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Das Netz des Gesetzgebers

Eine aufgelockerte Verknüpfung von Tatbestandsmerkmalen, um typische Fälle zu erfassen und Gesetzesumgehungen zu verhindern

  • Author: Lothar Philipps
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Lothar Philipps, Das Netz des Gesetzgebers, in: Jusletter IT 5 October 2011
Die Großenkel des Herrn v. Z, dessen Bild in der Schlossgalerie hängt, haben zwar nicht alle Gesichtszüge ihres Vorfahren geerbt, aber jedem von ihnen sieht man sofort an, dass er zur Familie gehört. Die einen haben zwar nicht die Knubbelnase des Urgroßvaters, doch sein langes spitzes Kinn sowie die hohe und breite Stirn, welche wiederum anderen fehlt, deren Stirn eher fliehend ist, die aber die Hamsterbacken und manchmal auch die verschmitzten Äuglein geerbt haben. Für die Familienähnlichkeit reicht das. Es war Ludwig Wittgenstein, der erkannt hat, dass auch viele Begriffe nicht durch eine Menge gleicher Merkmale bestimmt sind, sondern durch «Familienähnlichkeit» unter den Merkmalen. Kann der Gesetzgeber Wittgensteins Entdeckung auf Tatbestände anwenden? Gewiss! Es braucht ja nicht immer eine Menge von Tatbestandsmerkmalen zu sein, die sämtlich erfüllt sein müssen, man kann auch festlegen, dass eine bestimmte Mindestanzahl von aufgelisteten Merkmalen erfüllt sein muss. Die Merkmale sollten sich freilich im Rahmen eines Typus halten.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Zwischen Selbständigkeit und Unselbständigkeit – ein Balanceakt
  • 2. Soll der Gesetzgeber die Rechtsfolge an mehrere Symptome insgesamt knüpfen (Und-Verknüpfung) oder an einzelne Symptome (Oder-Verknüpfung)? Eine dazwischen liegende Quantifizierung
  • 3. In der mittleren Höhe zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen: der Typus
[1]

1.

Zwischen Selbständigkeit und Unselbständigkeit – ein Balanceakt ^

[2]
Wenn man heutzutage durch die Einkaufsstraßen von Rom oder Paris, Tokyo oder Taipei schlendert, sieht man an den Geschäften dieselben Namen wie in München oder Berlin: Namen wie Benetton, Lacoste oder Douglas. Und die Geschäfte haben nicht nur dieselben Namen, sondern auch die gleiche Ausstattung, oft bis hin zur Kleidung des Personals. Ist man vom Einkaufen erschöpft, kann man sich, in welcher Stadt auch immer, bei McDonald‘s oder Burger King stärken und ausruhen – ganz wie zu Hause, wo immer dies sein mag. Das gibt vielen Menschen ein Gefühl der Sicherheit und Verlässlichkeit, manchen sogar des Glücks ( Andy Warhol : «Das Schönste an Beijing ist McDonalds!»). Einzelne freilich mögen darüber schwermütig werden.
[3]
Der Tourist wird meinen, dass er überall auf dasselbe Unternehmen trifft, das mit den reichgeschmückten Armen seiner Filialen die Welt umgreift. Ganz so ist es aber nicht. Der jeweilige Geschäftsinhaber ist kein Filialleiter, sondern ein Franchisenehmer. Er ist zwar an weitgehende Vorgaben seines Franchisors gebunden, was die Ausgestaltung des Geschäfts und das Warenangebot anlangt; die Gewinnchancen und Verlustrisiken trägt er jedoch selber; anders als ein Filialleiter bekommt er kein Gehalt. Insofern ist er selbständig, ein Vertragspartner des Franchisegebers.
[4]
Bezeichnend für seine relative Selbständigkeit ist ein Rechtsfall: Benetton hatte mit Plakaten geworben, welche Hemden von Opfern des Kosovo-Kriegs zeigten: blutgetränkt, von Gewehrkugeln und Granatsplittern durchlöchert. Diese Werbung hatte zwar Aufsehen erregt, aber das Publikum abgestoßen statt angezogen: die Verkaufszahlen für Benetton-Produkte waren drastisch zurückgegangen. Eine Gruppe von deutschen Franchisenehmern hat daraufhin gegen den Franchisor Benetton auf Schadensersatz geklagt, und zwar mit Erfolg: der Bundesgerichtshof hat ihnen recht gegeben.1
[5]
Nie hat man davon gehört, dass Filialleiter, welche als unselbständige Angestellte zwar ein Gehalt, aber auch noch eine von der Höhe vom Umsatzes abhängige Provision erhalten, aus einem vergleichbaren Grunde gegen ihre Mutterfirma geklagt hätten.
[6]
Der Unterschied zwischen Selbständigkeit und Unselbständigkeit ist hier, wie in vielen anderen Konstellationen, von erheblicher Bedeutung, und zwar vor allem sozialrechtlich, arbeitsrechtlich und steuerrechtlich. Die Regelungen sind kompliziert; ich erwähne nur einige Punkte.2

  1. Sozialrecht: In Deutschland muss der Arbeitgeber für einen Angestellten Beiträge an die Sozialversicherung abführen, auch vom Gehalt des Angestellten, das diesem insoweit also nicht ausbezahlt wird. Soweit man es dagegen mit selbständigen Vertragspartnern statt mit Angestellten zu tun hat, entfallen die Beitragspflichten.
  2. Arbeitsrecht: Einem Angestellten kann nicht ohne weiteres gekündigt werden: der Arbeitgeber wird durch ein ausgefeiltes System des Kündigungsschutzes eingeengt. Gegenüber einem selbständigen Vertragspartner ist er jedoch frei, nur an die allgemeinen Regeln des Bürgerlichen Rechts gebunden.
  3. Steuerrecht: Der Selbständige ist bei der Abfassung seiner Steuererklärung flexibler als der Angestellte. Wenn sich der Franchisenehmer beispielsweise ein Auto kauft, so lässt sich dieses zumeist als Geschäftswagen betrachten; er kann dann die Mehrwertsteuer von der zu zahlenden Umsatzsteuer abziehen. Der angestellte Filialleiter kann das nicht; für ihn ist das eigene Auto ein Privatwagen.
[7]
Wie der Vergleich von Franchisenehmer und Filialleiter zeigt, scheint die Grenze zwischen selbständig und unselbständig haarfein zu sein. «Haarfein» ist freilich die falsche Metapher: Passender ist die Vorstellung, dass die beiden Begriffe gar nicht voneinander abgegrenzt sind, sondern fugenlos ineinander übergehen. Wenn der Richter sich gleichwohl zwischen ihnen entscheiden muss, sollte er nicht nach einer Grenze suchen, sondern prüfen, wo in dem zur Entscheidung stehenden Sachverhalt, der sich über Teilbereiche zweier Begriffe erstreckt, der Schwerpunkt liegt. («Schwerpunkt», «Mittelpunkt», «Lebensmittelpunkt» – das sind seit langem Leitbegriffe in vielen Sparten der Jurisprudenz. Von der Fuzzy Logic ist der Gedanke des begrifflichen Schwerpunkts formal ausgearbeitet worden.3)
[8]
Wo sich in einem sozialen Sachverhalt der Schwerpunkt placiert, hängt auch vom Zeitgeist ab. Zurzeit werden Konstruktionen der Selbständigkeit in der Arbeitswelt bevorzugt. Die Managementwissenschaft empfiehlt flache Hierachien und kleinere, selbständige Arbeitseinheiten («Die fraktale Fabrik».4), sowie ein Outsourcing von Arbeitsabläufen, die vordem wie selbstverständlich in die Betriebe eingegliedert waren. Und was man nicht gestalten kann oder will, versucht man wenigstens zu fingieren: den Status des selbständigen Vertragspartners statt den des unselbständigen Angestellten. Dafür gibt es Gründe: Ein mächtiger Konkurrenzdruck und permanente Arbeitslosigkeit veranlassen die eine Seite, alles zu versuchen, was ihre Kosten senkt, und die andere Seite, sich darauf einzulassen, – ganz abgesehen von der Versuchung, die darin liegt, sich «selbständig» zu nennen.
[9]
Im Falle einer Krise freilich bleiben die Folgen der juristischen Konstruktion nicht auf den scheinbar Selbständigen beschränkt. Falls jemand ernsthaft erkrankt, dann muss für die Kosten einer teuren Operation die Sozialhilfe (und das heißt: der Steuerzahler) aufkommen, weil der Scheinselbständige nichts in die Sozialversicherung eingezahlt hat, also die eigene Vorsorge vernachlässigt hat. Ebenso hat er im Falle einer Arbeitslosigkeit Anspruch auf Sozialhilfe, obwohl er keine Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat.

2.

Soll der Gesetzgeber die Rechtsfolge an mehrere Symptome insgesamt knüpfen (Und-Verknüpfung) oder an einzelne Symptome (Oder-Verknüpfung)? Eine dazwischen liegende Quantifizierung ^

[10]
Der Gesetzgeber hat versucht, die Tendenz zum freien Unternehmertum dort einzudämmen, wo sich die Welle der Selbständigkeit im Schaum der Scheinselbständigkeit bricht.
[11]
Ende 1998 wurde ein «Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten» erlassen. Auf heftige Kritik hin wurde dies Gesetz kaum ein Jahr später ersetzt durch das «Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit», das zudem rückwirkend ab Anfang 1999 in Kraft gesetzt wurde, so dass sein Vorgänger praktisch bedeutungslos blieb. Der Unterschied in der Namensgebung zeigt, dass der Gesetzgeber, was den Zeitgeist anlangt, in der kurzen Zwischenzeit dazugelernt hat.
[12]
Die «Korrekturen» – um aus der Bezeichnung des ersten der beiden Gesetze zu zitieren – sind ihrem Inhalt nach nicht revolutionär, ungeachtet vieler Proteste dagegen. Die gesetzgeberische Besonderheit, die dabei verwandt wurde, scheint mir jedoch neu und bedeutsam zu sein. Ich habe Juristen aus verschiedenen Ländern gefragt, ob dergleichen bei ihnen vorkomme: sie haben das sämtlich verneint. Doch bin ich mir nicht wirklich sicher, ob sie recht haben und ob manch ein deutscher Jurist meine Frage nicht ebenfalls verneint hätte: Das Neue ist oft unauffällig.5
[13]
Um zunächst die Ausgangslage anzudeuten: Der Zwang, zwischen Begriffen zu unterscheiden, die ineinander verfließen, quält die Jurisprudenz von jeher. Die Rechtsprechung behilft sich meist so, dass sie «Indikatoren» folgt: eingespielten Merkmalen, die auf das Erfülltsein des einen oder aber des anderen Begriffs hinweisen. In Grenzfällen stößt man sowohl auf Wegweiser, die in die eine, wie auch auf solche, die in die anderen Richtung zeigen; es wird oft ratsam sein, denen zu folgen, die in der Überzahl sind. So verfährt man herkömmlicherweise auch im Grenzbereich zwischen Selbständigkeit und Unselbständigkeit («Scheinselbständigkeit»).
[14]
Neu ist nunmehr der Versuch, in das System der Indikatoren eine numerische Bestimmung hineinzubringen. Für das «Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit» (1999) hat der Gesetzgeber fünf Indikatoren ausgewählt und ihnen einen besonderen Rang verliehen. In § 7 SGB heißt es: « wenn mindestens drei der ... folgenden fünf Merkmale vorliegen» , so « wird vermutet, dass ... [eine gewerbsmäßig tätige Person] beschäftigt ist» – sie also nicht selbständig ist, nicht «unternehmerisch handelt» . (In der vorhergehenden Version genügten zwei von vier Merkmalen, die ich hier nicht mehr anführe, wie ich auch nicht auf andere Feinheiten der Gesetze eingehe.6)
[15]
Dies sind die fünf Merkmale, von denen mindestens drei erfüllt sein müssen:

  1. Die Person beschäftigt im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit regelmäßig keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer, dessen Arbeitsentgelt aus diesem Beschäftigungsverhältnis regelmäßig im Monat 325 Euro [ursprünglich 630 Deutsche Mark] übersteigt;
  2. sie ist auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Arbeitgeber tätig;
  3. ihr Auftraggeber oder ein vergleichbarer Arbeitgeber lässt entsprechende Tätigkeiten regelmäßig durch von ihm beschäftigte Arbeitnehmer verrichten;
  4. ihre Tätigkeit lässt typische Merkmale unternehmerischen Handelns nicht erkennen;
  5. ihre Tätigkeit entspricht dem äußeren Erscheinungsbild nach der Tätigkeit, die sie für denselben Auftraggeber zuvor aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt hatte.
[16]
Etwas kürzer gefasst: Die unselbständige Person beschäftigt ihrerseits in der Regel keinen Arbeitnehmer, von unbedeutenden Beschäftigungsverhältnissen mit geringfügigem Entgelt (325 Euro) abgesehen (1). Sie ist im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig. Dieser lässt solche Tätigkeiten regelmäßig durch eigene Arbeitnehmer verrichten. Das war (vielleicht) bei der in Frage stehenden Person auch schon der Fall. (2, 3, 5). Ihrer Tätigkeit fehlen typische Merkmale unternehmerischen Handelns (4).
[17]
Die Methode wird den einen oder anderen an etwas erinnern: diejenigen nämlich, die gelegentlich, etwa im Wartezimmer ihres Arztes, in einer der zahlreichen Zeitschriften für Hausfrauen blättern. «Leide ich unter chronischer Bronchitis?» «Bin ich ein schlechter Ehepartner?» Solche Schicksalsfragen werden von der Zeitschrift in eine Liste von Fragen nach Symptomen aufgelöst, und anschließend heisst es, ebenfalls eher vermutend als feststellend ausgedrückt: «Wenn Sie mehr als ... Fragen mit ja beantwortet haben, sollten Sie anfangen, sich ernsthafte Sorgen zu machen.»
[18]
In der Gesetzgebung allerdings scheint das Verfahren neu zu sein. Herkömmlicherweise sind die Merkmale in den Gesetzen durch ein Und oder durch ein Oder verknüpft. Würde man aber die fünf Merkmale des § 7 Abs. 4 durch ein Und verbinden – d.h. ihr Vorliegen insgesamt fordern –, so würde man sehr viel verlangen, weit mehr als für eine vernünftige Umschreibung unselbständiger Beschäftigung nötig ist. Hürden, die so hoch und zugleich so schmal sind, fordern geradezu zur Umgehung heraus.
[19]
Wollte man sich andererseits mit jedem einzelnen der Merkmale in der Liste begnügen – durch Oder -Verknüpfungen könnte man das zum Ausdruck bringen –, so wäre die Vermutung der Unselbständigkeit vorschnell zur Hand, zumal wenn der Gesetzgeber – wie in der Bezeichnung des Gesetzes angekündigt – selbständige Existenzen fördern will.
[20]
Der Gesetzgeber sollte also einen Kompromiss wählen, und das hat er auch getan.7Am besten verdeutlicht man sich das, indem man die Merkmale, statt sie durch Und oder Oder einzeln zu verbinden, durch einen Quantor zusammenfasst.

  1. «Wenn A  undundundund E vorliegen, dann ...» Statt dessen kann man auch sagen: «Wenn alle dieser fünf Merkmale vorliegen: A, B, C, D, E, dann ...»
  2. «Wenn A  oderoderoder D oder E vorliegen, dann ...» Das kann man auch so ausdrücken: « Wenn mindestens eines dieser fünf Merkmale vorliegt: A, B, C, D, E, dann ...»
[21]
Der Allquantor und der Einsquantor sind die beiden klassischen Quantoren der Logik. Man kann jedoch den Begriff des Quantors erweitern und Quantoren bilden, die zwischen den beiden Klassikern stehen und von beiden etwas an sich haben. Eben dieses hat der Gesetzgeber in unserem Falle getan. In § 7 SGB hat er den Quantor in die Mitte gestellt: «Mindestens drei der folgenden fünf Merkmale ...» Der Gesetzgeber hätte ihn auch in die Nähe des Einsquantors rücken können («Mindestens zwei von fünf ...») oder zur anderen Seite hin in die Nähe des Allquantors («Mindestens vier von fünf ...»).
[22]
Kann man auch Sätze mit Quantoren der erweiterten Art zu Sätzen umformen, die stattdessen mit den Mitteln des Und und Oder verknüpft sind? Dann wäre der gesetzgeberische Einfall wenig bedeutsam. Die Umformung ist in der Tat möglich, aber nicht praktikabel. Die Sätze würden viel zu umständlich. Nehmen wir wieder als Beispiel den Quantor, der sich in § 7 SGB findet: «Mindestens drei der fünf Merkmale: A, B, C, D, E».
[23]
Mit Und - und Oder -Verknüpfungen ausgedrückt, ergibt sich daraus eine Liste von Dreierketten, die in sich mit Und verknüpft sind und unter sich mit Oder . Zur leichteren Lesbarkeit habe ich die Satzform optisch gegliedert:

A und B und C, oder A und B und D, oder A und B und E, oder
A und C und D, oder A und C und E, oder
A und D und E, oder

B und C und D, oder B und C und E, oder
B und D und E, oder

C und D und E
[24]
Wer möchte dergleichen in einem Gesetz antreffen? Zwar ließe sich der Ausdruck durch Klammerungen verkürzen; dann aber ergibt sich ein Verhau von Klammern, vor dem man auch nicht gerne stehen möchte:

A und (((B und ((C oder D oder E)) oder ((C und (D oder E)), oder D und E))), oder

B und C und ((C und (D oder E)), oder D und E)), oder

C und D und E
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Und wenn der Gesetzgeber sich eines Tages dazu entschlösse, die Liste der wesentlichen Merkmale zu verlängern? Die schlichte Grundstruktur «mindestens k aus n» bliebe davon unberührt; was zu ändern ist, ließe sich mit wenigen Federstrichen ändern.8Um aber mit Hilfe der beiden Verknüpfungsformen Und und Oder das Gesetz umzuformulieren, dazu bedürfte es eines erheblichen Aufwandes.
[26]
Allerdings begründet die Leichtigkeit des Formulierens auch eine Gefahr: der Gesetzgeber könnte das Gefühl dafür verlieren, wieviel er von den Bürgern verlangt. Es ist deshalb wichtig, dass er sich immer wieder die Frage vor Augen hält: Wieviel unterschiedliche Möglichkeiten der Tatbestandserfüllung verbergen sich in der sprachlichen Gestalt, dass «k der folgenden n Merkmale vorliegen ...»?
[27]
Um mit einer der einfachsten Möglichkeiten zu beginnen, welche in der ersten Fassung des Gesetzes auch verwirklicht war: Wieviel Zweier-Kombinationen von Tatbestandsmerkmalen sind in einer Menge von vier Tatbestandselementen enthalten? Geometrisch, und das heißt anschaulich, lässt sich das Problem so darstellen: Gegeben sei ein Viereck. Wieviel Strecken, die zwei Ecken verbinden («Zweiecke»), sind in dem Viereck enthalten? Es sind sechs, wie Abbildung 1 zeigt: vier Seiten und zwei Diagonalen. Man kann auch in die dritte Dimension gehen und sich eine Pyramide mit dreieckiger Grundfläche vorstellen (in Abbildung 2) von oben gesehen.) Die vier Ecken einer solchen Pyramide (drei am Grunde, eine an der Spitze) sind durch sechs Strecken verbunden. In § 7 SGB älterer Fassung sind also sechs Tatbestandsvarianten enthalten.

Abb. 1 und Abb. 2
[28]
Hätte das Gesetz die Erfüllung dreier Tatbestandselemente (wiederum aus vieren) verlangt, so käme es darauf an, wieviel eckenverbindende Dreiecke in einem Viereck enthalten sind. Es sind vier: Jeder der vier Eckpunkte ergibt zusammen mit den benachbarten Eckpunkten links und rechts ein Dreieck, dessen dritte Seite eine Diagonale des Vierecks ist (vgl. wieder Abb. 1). Darüber hinaus gibt es in der Figur keine eckenverbindenden Dreiecke. Man erhält das gleiche Ergebnis, wenn man sich zum Vergleich die Pyramide vorstellt: sie enthält genau vier Dreiecke: eines am Grund, drei an den Seiten (wieder Abb. 2).
[29]
«Drei aus vieren» kommt zwar im Gesetz nicht vor, wohl aber, in seiner gegenwärtigen Fassung, «drei aus fünf». Wieviel Dreiecke sind in einem Gebilde mit fünf Ecken enthalten? Diesmal stelle man sich eine Pyramide mit einer viereckigen Grundfläche vor: vier Ecken an der Grundfläche und eine an der Spitze (Abb. 3). Die Grundfläche enthält – wie soeben gezeigt – vier Dreiecke; ebenfalls vier Dreiecke bilden die Seiten, und schließlich ergeben sich noch zwei Dreiecke aus der Verbindung jeder der beiden Diagonalen in der Grundfläche mit der Spitze. Macht zusammen zehn. Durch die Novellierung des § 7 Abs. 4 SGB hat sich die Anzahl der Tatbestandsvarianten von sechs auf zehn erhöht.

Abb. 3
[30]
Mit der Anzahl der Merkmale wächst die Anzahl der Varianten rapide an. Verdoppeln wir einmal die Anzahlen der Merkmale und nehmen wir «sechs aus zehn» statt «drei aus fünf». Sechs wie auch noch zehn Elemente sind eine überschaubare Anzahl. Ein zehneckiges Raumgebilde kann man sich auch leicht vorstellen: etwa als Grundform eines Hauses mit Giebel (Abb. 4).

Abb. 4
[31]
Wieviel sechseckige Gebilde in einem zehneckigen enthalten sind? Jedenfalls so viele, dass man sich leicht verzählen kann. Mittlerweile können wir uns nicht mehr auf die Anschauung verlassen und benutzen daher die übliche Formel zur Berechnung der Anzahl der Kombinationen von k Elementen, die in einer Menge von n Elementen enthalten sind9:

n! / (k! * (n-k)!)

wobei x! die Fakultät von x ist, d.h. x * (x-1) * (x-2) * ... * 2 * 1.

In diesem Falle ergibt sich also

10! / 6! * 4! = 3628800 / 720 * 24 = 210
[32]
Wie man sieht, spielt die Größe von k ebenso ihre Rolle wie die von n. Bei «eins aus zehn» gibt es nur zehn Varianten; das liegt auf der Hand. Zehn Varianten gibt es aber auch bei «neun aus zehn». Das liegt ebenfalls auf der Hand. Denn ebenso wie es zehn Möglichkeiten gibt, dass eines von zehn Merkmalen erfüllt ist, so gibt es auch zehn Möglichkeiten, dass eines von jenen zehn Merkmalen unerfüllt ist. Die beiden Sachverhalte sind symmetrisch zueinander. Bei «zwei von zehn» und dann weiterhin bei drei und vier ... steigt die Anzahl der Möglichkeiten zunächst. Auch das ist plausibel, denn jedes der Merkmale wird jetzt mehrfach eingesetzt: A in Verbindung mit B und dann auch in Verbindung mit C ... Beim Rückwärtszählen von neun zu acht und dann sieben ... wächst die Anzahl der Möglichkeiten ebenfalls an, spiegelbildlich. Denn A kann jetzt ebenfalls mehrfach, auch zusammen mit B oder C etc. unerfüllt bleiben.
[33]
Der Gipfel, der sich von zwei Seiten her erklimmen lässt, ist erreicht, wenn k halb so groß ist wie n. Anders gesagt, wenn der gewählte numerische Quantor von dem Einsquantor und dem Allquantor zu seinen Seiten gleich weit entfernt ist. In unserem Falle einer Zehnerskala liegt 5 in der Mitte zwischen 1 und 9 (n–1). Bei «fünf aus zehn» ist die Anzahl der Varianten übrigens 252.


3.

In der mittleren Höhe zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen: der Typus ^

[34]
Wie schon zu Anfang angedeutet, ist der neue gesetzgeberische Kunstgriff als Reaktion auf einen sozialen und ideologischen Wandel zu verstehen, als ein Versuch, ihn unter juristischer Kontrolle zu halten. Die Rechtsfragen als solche, um die es hier geht, sind freilich älter. Wie hat man sich eigentlich vorher beholfen? Man hat sich mit dem selbstverständlichen Wissen begnügt, dass es im Erwerbsleben den Typus den «Selbständigen» und den Gegentyp des «Unselbständigen» gibt, und man hat sich auf die Urteilskraft des Richters verlassen, die sich auf einen sozialen Konsens stützen konnte und die in langen Rechtsprechungsfolgen eingeübt war. Erst als dieser Konsens brüchig wurde, verspürte der Gesetzgeber die Notwendigkeit einzugreifen.
[35]
«Typus» ist seit langem ein Zauberwort in der Methodenlehre der Rechtswissenschaft, und dies mit Grund, wie die Reihe der Autoren vermuten lässt, die darüber geschrieben haben: Radbruch , Larenz und Arthur Kaufmann , um nur drei Gipfel zu nennen. Das Phänomen und das Wort Typus spielen auch in anderen Wissenschaften eine große Rolle.
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Der Typus ist etwas «in der Mittelhöhe zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen» Schwebendes, so Arthur Kaufmann10 ; er hat «keine festen Grenzen, so dass von den für einen Typus charakteristischen ‹Zügen› auch der eine oder andere fehlen kann, ohne dass damit die Typizität eines bestimmten Sachverhalts in Frage gestellt zu sein braucht».11«Unter den Typus kann daher auch nicht wie unter den Begriff «subsumiert» werden; man kann ihn einem konkreten Sachverhalt vielmehr nur ihn höherem oder geringerem Maße ‹zuordnen›.» «Das Allgemeine wird in ihm anschaulich, ‹ganzheitlich› erfasst.» Der Typus ist «nicht definierbar, sondern nur ‹explizierbar›.»
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Eben dies hat der Gesetzgeber in § 7 Abs. 4 getan: er hat den Typus des unselbständig Beschäftigten expliziert. Er hält sich dabei «in der Mittelhöhe» (einer variablen Mittelhöhe!) zwischen einer gesetzlichen Definition, die für alle Fälle gelten würde, und einer Aufzählung einzelner Fälle.
[38]
Diese Regelung ist ein beachtlicher Versuch, den Vorzug klarer Subsumierbarkeit unter umschriebene Tatbestandselemente mit dem Vorzug einer intuitiven Schau auf den Typus zu verbinden. Auf das Erfordernis der Typizität verzichtet der Gesetzgeber aber keineswegs völlig; er verlangt sie wiederholt auf niedrigerer Ebene, zumal wenn er als ein Kriterium (Nr. 4) der Unselbständigkeit einführt, das die in Frage stehende Tätigkeit «typische Merkmale unternehmerischen Handelns nicht erkennen» lässt. Zudem gibt der Gesetzgeber seiner Explikation nur den Status einer Vermutung, die also durch eine abweichende Gesamtschau («bei Berücksichtigung aller Umstände») korrigiert werden kann.
[39]
Es ist dies ein geistreicher Kompromiss, den ich für zukunftsträchtig halte.



Lothar Philipps ist Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig Maximilians Universität München.

loth@jura.uni-muenchen.de

Dieser Text ist erstmals erschienen in:
Wertpluralismus, Toleranz und Recht. Gedächtnisschrift für Arthur Kaufmann, Hrsg. Shing-I Liu, Taipei 2004, 596 ff.


  1. 1 BGHZ 136, S. 295 ff. – Die Entfaltung von Franchise-Systemen in unserer Gesellschaft seit etwa drei Jahrzehnten findet sich facettenreich dargestellt bei Thomas Kreuder , Netzwerkbeziehungen und Arbeitsrecht, in: D. Simon/M. Weiss (Hrsg.), Zur Autonomie des Individuums, Liber Amicorum Spiros Simitis, Nomos-Verlag Baden-Baden, 2000.

  2. 2 Einen guten Überblick geben P.A. Köhler und J. Kruse : Scheinselbständigkeit erkennen und vermeiden; C.H. Beck Wirtschaftsverlag München 2000.

  3. 3 Vgl. L. Philipps/G. Sartor, From Legal Theories to Neural Networks and Fuzzy Reasoning, in: Artificial Intelligence and Law, 1999 (Vol. 7), 115–128 (124 f.).

  4. 4 H.J. Warnecke , Die Fraktale Fabrik. Revolution der Unternehmenskultur. Springer-Verlag Berlin/Heidelberg 1992, 2. Aufl. 1993; auch als Rowohlt-Taschenbuch erschienen: Hamburg 1996.

  5. 5 Inzwischen habe ich dem indisch-amerikanischen Rechtsanwalt C. Raj Kumar für seinen Hinweis auf den British Immigration Act zu danken, insbesondere auf das damit verbundene Highly Skilled Migrant Programme (HSMP) ; vgl. http://194.203.40.90/default.asp?PageId=2603 ; man verfolge auch den Link zur «Application Form». Die dort verwandte Methode ist zwar nicht dieselbe, aber ähnlich. Näheres unter Anm. 11.

  6. 6 Erwähnt sei freilich, dass es bei der Struktur «zwei von vier» vorkommen kann, dass zwei passende Sachverhalte sich gleichwohl in keinem Tatbestandsmerkmal decken; bei der gegenwärtigen Struktur «drei aus fünf» ergibt sich stets eine partielle Deckung. Eine solche Deckung verstärkt naturgemäß die Verwandtschaft zwischen den Untertatbeständen; zur Begründung von «Familienähnlichkeit» ( Wittgenstein ) ist sie aber nicht erforderlich. Man vergleiche die Beispiele in Wittgensteins «Philosophischen Untersuchungen», Nr. 66 ff.

  7. 7 Bemerkenswert ist, dass ein Kompromiss zwischen dem Und und dem Oder auch sonst in der Fuzzy Logic vorkommt: das «kompensatorische Und»; s. dazu L. Philipps in FS Roxin , hrsg. von B. Schünemann et al, Walter de Gruyter-Verlag Berlin/NewYork, 2001, 355–378 (372 ff.).

  8. 8 Eine Frage, die ich im Text ausgespart habe, wird mir gleichwohl immer wieder gestellt: Würde das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot verletzt, wenn man diese Struktur auch in der Strafgesetzgebung verwendete? Ich beantworte die Frage mit Nein; denn hinsichtlich Klarheit und Verständlichkeit ist das Verfahren optimal. Aber wo im Strafrecht könnte man es einsetzen? Erstens dort, wo Typizität eine besondere Rolle für ein Delikt spielt, und zweitens bei Gefährdungsdelikten: sie könnten auf diese Weise konkreter gefasst werden als abstrakte Gefährdungsdelikte, und abstrakter als konkrete Gefährdungsdelikte.

  9. 9 S. dazu beispielsweise das nützliche Buch von H.P. Beck-Bornholt und H.H. Dubben : Der Hund, der Eier legt. Erkennen von Fehlinformationen durch Querdenken. (Hamburg 2001, Rowohlt Taschenbuch), S. 99 Anm. 4.

  10. 10 Die Zitate stammen aus A. Kaufmann , Rechtsphilosophie, 2. Aufl. C.H. Beck Verlag, München 1997, S. 128 ff. Vgl. auch A. Kaufmann , Analogie und ‚Natur der Sache‘. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus. 2. Aufl R.v. Decker & C.F. Müller, Heidelberg 1982 (1. Aufl. 1965).

  11. 11 Beim Typus können Defizite in einzelnen Merkmalen durch Fülle in anderen kompensiert werden. Im Bereich des § 7 des Gesetzes zur Förderung der Selbständigkeit gilt das freilich nicht. Vergleichen wir zwei einschlägige Fallstrukturen: im ersten sind drei von fünf Merkmalen verwirklicht, die verbleibenden zwei Merkmale sind es dagegen nicht einmal annäherungsweise. Die Rechtsfolge tritt ein. Im zweiten Fall sind nur zwar nur zwei der fünf Merkmale verwirklicht, die verbleibenden drei sind es aber immerhin nahezu. Diesmal tritt die Rechtsfolge nicht ein. Da die Rechtsfolge jedoch nur eine widerlegbare Vermutung ist, ist das nicht verhängnisvoll.

    In dem oben Anm. 5 erwähnten Highly Skilled Migrant Programme (HSMP) im Rahmen des British Immigration Act ( http://194.203.40.90/default.asp?PageId=2603 ) sind Kompensationen vorgesehen. Den Tatbestandsmerkmalen (Zulassungskriterien) sind unterschiedliche Punktwerte zugeordnet. Ob die Rechtsfolge eintritt, ein Bewerber zugelassen wird, bestimmt sich nach dem Score, den der Bewerber insgesamt erreicht.