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Von deontischen Quadraten – Kuben – Hyperkuben

  • Author: Lothar Philipps
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Lothar Philipps, Von deontischen Quadraten – Kuben – Hyperkuben, in: Jusletter IT 5 October 2011
(1) «Geboten dass» – (2) «geboten dass nicht (verboten)» – (3) «erlaubt dass» – (4) «erlaubt dass nicht». Wenn man die logischen Beziehungen zwischen diesen vier Operatoren durch Linien ausdrückt, erhält man ein «deontisches Viereck» oder – was ästhetisch etwas mehr hermacht – ein «deontisches Quadrat». Wenn man hinzufügt, ob «alle» oder eben nur «einige» Menschen von den Normsätzen betroffen sind, dann erhebt sich über dem Quadrat ein «deontischer Kubus». Fügt man weiter hinzu, dass es um «alle» oder aber um «einige» Handlungen geht, dann faltet sich der Kubus zu einem vierdimensionalen Hyperkubus auseinander, der sich immer noch anschaulich darstellt. Darin zeigen sich differenzierte Formen des Normwiderspruchs, die über den einfachen Gegensatz von «konträr» und «kontradiktorisch» hinausgehen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Das aristotelische Quadrat
  • 2. Das modallogische Quadrat
  • 3. Das deontische Quadrat
  • 4. Der deontische Kubus
  • 5. Der deontischer Hyperkubus
  • 6. Eine Bemerkung zum Schluss
[1]
«Was geboten ist, ist auch erlaubt.» Ein Beamter, der eine unangenehme Maßnahme durchführen soll, mag sie mit dieser Floskel vor sich und anderen rechtfertigen. «Was verboten ist, ist nicht erlaubt», könnte man mit der gleichen Evidenz sagen. Zwischen Sätzen über elementare Formen des Geboten- und Erlaubtseins bestehen offenbar logische Beziehungen. Wenn man diese durch Linien andeutet, ergibt sich eine viereckige Figur, die man in der philosophischen Tradition gern zum «Quadrat» stilisiert. Solche Quadrate sind seit langem bekannt. Was wir im Folgenden zeigen werden, geht darüber hinaus: Wenn man die normativen Sätze etwas komplexer fasst, entsteht ein Kubus und bei weiterhin zunehmender Komplexität ein vierdimensionaler Hyperkubus.

1.

Das aristotelische Quadrat ^

[2]
Das Phänomen des logischen Quadrates wurde von Aristoteles entdeckt.1 An den vier Ecken des aristotelischen Quadrates stehen die Ausdrückealle ,einige ,alle nicht (keiner) undeinige nicht. Wenn man diese Ausdrücke zu Sätzen mit dem gleichen Subjekt und dem gleichen Prädikat ergänzt und sie durch Linien verbindet, dann erhält man die logischen Beziehungen zwischen den Sätzen (Abb.1a). Zum Beispiel:
[3]
Alle Athener sind klug . Wenn das wahr ist, dann ist falsch der auf gleicher Höhe stehende «konträre» Satz:Alle Athener sindnich t klug . Wahr ist dann der darunter stehende «subalterne» Satz:Einige Athener sind klug . Ebenso ist im Verhältnis zu dem konträren Satz, dass alle Athener nicht klug sind, ist der subalterne Satz wahr, dasseinige Athenernich t klug sind. Die beiden subalternen Sätze stehen zueinander in einem «subkonträren» Verhältnis. Während die konträren Sätze, dass alle Athener klug sind und dass kein Athener klug ist, beide falsch sein können, können die subkonträren Sätze, wonach einige Athener klug sind und einige nicht, zugleich wahr sein (was hier vermutlich auch der Fall sein wird). Diagonal gegenüberliegende Sätze –Alle Athener sind ... undEinig e Athener sindnicht klug stehen im «kontradiktorischen» Verhältnis. In diesem Verhältnis ist einer der beiden Sätze wahr und der andere falsch.

2.

Das modallogische Quadrat ^

[4]
Ein typischer Beispielssatz der aristotelischen Tradition lautet:Alle Menschen sind sterblich. Dass dieser Satz empirisch wahr ist, wird kein Zufall sein, sondern weist auf ein biologisches Gesetz hin. Demgemäß kann man auch sagen:Dass Menschen sterben, ist notwendig; alle Menschen müssen sterben.
[5]
Aus den Formen der Sätze über Notwendiges und Mögliches lässt sich eine «Modallogik» bilden und ein modallogisches Quadrat. An dessen Ecken stehen die Ausdrücke«notwendig», «notwendigerweise nicht» («unmöglich»), «möglich» und «möglicherweise nicht» (Abb. 1b). Für notwendig und möglich kann man auch Ausdrücke wie «müssen » und «können » einsetzen. Die logischen Beziehungen zwischen modalen Sätzen, die sich daraus ergeben, entsprechen denen des aristotelischen Quadrates: konträr, subaltern, subkontär, kontradiktorisch.
[6]
Das Existenzrecht einer eigenen Modallogik ist allerdings unter Philosophen umstritten. Ist nicht mit dem Worte «alle» schon alles gesagt, was über Notwendigkeit zu sagen ist? Nicht unbedingt: dass beispielsweise in der kleinen Gaststätte, in der ich gerade sitze, alle Männer einen Dreitagebart haben, ist nicht notwendig und kann sich mit jedem hinzukommenden Gast ändern. In unserem Zusammenhang mag es genügen, dass modale Sätze Teil unserer Umgangssprache sind.

3.

Das deontische Quadrat ^

[7]
«Ich muss mit dem Auto unbedingt zu TÜV», sagt jemand. Muss? Kein Mensch zwingt ihn. Ersoll beim TÜV vorstellig werden. Indessen kann man die Sache auch so sehen: Will jener Autofahrer Ärger mit der Zulassungsstelle und überhaupt mit der Rechtsordnung vermeiden, so ist esnotwendig , dass er den Wagen zum TÜV bringt, insofernmuss er das in der Tat. In der Modallogik geht es um Müssen und Können und in der deontischen Logik um Sollen und Dürfen («deontisch» von griechisch deon: Pflicht). Beides ist einander ähnlich, und in der Alltagssprache wird der Unterschied oft verwischt. Und beide Arten der Logik gehen auf Leibniz zurück, der sie als eng verwandt ansah.2
[8]
Wenn modale und deontische Sätze einander zum Verwechseln ähnlich sein können und der Unterschied manchmal eine Frage der Perspektive ist, ist es dann überhaupt nötig, sie logisch auseinanderzuhalten? Gerade deswegen! In der Rechtsordnung spielen die Begriffe «Können» und «Dürfen» einander kunstvoll zu: Beispielsweise hat ein Prokurist die rechtliche Macht, sehr weitreichende Verträge für seine Firma abzuschließen; denn die Vertragspartner sollen sich auf sein Wort verlassen können. Aber inwieweit er von seiner Macht Gebrauch machendarf , ist eine andere Frage.3
[9]
An den Ecken eines deontischen Quadrates stehen diese Ausdrücke:geboten, geboten dass nicht (verboten), erlaubt underlaubt dass nicht (Abb. 1c). Die logischen Beziehungen entsprechen denen des modallogischen und des aristotelischen Quadrates. Wenn eine Handlung verboten ist, so ist es – subalternerweise – auch erlaubt, sie zu unterlassen. Dagegen ist es nicht erlaubt, die Handlung zu vollziehen. Das stünde in einem kontradiktorischen Widerspruch zum Verbot; was auch hier durch eine Diagonale angedeutet wird. Und die kontradiktorische Beziehung besagt wiederum, dass stets eine der beiden Möglichkeiten zutrifft: das Verbotenseins oder das Erlaubtsein.4 Dass eine und dieselbe Handlung zugleich geboten und verboten ist, wäre dagegen ein konträrer Gegensatz, und das heißt auch, dass möglicherweise keine der beiden Normen zutrifft. Im Subkonträren dagegen kann es sowohl erlaubt sein, eine Handlung zu vollziehen, wie sie zu unterlassen. Bei trivialen Handlungen, wie beispielsweise «einen Spaziergang machen», ist das zumeist der Fall.
[10]
Dass eine Handlungweder zu tun noch zu unterlassen erlaubt ist, ist dagegen nicht möglich. Und hier tritt ein wichtiges Phänomen hervor: Strukturen der Normlogik können intuitiv zugänglicher sein als ihre Entsprechungen in der Standardlogik – einfach deshalb, weil sie stärker in unsere Lebenswelt hereinragen. Wer gerät schon gerne in eine Situation, in der er sich stets falsch verhält, egal ob er etwas tut oder es unterlässt; das Angsterregende einer solchen Vorstellung ist schier körperlich spürbar, zumal sie wohl jeder schon erlebt hat. Solche Emotionalität gibt es beim Aristotelischen Quadrat nicht: einzusehen, dass die beiden SätzeEinige Athener sind klug undEinige Athener sind nicht klug nicht zugleich falsch sein können, ist eine rein intellektuelle Aufgabe, und der in der Logik Ungeübte muss darüber erst nachdenken.

4.

Der deontische Kubus ^

[11]
Man kann unterscheiden zwischen Normen, durch die etwas «in jedem Falle», «schlechthin», geboten, verboten oder erlaubt wird, und solchen, bei denen dies nur «manchmal» der Fall ist. Als Eigenschaften des Handelns, die in jedem Falle Geltung beanspruchen, kommen wohl nur moralische, philosophische und religiöse Maximen, Werte und Gesichtspunkte in Betracht, wie beispielsweise Kants Kategorischer Imperativ: «Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte!» (so in derKritik der praktischen Vernunft ) oder wie im kanonischen Recht die Wahrung des Beichtgeheimnisses.
[12]
Deontische Aussagen über beiderlei Normen, über solche, die etwas schlechthin, für alle Fälle verlangen oder erlauben und solche, die das nur für manche Fälle tun, lassen sich graphisch miteinander verbinden.5 So entsteht ein deontischer Kubus. Blicken wir zuvor noch einmal auf das deontische Quadrat: Links stehen die Modi für ein positives Tun und rechts die für ein Unterlassen. Und im Gefälle von oben nach unten schwächen sich auf beiden Seiten die Modi ab, vom Gebotensein zum Erlaubtsein. Alle Autoren, von denen ich weiß, konstruieren das Quadrat so, in selbstverständlicher Anlehnung an Aristoteles. Auch beim Kubus werde ich mich an diese Aufteilung halten; es kommt freilich etwas Neues hinzu: Ein dreidimensionales Gebilde kann man aus verschiedenen Perspektiven betrachten, von der einen oder der anderen Seite und auch von oben.
[13]
Den deontischen Kubus kann man ebenfalls entstehen lassen, indem man die deontischen Modi dem Verhältnis ihrer logischen Stärke folgend anordnet. Man beginnt mit dem stärksten Modus oben links, demschlechthin Gebotenen, und spaltet ihn abschwächend auf in die Modi desmanchmal Gebotenen und desschlechthin Erlaubten . Diese fließen dann – ihrerseits abgeschwächt – wieder zusammen im schwächsten Modus, dem desmanchmal Erlaubten . Auf der rechten Seite,vom schlechthin Verbotenen ausgehend, verfahre man genauso, verbinde schließlich die gleichstarken Modi der beiden Seiten, und siehe! ein deontischer Kubus, der auf einer Kante steht, ist entstanden (Abb. 2). Dass er auf geradezu organische Weise entsteht, ohne dass man ihn als Ziel im Blick hätte, deutet darauf hin, dass es sich hier nicht um eine mathematische Spielerei handelt, sondern dass manche Normen in höherdimensionalen Räumen zu Hause sind.6
[14]
Vieldimensionalität als solche ist allerdings nichts Besonderes; in der Psychologie und den Wirtschaftswissenschaften beispielsweise spielt sie eine wesentliche Rolle. Und in der Fernsehbeilage der MünchnerAbendzeitung werden Spielfilme in drei Dimensionen (mit je drei Stufen) bewertet: 1. Humor, 2. Action, 3. Spannung. Eine entsprechende Bewertung ließe sich auch durch einen Punkt in einem Kubus veranschaulichen. Aber in diesem Kubus käme, anders als in den deontischen Figuren, kein kunstvolles Geflecht von Folgerungsbeziehungen und Gegensätzen zur Ansicht.
[15]
Im deontischen Kubus stecken mehr Gegensätze als im Quadrat, und sie sind feiner abgestuft. Dem schlechthin Gebotenen stehen rechts nicht nur der starke konträre und der schwache kontradiktorische Gegensatz entgegen, sondern dazwischen auch noch zwei mittelstarke Gegensätze; man könnte sie «teilkonträr» nennen. Von der rechten Seite aus gesehen gilt natürlich das Entsprechende.
[16]
Ein anderes Verfahren liegt der Abbildung 3 zugrunde. In ein größeres Quadrat wird ein kleineres gesetzt. Aus der Perspektive von oben bilden die beiden Quadrate die Ober- und die Unterseite des werdenden Kubus. Wenn man ihre je vier Ecken miteinander verbindet, entstehen, perspektivisch verzerrt, vier weitere Quadrate und im Ganzen also ein Kubus, auf den man hinabblickt. Man kann nun in dessen acht Ecken die deontischen Modi einsetzen. Aber diesmal habe ich dafür eine andere Anordnung gewählt. In dem größeren (oberen) Quadrat stehen die Modi einesSollens schlechthin und einesDürfens schlechthin – Normmodi mit «naturrechtlichem» Anspruch, wenn man so will. Im kleineren stehen die Modi, nach denen etwasmanchmal geboten undmanchmal erlaubt ist. Man könnte sie als die Modi des «positiven Rechts» betrachten – selbst die Tötung ist manchmal erlaubt.
[17]
Sowohl das äußere wie das innere Quadrat lassen sich als Modifikationen des deontischen Quadrates interpretieren; besondere Hervorhebung verdient das innere. Die beiden Subaltern-Schlüsse gelten auch hier: als Schlüsse vom «manchmal Gebotenen» zum «manchmal Erlaubten». Den konträre und den kontradiktorischen Gegensatz gibt es zwar auf den ersten Blick nicht, auf den zweiten aber wohl, wenn auch nicht als aktuellen, sondern als potentiellen Gegensatz. Tatsächlich ist ein potentieller Normkonflikt in der Praxis wichtiger als ein rein logischer, der durch ein Versehen des Gesetzgebers eintreten kann und der durch Auslegung beseitigt werden muss. In einer Welt, die immer komplexer wird und in der die Handlungsmöglichkeiten ins Ungeheure vervielfältigt und verstärkt werden, kann der Gesetzgeber in der Tat die Übersicht verlieren, um so eher, wenn er sich dem Kreuzfeuer der Lobbys aussetzt. Oft sind Konflikte aber auch unvermeidlich von der Sache her. So kann das Verbot, das Erscheinungsbild eines alten Gerichtsgebäudes zu verändern (Denkmalsschutz) in einen Konflikt geraten mit dem rechtlichen Gebot, einen für Rollstühle geeigneten Zugang einzurichten (Barrierefreiheit für Behinderte), beispielsweise durch Anbau einer Rampe.7 Solche Konflikte verlangen nach einem einfühlenden Kompromiss von Seiten des Eigentümers und der Verwaltung.

5.

Der deontischer Hyperkubus ^

[18]
Man kann die Normen weiterhin unter dem Gesichtspunkt unterteilen, ob sie für das Verhalten gegenüber jedermann oder für das Verhalten gegenüber einigen gelten, beispielsweise im Rahmen der Familie oder eines Besonderen Gewaltverhältnisses wie Gefängnis oder Militär. Wenn man dazu die oben eingeführte Unterscheidung zwischen einer Geltung schlechthin und einer Geltung für manche Fälle beibehält, lassen sich die logischen Beziehungen als deontischen Hyperkubus interpretieren, als vierdimensionales Gebilde.
[19]
Kann man sich dergleichen überhaupt vorstellen? Eigentlich nicht, doch kann man sich einer Vorstellung ein Stück nähern, auf Grund folgender Überlegung: Die Grenzen eines Quadrates, zweidimensional, sind Linien, eindimensional. Und der dreidimensionale Kubus wird in zweidimensionaler Weise durch Quadrate begrenzt. Also darf man vermuten, dass die Grenzen des Hyperkubus Kuben sind. Sie immerhin sind der Anschauung zugänglich und das, was zwischen ihnen liegt, kann man ein wenig erahnen.8
[20]
Bei der Konstruktion des Hyperkubus folgen wir wieder den beiden beim Kubus eingeschlagenen Wegen, zunächst dem Weg der systematischen Abschwächung: Wir gehen vom stärksten Modus links aus, das ist hier das «Gebotensein für jede Handlung gegenüber jedem». Abgeschwächt teilt sich der Modus auf in das «Gebotensein für einige Handlungen gegenüber jedem» und das Gebotensein für jede «Handlung gegenüber manchen». Über weitere Modi hinweg, vor allem des Erlaubtseins, erreicht man schließlich den schwächsten Modus, das «Erlaubtsein für manche Handlungen gegenüber manchen». Auf der Seite derjenigen Normen, die sich auf ein Unterlassen richten, verfahren wir genauso, ausgehend vom «schlechthin Verbotensein bei Handlungen gegenüber jedem». Zum Schluss verbinden wir die entsprechenden Positionen der beiden Seiten. Der fertige Hyperkubus steht nun auf einer seiner Kanten.
[21]
Der andere Weg zum Hyperkubus: Man lässt ihn aus zwei Kuben entstehen, deren je acht Ecken miteinander verbunden werden (Abb. 5). In dem größeren (perspektivisch: vorderen) Kubus sind die schlechthin geltenden Normen platziert und in dem kleineren die Normen, die manchmal gelten.
[22]
Wie beide Abbildungen zeigen, umfasst der Weg der Abschwächung vom rein konträren zum kontradiktorischen Gegensatz beim Hyperkubus acht Stationen (den stärksten Modi, links oben und rechts oben, liegen acht Modi gegenüber).
[23]
Für das Recht sind vor allem die Gegensätze von erheblicher Bedeutung, die die potentiellen Konflikte zwischen generell und partiell geltenden Normen andeuten; Konflikte dieser Art haben wiederholt die deutschen Gerichte beschäftigt: Beispielsweise gilt nach dem Bundesgerichtshof das Notwehrrecht unter Ehegatten nur beschränkt.9 Konflikte kann es auch zwischen dem Verbot der Körperverletzung und Duldungspflichten im Rahmen einer militärischen Ausbildung geben.10

6.

Eine Bemerkung zum Schluss ^

[24]
Geisteswissenschaftler sollten sich von der vierten Dimension nicht abgeschreckt fühlen. In der Kunst des 20. Jahrhunderts war es für Maler ein geläufiger Gedanke, sich von der Dreidimensionalität des uns umgebenden Raumes zu lösen. Picasso malte Dora Maar so, dass sie von zwei Seiten zugleich sichtbar war – wie es in einem vierdimensionalen Raum möglich wäre. Und die mathematische Möglichkeit, einen Hyperkubus zu einem Kreuz aus Kuben auseinanderfalten zu können (wie schon einen Kubus zu einem Kreuz aus Quadraten) inspirierte Dalí zu einer Szene auf Golgatha. Der Rücken des Gekreuzigten biegt sich qualvoll über einen Kubus: «Corpus Hypercubus».



Lothar Philipps ist Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig Maximilians Universität München.

loth@jura.uni-muenchen.de

Dieser Text ist erstmals erschienen in:
Liber amicorum de José de Sousa e Brito, Hrsg. A. Silva Dias et al. Lissabon 2009, 385–394

  1. 1 Zu den Einzelheiten vgl. J.M. Bochenski, Formale Logik, 4. Aufl. Freiburg/München 1978 (Karl Alber-Verlag), S. 68 ff. (12.09)
  2. 2 José Brito, dem dieser Text gewidmet ist, hat verdienstvollerweise daran erinnert, dass die Geschichte der deontische Logik nicht einfach vom 18. Jahrhundert ins zwanzigste gesprungen ist und dass es auch im 19. Jahrhundert Untersuchungen zum deontischen Quadrat gab: J. Brito,Relire Bentham. A propos de l'édition de 'Of Laws in General' de Bentham par Hart , Archives de Philosophie du Droit, XVII, 1972, S. 451–472; darin insbesondereLa Logique de la Volonté , S. 458–462. Zur deontischen Logik – Geschichte und zweidimensionale Ergänzungen – siehe vor allem die sorgfältigen Ausführungen von Jan C. Joerden,Logik im Recht , Berlin Heidelberg 2005 (Springer Verlag).
  3. 3 In dramatischer Weise hat sich in jüngster Zeit die Kluft zwischen Können und Dürfen im Verhältnis zwischen dem Papst und der Piusbruderschaft aufgetan: Diese Priester dürfen zwar keine Sakramente austeilen, aber sie haben die religiöse Gestaltungsmacht dazu, sie können es, und das kann man ihnen nicht mehr entziehen.
  4. 4 Es sei angemerkt, dass das hinter dieser Darstellung stehende Konzept, wonach Verboten- und Erlaubtsein auf derselben logischen Ebene liegen, nicht phänomengerecht ist. Aber es ist widerspruchsfrei und entspricht der herrschenden Lehre, jedenfalls, soweit diese sich mit Logik beschäftigt; das mag in unserem Zusammenhang genügen. Dem unbefangenen Weltverständnis besser gerecht wird die Interpretation, dass eine Handlung «grundsätzlich» verboten ist (beispielsweise eine Tötung) und «ausnahmsweise» (durch Notwehr) erlaubt; so L. Philipps,Rechtliche Regelung und formale Logik , Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 50 (1964), S. 317 ff.; ders.,Arthur Kaufmann – Freund und Lehrer der Toleranz , Kansai University Review of Law and Politics, No. 24 (2003), S. 27–35; ders.Dialogische Logik und juristische Beweislastverteilung , Meiji Gakuin Review of Law, No. 19 (2003), S. 3–16. Im Sinne der h.L. zuletzt wieder Heinz Koriath,Die Schuldtheorie und der Erlaubnistatbestandsirrtum, Festschrift für Egon Müller, Hrsg. H. Jung, B. Luxenburger, E. Wahle, Baden-Baden 2008 (Nomos), S. 357–374, und Keiichi Yamanaka,Kritische Betrachtungen über die Lehre vom rechtsfreien Raum , in:Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft , 2008 (Nomos), S. 141–158.
  5. 5 Die Unterscheidung von «manchmal» und «in jedem Falle» gibt Anlass zu dem Hinweis, dass Sätze der deontischen Logik nicht unmittelbar Normen ausdrücken, sondern Aussagen über Normen. Dies ist eine Norm: «Beteilige dich manchmal an der Unterhaltung!» Und dies ist eine deontische Aussage über eine Norm: «Manchmal (d.h. wenn bestimmte Umstände vorliegen) ist es nach deutschem Recht verboten, einen Menschen zu fotografieren» (u.a. in § 201StGB ).
  6. 6 Wie manche Naturgesetze sich einfacher und eleganter im Rahmen höherdimensionaler Räume formulieren lassen. Das hängt damit zusammen, dass hier mehr Symmetrien möglich sind, was sich auch schon in unseren Abbildungen andeutet: In einem Kubus stecken mehr Symmetrien als in einem Quadrat. Zwei renommierte Physiker haben dazu popularwissenschaftliche Bücher geschrieben: Michio Kaku,Im Hyperraum, Eine Reise durch Zeittunnel und Paralleluniversen (Rowohlt-Taschenbuch 1998, engl. Oxford University Press 1994); Lisa Randall,Verborgene Universen, Eine Reise durch den extradimensionalen Raum (Fischer-Taschenbuch2008 , engl. Eco 2005). In der gegenwärtigen Physik spielt die Annahme vieldimensionaler Räume eine wesentliche Rolle; vielleicht ist unser «Universum» nur ein abgelegener Bezirk in einem zehn- oder elfdimensionalen Raum.
  7. 7 Eine Rampe für Rollstuhlfahrer kann sehr viel Platz beanspruchen, zumal da ihre Steigung höchstens 6 % betragen darf; für eine Höhendifferenz von 1,20 Metern braucht man also eine Strecke von zwanzig Metern. Manchmal hilft ein Treppenlift oder ein Aufzug weiter. Um die Optionen wird zuweilen jahrelang gefeilscht.
  8. 8 Der diesen Überlegungen zugrunde liegende «topologische» Dimensionsbegriff stammt von den Mathematikern Poincaré und Brower; er deckt sich nur teilweise mit dem euklidischen Dimensionsbegriff, bei dem ein dreidimensionales Gebilde durch Länge, Breite und Höhe bestimmt wird.
  9. 9 NJW 69, 802. Näheres im Strafrechtskommentar Schönke-Schröder RN 53 zu § 32.
  10. 10 Z.B. in einer Ausbildungseinheit «Geiselnahme/Geiselhaft». Vgl. das Urteil LG Münster 8 KLs 81 JS 1751/07.