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Die Rückwirkung der Rechtsinformatik auf die Rechtstheorie

  • Authors: Friedrich Lachmayer / Harald Hoffmann
  • Category: Short Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2011
  • Citation: Friedrich Lachmayer / Harald Hoffmann, Die Rückwirkung der Rechtsinformatik auf die Rechtstheorie, in: Jusletter IT 24 February 2011
Am Beginn der Siebzigerjahre hat die aufkommende Rechtsinformatik bereits eine seit Jahrhunderten ausgebildete Rechtstheorie vorgefunden. In der Anfangsphase glaubte man, dass das Strukturwissen um das Recht für die Abbildungsfunktion der Rechtsinformatik wichtig sei. In der Praxis begnügte man sich damals allerdings mit einer elektronischen Abbildung des Textes. Dazu kam die Datenbankfunktion mit Möglichkeiten der elektronischen Suche. In dieser Phase schien die Rechtstheorie überflüssig zu sein. Es entstand jedoch eine zunehmende Nachfrage nach Metadaten, insbesondere im Hinblick auf semantische Verweisungen und qualifizierte Formen der Suche. Spätestens mit den Ontologien entstand in der Folge eine neue Nachfrage nach Rechtstheorie. Es ist zu erwarten, dass sich diese von der Rechtsinformatik ausgehende Nachfrage mittelfristig auf die Rechtstheorie auswirken wird.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Ausgangslage
  • 2. Perspektiven
  • 2.1. Änderung des Rechtsaktbegriffes
  • 2.2. Von der Regel zur Rolle
  • 2.3. Ex-ante-Konzept einer stufenbauneutralen Legistik
  • 2.4. Ausgestaltung des Normbegriffes
  • 2.5. Das Recht in multisensorischer Sicht
  • 3. Abschließende Bemerkungen

1.

Ausgangslage ^

[1]
Am Beginn der Siebzigerjahre hat die aufkommende Rechtsinformatik bereits eine in Jahrhunderten ausbildete Rechtstheorie vorgefunden.
[2]
Die Rechtstheorie war zu dieser Zeit nicht unvorbereitet für die neuen Möglichkeiten, die sich mit der Rechtsinformatik eröffneten: Die sogenannte Rechtslogik hatte sich zumindest im Avantgardebereich etabliert. Die Anwendung der formalen Logik war genau das Werkzeug, mit dem man auch im Bereich der Rechtsinformatik etwas anfangen konnte. In Österreich waren es Ota Weinberger, Ilmar Tammelo, Leo Reisinger und Helmut Schreiner, die man als Protagonisten der neuen Ära bezeichnen kann.
[3]
Die eigentlich treibenden Kräfte zur Entfaltung der Rechtsinformatik waren einerseits die Industrie, die neue Absatzmärkte sah, und andererseits die Reformbürokratie, welche mit den neuen Techniken ihren Einflussbereich auszuweiten bestrebt war. Die Rechtstheoretiker machten sich den neuen Trend zu Nutze, dem zufolge die Industrie bereit war, Symposien und Publikationen finanziell zu unterstützen, die der Grundlagenforschung zuzuordnen waren, und die andernfalls keine Plattform gefunden hätten. Wahrscheinlich war es in den Siebzigerjahren mehr die Rechtstheorie, die aus der Symbiose ihre Vorteile zog, indem sie neue Themen für die rechtstheoretische Analyse erschloss. Eine Reihe von Sammelbänden hat diese Entwicklung dokumentiert.
[4]
Die Industrie, allen voran IBM, förderte dieses rechtstheoretische Wolkenfenster, nutzte es aber nicht zum Schaffen von neuem, sondern zum Nutzen von Bestehendem, z.B. in Form von Datenbanken auf Großrechnerbasis. Die Software war als Standardsoftware vorhanden bzw. wurde gerade entwickelt und bedurfte keiner rechtstheoretisch zu begründenden Zusatzkomponenten. Die wenigen Strukturmerkmale des Rechtes, die für die als Kategorien für die Erfassung notwendig waren, wie etwa Rechtsquellentypus, Inkrafttretensdatum oder Außerkrafttretensdatum, konnten unschwer in ein Datenbankschema eingefügt werden. Vielleicht war es gerade die Möglichkeit zum Nutzen von Bestehendem, warum sich die Industrie der rechtstheoretischen Szene annahm, gleichsam als eine Investition in die Zukunft.
[5]
Einer der markantesten Vertreter der Projektkultur dieser Anfangszeit war Werner Robert Swoboda. Sein Gedanke war, den Aufwand zur Strukturierung der Daten bei der Erfassung gering zu halten und zur Abfrage zu verlegen. Diesem Gedanken zufolge wäre es die Aufgabe einer intelligenten Abfragesoftware, relevante Ergebnisse zu liefern. Diese galt es freilich erst zu entwickeln. Da diese Entwicklung, wenngleich erst viel später, zu den heute populären Suchmaschinen führte, hatte er in gewisser Weise recht. Seine Maxime ermöglichte damals jedenfalls, Projekte zügig anzugehen und Daten großflächig zu erfassen, was bei einer strukturellen ex-ante-Bearbeitung so wohl nicht möglich gewesen wäre.
[6]
Einerseits zeigte sich also, dass die entstehenden Rechtsinformationssysteme wie RIS oder RDB keineswegs der rechtstheoretischen Zutaten bedurften, um erfolgreich und praxismächtig zu werden, und dass es eher von der Entwicklungshöhe der allgemeinen Datenbanksoftware abhing, wie zielführend die Suchergebnisse waren. Andererseits war damals, in der Anfangszeit der Rechtsinformation, die Rechtstheorie einem Strohfeuer vergleichbar, da wichtige Protagonisten wie Ilmar Tammelo, Leo Reisinger und Helmut Schreiner relativ bald verstarben und diese Linie nicht weiter akademisch fortgesetzt wurde, mit Ausnahme von Alfred Schramm in Graz.
[7]
In der Anfangsphase der Rechtsinformatik folgte man jedenfalls dem Ansatz von Werner Robert Swoboda. Diesem zufolge nahm man zwar abstrakt an, dass das Strukturwissen um das Recht für die Abbildungsfunktion der Rechtsinformatik wichtig sei, begnügte sich aber mit einer elektronischen Abbildung des Textes. Man verließ sich auf die leistungsfähigen Datenbankfunktionen mit Möglichkeiten der elektronischen Suche, die über alles Bisherige hinausging. In dieser Phase schien die Rechtstheorie überflüssig zu sein.
[8]
Mit der Zeit entstand jedoch eine zunehmende Nachfrage nach Metadaten, insbesondere im Hinblick auf semantische Verweisungen und qualifizierte Formen der Suche. Ein Projekt, das damals entstanden ist und sich mittlerweile als erfolgreich erwiesen hat, ist RIDA, eine auf der Judikatur und Literatur basierende Deskriptorendatenbank. Dietmar Jahnel hatte früh die Bedeutung der Metadaten für die Rechtspraxis erkannt. Das Projekt hätte, abstrakt gesehen, in Richtung Begriffsjurisprudenz gehen können. Dieser rechtstheoretische Weg wurde aber nicht beschritten, man begnügte sich mit der erfolgreichen Deskriptorendatenbank, wie sie heute ist.
[9]
Der auf die Rechtssprache bezogene Ansatz von Erich Schweighofer, der im Projekt LOIS bis hin zum multilingualen Thesaurus führte, ist theoriebewusster, doch bezieht er die spezifische Normativität des Rechtes nicht ein. In der Sprache Hans Kelsens gesprochen beschäftigte sich Erich Schweighofer mehr mit dem modalindifferenten Substrat der Rechtsbegriffe und weniger mit den für das Recht kennzeichnenden normativen Verknüpfungen.
[10]
Auch anderswo setzte sich die Wechselwirkung zwischen Rechtstheorie und Rechtsinformatik fort. Insbesondere die Niederländer (Normungsansatz: Metalex) und die Italiener (in ihren Institutionen CIRFID und ITTIG) erkannten den Stellenwert der rechtstheoretischen Komponenten für die Rechtsinformatik und bezogen diese in ihre Taxonomien und Ontologien ein. Die JURIX-Bände der letzten Jahre sind ein beredtes Beispiel dafür.
[11]
Erwähnt sei an dieser Stelle das von Alfred Schramm, einem Schüler Ota Weinbergers, in Graz entwickelte Expertensystem zu baurechtlichen Entscheidungen. Dass sich dieses damals nicht durchsetzen konnte, war ein Schicksal, das den meisten juristischen Expertensystemen der Anfangsphase widerfuhr.

2.

Perspektiven ^

[12]
Aus Sicht der Verfasser gibt es eine Reihe von Rückwirkungen, die sich für die Rechtstheorie aus einer verstärkten Kooperation mit der Rechtsinformatik ergeben können:

2.1.

Änderung des Rechtsaktbegriffes ^

[13]
Bislang wurde der Rechtsakt, etwa der Gesetzesbeschluss und daraus folgend die Rechtsquelle des Gesetzes, strikt getrennt vom Dokumentationsakt gesehen, so wie etwa Hans Kelsen einerseits von der Rechtsnorm und andererseits von dem Rechtssatz gesprochen hat. Im Projekt eRecht sind jedoch die beiden Strukturen zusammengerückt, indem die elektronische Version der Kundmachung als exklusiv authentisch angesehen wird. Das ist zwar noch nicht der Rechtsakt des Gesetzesbeschlusses, doch die Verbindung von Rechtsinformatik und rechtstheoretischer Konzeption ist enger geworden, als dies noch vor einiger Zeit abzusehen war.

2.2.

Von der Regel zur Rolle ^

[14]
Wie in dem Beitrag zur Festschrift für Erich Schweighofer ausgeführt, kommt es zu einer Verlagerung des Forschungsinteresses vom objektiven Recht hin zum subjektiven Recht. Das objektive Recht besteht vor allem aus den Rechtsquellen, die im Wesentlichen textuell sind. Sowohl das RIS als auch die RDB beziehen sich auf die dokumentalistische Wiedergabe dieser Texte oder von Texten, die auf die Rechtstexte referieren. Zunehmend wird jedoch der Trend zu einem subjektiven Recht sichtbar, wie er etwa in Help.gv.at deutlich wird. Dieser Trend hat durchaus seine Konsequenzen für die Rechtstheorie, weil er andere Methoden fordert. Beispielsweise enthalten die Rechtstexte zumeist eine nur implizite Semantik. Bei der situativen Jurisprudenz hingegen kann diese Semantik explizit strukturiert werden, und sei es auch nur in einer szenischen Visualisierung.

2.3.

Ex-ante-Konzept einer stufenbauneutralen Legistik ^

[15]
Während die Rechtsdokumentation ex post an die Rechtstexte herangeht, ist es Sache der Legistik, die Rechtstexte ex ante zu sehen. Die traditionelle Legistik beschäftigt sich also antizipativ mit einem Rechtstext, betrachtet dessen Entwurf also so, als würde er bereits gelten. Die Verfasser sind der Ansicht, dass es nicht nur darum geht, die Gesetzesvorbereitung, das Gesetzesverfahren und die nachfolgenden Verwertungsmöglichkeiten der Rechtstexte elektronisch zu gestalten, sondern auch darum, die nachfolgenden Vollzugsphasen insbesondere mittels elektronischer Formularverfahren von vornherein in einem Vorgang durchzukonstruieren. Es geht dabei nicht nur um das stimmige Zusammenspiel der Rechtsbegriffe und der normativen Zusammenhänge, sondern auch um das institutionelle Denken. Die unterschiedlichen Rechtsstufen, wie sie im nunmehr fast schon hundertjährigen Stufenbaumodell vorgestellt wurden, erweist sich für die antizipative Rechtsgestaltung als hinderlich. Das heißt nicht, dass der Stufenbau der Rechtsquellen aufzugeben ist. In das für die Entwurfsarbeit verantwortliche Team sollten unter anderen auch Experten des vollziehenden Formularverfahrens einbezogen werden. Die Anforderungen einer nachfolgenden eGov-Phase wären im Sinne einer stufenbauneutralen Legistik bereits bei der legistischen Entwurfsarbeit zu berücksichtigen.

2.4.

Ausgestaltung des Normbegriffes ^

[16]
Spätestens mit den Ontologien entstand in der Folge eine neue Nachfrage nach Rechtstheorie. In den JURIX-Bänden wird deutlich, dass der weiteren Entfaltung des Normbegriffs dabei eine zentrale Rolle zukommt. Dies gilt etwa für die zeitliche Dimension der Norm, sei es der äußeren Normzeit (Norm in der Zeit) als auch der inneren Normzeit (Zeit im Geschehen des Norminhaltes). Monica Palmirani hat sich mit der ersten Thematik immer wieder auseinandergesetzt. Es gibt aber auch andere Ansätze, den Norminhalt auszudifferenzieren, wie dies etwa Vytautas Cyras mit einer formalen Notation der normativen Teleologie macht.

2.5.

Das Recht in multisensorischer Sicht ^

[17]
Zu den neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Rechtstheorie zählt der Diskussionsvorschlag von Colette R. Brunschwig, sich der multisensorischen Struktur des Rechts bewusst zu werden. Dieser Paradigmenwechsel hat seine Auswirkungen sowohl auf die Rechtstheorie als auch auf die Rechtsinformatik und gilt gleichweise für die Produktion des Rechtes als auch für dessen Rezeption. Möglicherweise initiiert durch die Entwicklungen der modernen Psychologie geht es beim «Multisensorischen Recht» um eine neue und vollständigere Sichtweise auf die Struktur des Rechtes. Die Analyse des «Multisensorischen Rechts» ist somit genuin ein Teilgebiet der Rechtstheorie.

3.

Abschließende Bemerkungen ^

[18]
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Rechtstheorie und Rechtsinformatik in einem regen Austausch befinden, auch international gesehen. Die Besonderheit der Diskussionen bei JURIX und bei IRIS ist es, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer jeweils nur für ein Ufer zuständig fühlen und daher der anderen Seite bedürfen, um eine Brücke zu bauen. Es gibt zwar bei den Juristen eine lange Tradition der Senatsentscheidungen, aber im Team an einem interdisziplinären Projekt zu arbeiten ist doch etwas grundlegend Neues.



Harald Hoffmann, Geschäftsführer, METADAT GmbH, Simmeringer Hauptstraße 24, 1110 Wien AT,harald.hoffmann@metadat.com, www.medadat.com/

Friedrich Lachmayer, Professor, Leopold-Franzens-Universität, Innrain 47, 6020 Innsbruck AT,friedrich.lachmayer@uibk.ac.at, www.legalvisualization.com/