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Vor über einem halben Jahrhundert, «in aufgewühlten Zeiten», erschien Erich Fechners «Rechtsphilosophie», die heute so lesenswert ist wie damals.1 Fechner war vor allem von der «Fragwürdigkeit des Rechts» beunruhigt, der «quälenden Ungewissheit der Problemlösungen bei vielen unausweichlichen Entscheidungen». Bei dem Versuch, die Fragwürdigkeit des Rechts zu veranschaulichen, habe ihm folgende Legende stets «willkommene Dienste» geleistet:2
Der älteste von drei Brüdern, ein Schmied, hat dreißig, der zweitälteste, ein Lastträger, drei Ziegen. Der jüngste besitzt nichts. Er soll Hirte werden. Dazu geben ihm der Schmied fünf, der Lastträger eine Ziege aus ihren Ställen. Der Schmied besitzt nun 25, der Lastträger 2, der Hirte 6 Ziegen. Nach einigen Jahren hat sich der Bestand beim ältesten auf 50, bei mittleren auf 10 und beim jüngsten, der sich dem Geschäft von Berufs wegen widmet, auf 132 vermehrt. Da stirbt der Jüngste und die beiden älteren geraten in Streit über die Erbteilung, die in jenem Lande, so will es die Legende, gesetzlich nicht geregelt war.
Die beiden Streitenden erklären übereinstimmend die Teilung je zur Hälfte für ungerecht. Der Schmied beansprucht 110 Ziegen und will dem Lastträger 22 überlassen, das entspräche dem Verhältnis dessen, was sie dem jüngeren Bruder gegeben hatten (5 zu 1 = 110 zu 22).
Der Lastträger verlangt demgegenüber Berücksichtigung des Opfers bei der Hingabe. Der Ältere habe nur ein Sechstel seines Vermögens (5 von 30), er aber ein Drittel (1 von 3) hingegeben, also habe er doppelt soviel geopfert und deshalb Anspruch auf zwei Drittel der Erbschaft. Er verlangt 88 Ziegen und will dem Bruder 44 überlassen.
Die beiden Streitenden erklären übereinstimmend die Teilung je zur Hälfte für ungerecht. Der Schmied beansprucht 110 Ziegen und will dem Lastträger 22 überlassen, das entspräche dem Verhältnis dessen, was sie dem jüngeren Bruder gegeben hatten (5 zu 1 = 110 zu 22).
Der Lastträger verlangt demgegenüber Berücksichtigung des Opfers bei der Hingabe. Der Ältere habe nur ein Sechstel seines Vermögens (5 von 30), er aber ein Drittel (1 von 3) hingegeben, also habe er doppelt soviel geopfert und deshalb Anspruch auf zwei Drittel der Erbschaft. Er verlangt 88 Ziegen und will dem Bruder 44 überlassen.
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Fechner bemerkt dazu: «Der kleine Fall ist nicht so konstruiert, wie es den Anschein hat. Die Vieldeutigkeit der meisten Rechtsfragen spiegelt sich in zahllosen Kontroversen, in denen zu jedem Streitfall mindestens zwei einander widersprechende Lösungen angeboten werden.»
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Juristische Kontroversen lassen sich häufig auf die Gesichtspunkte konkurrierender Prinzipien bringen; so auch hier. Im Spiel ist einmal das «kapitalistische» Prinzip, das Fechner so formuliert: «Geld heckt Geld und Ziegen hecken Ziegen; sie gebühren dem, der das Kapital gab.» Dem steht entgegen, was als das Prinzip des «Opfers» angedeutet ist: Wer das größere Opfer gebracht hat, dem gebührt der größere Anteil.
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Juristen neigen dazu, die Anwendung konkurrierender Rechtsprinzipien in ein Verhältnis des Entweder-Oder zu bringen: sie glauben, sich für das eine und gegen das andere entscheiden zu müssen. Der Richter in der Legende sowie später Erich Fechner und Gunther Arzt, sie alle gehen stillschweigend davon aus, dass man nur eines der Prinzipien anwenden könne. Dass sie dann keinen Grund finden, sich zwischen den Prinzipien zu entscheiden, darauf beruht ihre Ratlosigkeit.
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Immerhin gibt es in der Rechtswissenschaft auch Versuche, antagonistische Prinzipien zu vereinigen («Vereinigungstheorien»). Gerade in dem von Fechner und anderen als unlösbar empfundenen Fall bietet sich eine solche Vereinigung an. Die wohl einfachste Methode der Vereinigung ist diese: Man zerlegt die zur Verteilung stehende Menge in so viele Teile, wie Prinzipien im Spiel sind, wendet auf jeden der Teile eines der Prinzipien an und fügt die Ergebnisse wieder zusammen. In unserem Falle geht es um 132 Ziegen und um zwei Prinzipien. Also denke man sich die Menge der 132 Ziegen halbiert. 66 Tiere im Verhältnis 5 zu 1 aufgeteilt (nach dem Kapitalprinzip), ergibt ein Verhältnis von 55 zu 11. Die zweite Teilmenge von 66 Ziegen ist (nach dem Opferprinzip) im Verhältnis 2 zu 1 zu teilen, das ergibt 44 zu 22.
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Beides zusammengefügt ergibt:
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Das scheint eine vernünftige Aufteilung zu sein; damit sollten sich die streitenden Brüder abfinden. Werden sie es aber tun? Jedenfalls eher als vordem. Erbittert streitenden Parteien geht es häufig «ums Prinzip», um die eigene Vorstellung von Gerechtigkeit. Hier kann jeder sein Prinzip anerkannt sehen, wenn auch nur auf einem begrenzten Areal und vorausgesetzt, er erkennt auch das Prinzip des anderen an.3
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Allerdings kann man nicht erwarten, dass die Rechnung stets so glatt aufgeht wie diesmal. Selbst bei der Gleichverteilung unter zwei Parteien bleibt, wenn die Zahl der zu verteilenden Objekte ungrade ist, ein Objekt übrig. Was macht man mit ihm? Schon in biblischen Zeiten ließ man in vergleichbaren Fällen das Los entscheiden; so auch noch heute nach dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs (§§ 659, 752BGB , analog im Erbrecht: §§ 2065, 2151 BGB).
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Übrigens hatte jener Richter noch eine andere Lösungsidee erwogen, die aber unplausibel ist und hier nur nachgetragen sei:
Der Richter versucht es mit der Wiederherstellung des status quo und will die beiden Streitenden zunächst so stellen, wie sie stehen würden, wenn sie damals nichts hergegeben hätten. Der Bestand des Älteren habe sich verdoppelt (von 25 auf 50), er soll also für die hingegebenen 5 vorab 10 erhalten. Der Bestand des Mittleren habe sich verfünffacht (von 2 auf 10), demgemäß soll er vorab für die eine hingegebene 5 bekommen.
Dann aber weiß er nicht, was er mit den restlichen 117 Ziegen machen soll ... Im Übrigen tauchen jetzt alle Streitfragen von neuem auf.
Dann aber weiß er nicht, was er mit den restlichen 117 Ziegen machen soll ... Im Übrigen tauchen jetzt alle Streitfragen von neuem auf.
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Die Zahlen, die dem Richter vorliegen, hätten ihn jedoch stutzig machen sollen. Tiere, die ihrem natürlichen Drang folgen können, vermehren sich in zunehmend steiler werdender Kurve.4 Wenn bei einem «Anfangskapital» von 2 Ziegen 10 Ziegen herausgekommen sind, hätte man bei einem Kapital von 25 Ziegen einen sehr viel stärkeren Zuwachs zu erwarten gehabt als eine bloße Verdopplung. Warum in den Ställen des älteren Bruder nur 50 Ziegen stehen, wissen wir nicht, und auch der Richter wird es nicht genau herausfinden können. Es ist jedenfalls kein Maßstab für gutes oder schlechtes Wirtschaften. Der Schmied kann Tiere verkauft und für den Erlös Arbeitsgeräte angeschafft oder Gesellen angeheuert haben. Vielleicht hat er auch manches Zicklein geschlachtet, um bei einem prächtigen Abendessen um Kunden zu werben. «Geld heckt Geld und Ziegen hecken Ziegen», das ist zwar richtig, aber Geld pflanzt sich nicht so gradlinig fort wie Ziegen.
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Zu der Legende passt ein pessimistischer Schluss:
Nicht ungewöhnlich ist auch die Entscheidung des Falles in der Legende. Der Schmied hat gute Beziehungen zum König und aus Kriegslieferungen schon mehrfach gestundete Forderungen gegen die königliche Schatzkammer. Er wendet sich an den König, der den Fall an sich zieht und die gesamte Herde dem Schmied zuspricht, mit der Begründung, der Schmied habe bessere Stallungen als der Lastträger und biete so die Gewähr für bessere Milch und besseres Fleisch; allein daran sei die Allgemeinheit interessiert. Er sei auch der bessere Steuerzahler und also sei aus dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls wie geschehen zu erkennen .
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Wäre die Geschichte anders ausgegangen, wenn der Richter die Methode der Prinzipienvereinigung gekannt hätte? Vielleicht nicht, vielleicht aber doch. Einem ratlosen Richter, der sich in einer tragischen Verstrickung gefangen glaubt, lässt sich ein Rechtsfall leichter entziehen als einem Richter, der weiß, wie das Netz der möglichen Entscheidungen geknüpft wird, und der es überschaut.
Lothar Philipps ist Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig Maximilians Universität München.
loth@jura.uni-muenchen.de
Dieser Text ist erstmals erschienen in:
Auf dem Weg zur Gerechtigkeit. Gedenkschrift für Ilmar Tammelo, Hrsg. Raimund Jakob et al. Münster 2009, 87–90
Lothar Philipps ist Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig Maximilians Universität München.
loth@jura.uni-muenchen.de
Dieser Text ist erstmals erschienen in:
Auf dem Weg zur Gerechtigkeit. Gedenkschrift für Ilmar Tammelo, Hrsg. Raimund Jakob et al. Münster 2009, 87–90
- 1 Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts, J.C.B.Mohr, Tübingen 1956. Das Buch ist heute, via Goggle, auch übers Internet zugänglich.
- 2 A.a.O.S. 11 f. Fechner bezieht sich auf Emil Rüster, «Gerechtigkeit: eine Legende», in «Atlantis», 1944, S. 87 f., einer Zeitschrift, die gleichzeitig in Zürich und in Berlin erschien. Später hat Gunther Arzt Fechners Version wieder aufgegriffen: Einführung in die Rechtswissenschaft, Helbing und Lichtenhahn, Basel 1987; 2. Aufl. Luchterhand Verlag, Neuwied u. Berlin 1996, S. 22 f.
- 3 Man kann die Prinzipien unterschiedlich gewichten. Die Gewichte müssen dabei so bestimmt werden, dass sie sich zu 1 ergänzen. Hält man ein Prinzip für doppelt so gewichtig wie das andere, so multipliziere man sein Ergebnis mit 2/3 und das Ergebnis des anderen mit 1/3. Auf Grund langjähriger Erfahrung mit der Bewertung juristischer Examensarbeiten rate ich hier aber zu äußerster Vorsicht. Es mag so einleuchtend scheinen, dass ein Prinzip doppelt so gewichtig sei wie das andere. Doch mit Prämissen ist es wie mit Eiern: Man kann ihnen nur begrenzt ansehen, was herausschlüpfen wird.
- 4 Deren Verlauf schon im Mittelalter der Mathematiker Fibonacci bestimmt hat.