: Worauf es ankommt und was angestrebt wird, ist allein der Abschuss des Flugzeugs; dass dabei viele Menschen umkommen, ist nur eine Nebenfolge? Ein angesehener Moraltheologe soll zweimal seine Meinung zum Luftsicherheitsgesetz geändert haben.22
[23]
Zum Schluss seien ein paar Fälle vorgestellt, die, unwesentlich modifiziert, einem Aufsatz entnommen sind, den der amerikanische Philosoph Warren S. Quinn 1989 veröffentlicht hat.23 Er hat die Fälle geschickt ausgewählt, so dass sie die Aktualität der Lehre, vor allem für die USA, plausibel machen. Die Fälle sind paarweise angeordnet: zuerst eine Tötung, die nicht beabsichtigt, aber vorausgesehen wird, sodann, als Kontrast, eine Tötung, die als Mittel zum Zweck gewollt ist. Kurze Anmerkungen habe ich hinzugefügt.

1a) In einem Krieg wird durch einen Bombenangriff eine strategisch wichtige Brücke zerstört. Auf der Brücke befinden sich zahlreiche Zivilisten, die durch den Angriff getötet werden: eine vorausgesehene Nebenfolge der Bombardierung (Strategic Bomber Case ).

1b) Eine andere Brücke ist strategisch unwichtig, gilt aber als ein Wahrzeichen des feindlichen Landes. Auch sie wird im Krieg durch einen Bombenangriff zerstört, wobei die zahlreichen Zivilisten, die sich auf der Brücke versammelt haben, getötet werden. In diesem Falle dienen Bombardierung und Tötung dem Zweck, die Bevölkerung zu demoralisieren (Terror Bomber Case ).
[24]
Die USA sind seit Jahrzehnten in Kriege und Quasi-Kriege verwickelt. Der asymmetrische Charakter dieser Kampfhandlungen bringt es mit sich, dass viele Nichtkombattanten getötet werden. Seit dem Vietnamkrieg spielen die Begriffe dercollateral damages, desbody count und desfriendly fire eine große, in der Öffentlichkeit freilich oft mit Skepsis und manchmal mit Hohn bedachte Rolle. Auf der anderen Seite platzieren islamistische Terroristen, um die Öffentlichkeit einzuschüchtern, ihre Bomben oft so, beispielsweise in U-Bahnen, dass die Explosionen eine Vielzahl von Zivilisten, Frauen und Kindern zerreißen.

2) Eine bislang unbekannte tödliche Infektionskrankheit breitet sich aus. Ein Mittel dagegen, das aussichtsreich erscheint, ist soeben entwickelt worden; es ist aber bislang nur in begrenzter Menge verfügbar.

2a) Ein Teil der Ärzte verabreicht das Mittel, soweit sie es zur Verfügung haben, nur an solche Infizierte, bei denen sie reale Heilungschancen zu sehen glauben. Sie tun das, um so viele Menschen zu retten, wie möglich ist (Directing of Ressources Case ).

2b) Eine andere Gruppe von Ärzten verteilt das knappe Mittel in gleichem Maße an Infizierte mit guter wie mit schlechter Prognose. Sie wollen die Wirkung des Medikaments auch an hoffnungslosen Fällen beobachten, um für die Zukunft ein genaueres Verständnis seiner Wirkungsweise zu erhalten. Infolge dieser Aufteilung müssen Kranke sterben, die, wenn sie das Medikament erhalten hätte, gerettet worden wären (Guinea Pig Case ).
[25]
Heutzutage treten bisher unbekannte Infektionskrankheiten auf. Das liegt an dem Vordringen der Zivilisation in unerschlossene Gegenden Afrikas, Asiens und Amerikas; dort übergesprungene Viren werden durch den Flugverkehr rasch über die Welt verbreitet. Die Pharmaindustrie erfindet dagegen, und gegen vieles andere, immer neue Mittel, chemische und gentechnische, wie man sie sich vor Jahrzehnten gar nicht hätte vorstellen können. Die Erprobung dieser Mittel wird in der Öffentlichkeit mit Misstrauen wahrgenommen.24

3a) Bei einer Schwangeren wird Gebärmutterkrebs festgestellt. Um das Leben der Mutter zu retten, wird die Gebärmutter operativ entfernt; wodurch auch die Leibesfrucht beseitigt wird, die einige Wochen später in lebensfähigem Zustand hätte zur Welt kommen können. Dann wäre freilich der Krebs inoperabel gewesen (Hysterectomy Case ).

3b) Bei einem Geburtsvorgang stellt sich heraus, dass der Geburtskanal zu schmal ist: der Kopf des Kindes steckt fest, für einen Kaiserschnitt ist es zu spät. Um das Leben der Mutter zu retten und mit ihrer Zustimmung zertrümmert der Arzt den Schädel des Kindes (Craniotomy Case ).
[26]
Fragen der Abtreibung werden in den politischen Debatten in den USA aufs Hitzigste debattiert. Was Fälle nach Art der Craniotomy anlangt, so sind sie auch unter Anhängern der Lehre von der Doppelwirkung umstritten. Ich kann auch nicht verhehlen, dass mich der Gedanke, den Tod der Mutter in Kauf zu nehmen, um das Leben des Kindes zu retten, abstößt.

4) Außerhalb dieser Reihe erwähnt Quinn noch den Fall einer Geiselbefreiung, bei der einige Geiseln zu Tode kommen, was die Befreier in Kauf genommen haben. Auch diese Konstellation ist erschreckend aktuell. Der Kontrastfall – die Befreier schießen absichtlich eine Bresche in die Reihe der als Schutzschild vorgeschobenen Geiseln – wird von Quinn nicht eingeführt, wohl weil die moralische Wertung hier zu offensichtlich wäre.25
[27]
Warren S. Quinn knüpft, wenn auch etwas zögerlich, eine Verbindung zwischen der Lehre von der Doppelwirkung und Kants Lehre vom kategorischen Imperativ. Dass wir hier einen Bereich betreten, in dem sich Thomas von Aquin, Immanuel Kant und die Neurowissenschaften treffen, verdient hervorgehoben zu werden. Kant, in derGrundlegung zur Metaphysik der Sitten : «Der praktische Imperativ wird also folgender sein:Handele so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.» Kann man einen Menschen sinnfälliger «bloß als Mittel» gebrauchen, als wenn man ihn als sperrige Körpermasse verwendet, wie in zweien der Trolley-Fälle demonstriert? Weit furchtbarer zwar, wie nicht exemplifiziert zu werden braucht, aber sinnfälliger kaum. Gründe für das weltweite Wiederaufleben der Lehre von der Doppelwirkung liegen heutzutage auf der Hand:26 Viele Menschen haben zunehmende Angst, als Mittel zu einem Zweck verbraucht zu werden oder auf die Wagschalen von Nutzen und Schaden gelegt zu werden. Winfried Hassemer aber hat wie kaum ein anderer, als Autor wie als Bundesverfassungsrichter, darauf bestanden, dass Menschenwürde nicht abwägbar ist.



Lothar Philipps ist Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig Maximilians Universität München.

loth@jura.uni-muenchen.de

Dieser Text ist erstmals erschienen in:
Festschrift für Winfried Hassemer, Hrsg. F. Herzog/Ulfried Neumann, Heidelberg 2010, 199–210

  1. 1 Marc D. Hauser , Moral Minds, How Nature Designed Our Universal Sense of Right and Wrong. New York 2006 (Harper Collins). Dazu DER SPIEGEL mit mehreren Artikeln: Heft 51/2006: Mit Anstand auf die Welt, vonJörg Blech , sowie Heft 31/2007: Die Grammatik des Guten, vonJörg Blech undRafaela von Bredow . Hauser, Professor für Evolutionary Biology und BioAnthropology an der Havard Universität, ist zu einem Vortrag vor der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung eingeladen worden; in den Kreisen des deutschen Akademikertums ist das ein Ritterschlag. (Der selbstverständlich auch dem Jubilar dieser Festschrift längst zuteil geworden ist.).
  2. 2 S. 112 ff. Die Trolley-Fälle gehen zurück aufPhilippa Foot , «The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect», inVirtues an Vices (Oxford: Blackwell, 1978, 19–32). Wiederabgedr. inSteinbock (Ed.) Killing and Letting Die (N.J.: Prenice-Hall 1979) – übrigens ebenfalls ein hochaktuelles Thema, auf das ich hier aber nicht eingehe. Aus der nachfolgenden Diskussion:Judith Jarvis Thomson , The Trolley Problem, The Yale Law Journal 94 (1985), 1395–1415. Wieder abgedr. inStephan Darwall (Ed.) Deontology, (Blackwell, 2003).
  3. 3 moral.wjh.harvard.edu . Die Testfragen werden außer auf Englisch auch auf Arabisch, Chinesisch, Hebräisch, Indonesisch und Spanisch angeboten. Philosophische Befragungen in großem Umfang und speziell durchs Internet werden mittlerweile experimental philosophy genannt; den Namen gab es übrigens schon zu einer Zeit, als an seine heutige Verwendungsweise noch gar nicht zu denken war; Hauser selber benutzt ihn in seinem Buch nicht. Vgl. Experimental Philosophy, Ed. Joshua Knobe & Shaun Nichols, 2008 (Oxford University Press); Kwame Anthony Appiah, Experiments in Ethics, 2008 (Harvard University Press), L. Philipps,Iustitia distributiva – ein Fall für die Experimentalphilosophie , in Inseln der Vernunft, Liber Amicorum für J. Schneider, hrsg. v.I. Conrad, Köln 2008, S. 3–9 und in:Jusletter IT 29. Juni 2011 . – Da experimental philosophy eine sehr junge Bewegung ist, von jungen Wissenschaftlern getragen, sei auch auf einschlägige Blogs hingewiesen.
  4. 4 Der Ausdruckmoral grammar ist eine Anspielung auf den Linguisten Noam Chomsky und dessen Theorie, dass grammatische Grundstrukturen angeboren seien und der erworbenen Sprache vorhergingen. Und um die nun naheliegende Frage zu beantworten: Des Problems dernaturalistic fallacy ist sich Hauser bewusst, und was er dazu schreibt (S. 2f.) halte ich für vernünftig.
  5. 5 Das Verhältnis «fünf zu eins» soll wohl ein Mittelmaß gewährleisten: Bei einem Verhältnis «zwei zu eins» würden die meisten Menschen davor zurückschrecken, einen Menschen zu töten, um per Saldo einen zu retten, und bei «hundert zu eins» gäbe es für viele Menschen gar kein Überlegen mehr. Zugleich dient «fünf zu eins» der Normierung; denn es findet sich auch in anderen Gedankenexperimenten in Hausers Buch und imMoral Sense Test sowie bei anderen amerikanischen Autoren, die sich mit dieser Materie beschäftigen. Auch der lifeboat case, eine moderne Variante des Brettes des Karneades, wird hier im Verhältnis «fünf zu eins» dargestellt.Peter Unger allerdings hat in Living High and Letting Die (Oxford University Press, 1996) das Zahlenverhältnis variiert. Seine Folgerung, es handele sich bei der Einführung solcher Proportionen nicht um Ethik, sondern nur um Psychologie, missfällt mir freilich grundsätzlich; vgl. meinen Aufsatz:Fibonacci y Kepler: la justicia como armonía y media sin conmensurabilidad, EL DERECHO EN RED, Estudios en Homenaje al profesorMario G .Losano , Madrid 2006 (Ed. Dykinson), S. 863–875.
  6. 6 Die Bundeswehr sorgt dafür, das ihre Leute die Regeln der Genfer Konvention neu kennen: Nur im Kriegsfalle dürfen Zivilisten getötet werden, und nur vorausgesetzt, die Verhältnismäßigkeit ist gewahrt.
  7. 7 Der PsychologeLewis Petrinovich hat an Hand der Trolley-Situation festgestellt: «When given a choice, we should save kin over non-kin, humans over others animals, and individuals within our ethnic group over those outside.» So Hauser S. 122. Dass es dazu auch Variationen auf Grund spontaner Sympathie gibt, liegt wohl auf der Hand.
  8. 8 Der Fall findet sich beiWilhelm Gallas , Die Pflichtenkollision als Schuldausschließungsgrund, in der Festschrift für Edmund Mezger, hrsg. v.K. Engisch undR. Maurach , München 1954, S. 311–334. Gallas erwähnt aber auch ältere Fundstellen.
  9. 9 Kampfflieger, die ein zu Terrorzwecken gekapertes Flugzeug abschießen, begehen eine rechtswidrige Handlung, und zwar ein Verbrechen: einen Totschlag oder Mord. Befiehlt ein Vorgesetzter ihnen den Abschuss, so sind sie verpflichtet, sich diesem Befehl zu verweigern: § 11 Abs. 2 Soldatengesetz. (Das für nichtig erklärte «Luftsicherheitsgesetz» hätte daran nichts geändert, und ein novelliertes Luftsicherheitsgesetz würde daran nichts ändern: auch das hat das BVerfG entschieden.) Andererseits können die Kampfflieger sich auf eine übergesetzliche Schuldausschließung berufen, wenn sie das Flugzeug, um das Leben einer Vielzahl anderer Menschen zu retten, trotzdem abschießen. Die Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld kennt auch das anglo-amerikanische Strafrecht; sie ist dort aber nicht so elaboriert wie in der deutschen Doktrin.

    Nach Arthur Kaufmann ist in vergleichbaren Fällen ein «rechtsfreier Raum» anzunehmen, auch mit der Folge der Straflosigkeit. Ich halte das für richtig und interpretiere es so: Der Täter handelt rechtwidrig; sofern man freilich sein Verhalten als rechtswidrig behandelt (ihn beispielsweise bestraft), handelt man nicht rechtmäßig, sondern ebenfalls rechtswidrig. Die doppelte Negation führt nicht zur einfachen Position zurück. Formal dargestellt ist das inL. Philipps ,Sinn und Struktur der Normlogik , ARSP Bd. 52 (1966), S. 195 ff. Zu bedenken ist freilich, dass der Ausdruck «rechtsfreier Raum» vor einigen Jahren in die Sprache der Zeitungen und des Alltags eingedrungen ist, mit einer ganz anderen, polemischen Bedeutung, die sich von Guantanamo bis zu no-go areas in Großstädten erstreckt.
  10. 10 Vgl. dazuHeinrich End ,Existenzielle Handlungen im Strafrecht , München 1959. Zu der manchmal gehörten Frage, warum End späterhin nichts publiziert habe: Er ist eines tragischen Unfalltodes gestorben.
  11. 11 Neben dem «Weichenstellerfall» steht der «Bergsteigerfall» im Arsenal der deutschen Rechtswissenschaft: Zwei Bergsteiger sind in eine Gletscherspalte gestürzt und hängen an einem Seil. Ein dritter, der hinzukommt, hat nicht die Kraft, beide herauszuziehen. Also reicht er dem weiter oben Hängenden ein Messer, und der schneidet das Seil zu seinem Kameraden durch, der nun in den Abgrund fällt. Dem, der so sein Leben rettet, steht der gesetzliche Entschuldigungsgrund des Notstandes zur Seite (§ 35 StGB); aber was ist mit dem Dritten, der ihm das Messer gereicht hat? Nach herrschender Meinung kommt ihm eine übergesetzliche Entschuldigung zugute.
  12. 12 In Vorahnung dessen habe ich auch in die anderen Fallvarianten, um sie dem Brückensturz äußerlich anzugleichen, eine Brücke eingeführt, obwohl sie hier, von der besseren Aussicht für den potentiellen Weichensteller abgesehen, keine Funktion erfüllt.
  13. 13 Singer fährt fort: «And the death of one person is a lesser tragedy than the death of five, no matter how that death is brought about. So we shoulf think für ourselves, not just listen to our intuitions.»The Guardian , March 20, 2007 (im Internet erreichbar).
  14. 14 Joshua D. Greene et al.:fMRI Investigation of Emotional Engagement in Moral Judgment in SCIENCE Vol. 293, 2105–08. (fMRI bedeutetfunctional magnetic resonance imaging .).
  15. 15 Vgl.Claus Roxin , Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. München 2006, Rn 63 ff.

  16. 16 Die intentionale Beziehung zur Tötung ist bei einer Absicht intensiver als bei einer Voraussicht. Das scheint mir evident; daraus ergibt sich aber nur ein komparatives Ergebnis, das also schwächer ist als die von Hauser aufgestellte These.
  17. 17 Eine Umfrage durch das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat ergeben, dass 79 % der Befragten den Abschuss einer gekaperten Passagiermaschine ablehnten.
  18. 18 a.a.O.S. XVIII.
  19. 19 Thomas von Aquin , Summa Theologica, II – II, 64, 7.
  20. 20 a.a.O.S.S. 121 ff.
  21. 21 Festschrift für Günther Jakobs, hrsg. v.M. Pawlik undR. Zazyk, Köln 2007, S. 235–257.
  22. 22 Die Unsicherheit der Abgrenzung halte ich für kein durchschlagendes Argument gegen die Lehre von der Doppelwirkung. Unsicher ist auch die juristische Abgrenzung zwischen Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit – um einen entfernten Verwandten der Doppelwirkung zu benennen.
  23. 23 Warren S. Quinn , «Actions, Intentions, and Consequences: The Doctrine of Double Effect». In Philosophy and Public Affaires 18 (1989), S. 334–51. Wiederabgedr. in Deontology (Anm.2), S. 194–211.
  24. 24 Die Pharmaindustrie mit Versuchsreihen in Afrika spielt in vielen Thrillern eine schreckliche Rolle; erwähnt sei hier lediglichThe Constant Gardener vonJohn le Carré .
  25. 25 Nicht angeführt, vielleicht weil schon sehr bekannt und auch anerkannt, ist der Fall, dass ein Arzt einem Todkranken ein starkes Schmerzmittel gibt, um seine Schmerzen zu lindern, wissend, dass er dadurch die verbleibende Lebensspanne des Kranken verkürzt.
  26. 26 Bezeichnend für dieses Wiederaufleben scheint mir, dass mich zwei junge Juristen mit profunden Kenntnissen zur moralischen Doppelwirkung und zur Trolley-Problematik überraschten und mir mit Literaturhinweisen geholfen haben. Dass ich längst nicht alle aufgegriffen habe, werden mirLuis Greco undGeorg Jakob hoffentlich nachsehen.