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Rechtssätze lassen sich grafisch darstellen. Einen Tatbestand A setzt man dazu auf eine Linie, die zu einer Rechtsfolge R führt:
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Will man ausdrücken, dass zwei Merkmale A und B durchund verbunden sind, so reiht man sie auf einer Linie auf:
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Will man A und B durch oder verknüpfen, so setzt man sie auf zwei Linien, die in R zusammenlaufen:
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Derartige Grafiken kennt man von elektrischen Schaltungen: Serienschaltung und Parallelschaltung. Dass sie sich auch auf Rechtsätze anwenden lassen, weiß man seit Mitte des vorigen Jahrhunderts.1
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Und- sowie Oder-Verknüpfungen beeinflussen den normativen Gehalt eines Rechtssatzes. Wenn man dem Tatbestand ein weiteres Merkmal mitund hinzufügt, wird der Satz schwächer; es braucht mehr Aufwand als zuvor, um die Rechtsfolge zur Geltung zu bringen. Wird dagegen ein Tatbestandsmerkmal mitoder hinzugefügt, so wird der Satz stärker, denn die Möglichkeiten für den Eintritt der Rechtsfolge werden erweitert. Man werfe einen Blick auf § 242 StGB! Der Tatbestand des Diebstahls lautet: «Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird ... bestraft.» Der Satzteil «...oder einem Dritten ...» wurde erst vor wenigen Jahren eingefügt und hat die Vorschrift erheblich verschärft.
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Wenn manund bzw.oder nicht an den Tatbestand, sondern an die Rechtsfolge knüpft, verhält es sich umgekehrt: Ein zusätzliches Und verstärkt den Rechtssatz, weil bei gleichem Tatbestand eine weitergehende Rechtsfolge geltend gemacht wird; bei einem zusätzlichen Oder verringert sich der Gehalt des Satzes, weil er jetzt mit einer von mehreren möglichen Rechtsfolgen auskommt.2 Zum Beispiel: § 325 BGB lautet in der ursprünglichen Fassung so: «Wird die aus einem gegenseitigen Vertrage dem einen Teile obliegende Leistung infolge eines Umstandes, den er zu vertreten hat, unmöglich, so kann der andere Teil Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen oder von dem Vertrage zurücktreten.» Im Rahmen einer Schuldrechtsnovelle ist das Oder zwischen Schadensersatz und Rücktritt in der Sache durch ein Und ersetzt worden, was den Rechtssatz und mit ihm die Position des geschädigten Vertragspartei erheblich verstärkt hat. § 325 BGB seit 2002: «Das Recht, bei einem gegenseitigen Vertrag Schadensersatz zu verlangen, wird durch den Rücktritt nicht ausgeschlossen.»
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Neben Und- und Oder-Verknüpfungen kommen in Schaltungen auch Negationen vor, bei Sicherheitsanlagen zum Beispiel. In eine Fensterscheibe wird ein dünner Draht eingefügt. Zerbricht die Scheibe, dann zerreißt der Draht und ein Stromkreis wird unterbrochen: das löst einen Alarm aus. Die Negation lässt sich durch ein vorangestelltes Negationszeichen ausdrücken. So verfährt man bei Schaltungen, und das ist auch bei Rechtssätzen möglich. Man könnte schreiben:Wenn A und non-B, dann R . Dasnon-B fügt in den SatzWenn A, dann R eine Ausnahme ein.
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Zu einem Rechtssatz gibt es praktisch immer Ausnahmen, und zu diesen Ausnahmen kann es wiederum Ausnahmen geben. Um hier die Übersicht zu behalten, ist es ratsam, rechtliche Negationen nicht durch ein Negationszeichen, sondern in zweidimensionaler Weise darzustellen:
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Tatbestand A führt – grundsätzlich! – zur Rechtsfolge R. Der Weg dorthin kann aber – ausnahmsweise! – durch den Tatbestand B blockiert werden. Es mag aber noch eine Gegenblockade, eine Gegenausnahme C geben: wenn C vorliegt, ist der Weg von A nach R wieder frei.3 Oftmals kann man dem Verhältnis von Grundsatz und Ausnahme den Sinn geben, dass zwei Parteien Beweislast zugeordnet wird. Die Beweislast der einen Partei liegt auf den vertikalen, die der andern auf den horizontalen Linien der Grafik. Die eine Partei braucht hier zunächst nur A vorzutragen und zu beweisen; sie muss jedoch auch C vortragen und muss es beweisen können, falls der andere erfolgreich B vortragen kann.
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Auch zu Gegenausnahmen kann es wieder Ausnahmen geben: dann bilden sich ganze Treppen von Ausnahmen und Ausnahmeausnahmen, beispielsweise in §§106 ff. BGB:4
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Ein Beispiel dazu: X und Y haben einen Kaufvertrag über X’ Märklin-Eisenbahn geschlossen. X ist freilich minderjährig und also nur beschränkt geschäftsfähig. Es entspinnt sich ein Dialog:
X: Wir habe einen Kaufvertrag miteinander. Sie nehmen meine Eisenbahn und geben mir das Geld!
Y: Ich denke nicht daran. Der Kaufvertrag ist unwirksam, Sie sind noch minderjährig.
X: Mein Vater hat aber den Vertrag genehmigt.
Y: Dass konnte er nicht mehr, denn zuvor hatte ich den Vertrag widerrufen.
X: Sie konnten gar nicht wirksam widerrufen, denn Sie wussten, dass ich minderjährig bin.
Y: Konnte ich doch! Sie haben mir beim Vertragsschluss die Einwilligung Ihres Vaters vorgespiegelt.
Y: Ja, aber diese Täuschung haben Sie sofort durchschaut!
X: Wir habe einen Kaufvertrag miteinander. Sie nehmen meine Eisenbahn und geben mir das Geld!
Y: Ich denke nicht daran. Der Kaufvertrag ist unwirksam, Sie sind noch minderjährig.
X: Mein Vater hat aber den Vertrag genehmigt.
Y: Dass konnte er nicht mehr, denn zuvor hatte ich den Vertrag widerrufen.
X: Sie konnten gar nicht wirksam widerrufen, denn Sie wussten, dass ich minderjährig bin.
Y: Konnte ich doch! Sie haben mir beim Vertragsschluss die Einwilligung Ihres Vaters vorgespiegelt.
Y: Ja, aber diese Täuschung haben Sie sofort durchschaut!
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Wenn alle Behauptungen zutreffen, ist der Vertrag gültig. Im Zivilrecht kommt es aber nicht auf das letzte Wort, sondern den letzten Beweis an. Von der Idee her ist die Lage einfach: Wenn man einen Vertrag mit einem Minderjährigen schließt, ohne dass die Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters vorliegt, ist das riskant. Man kann deshalb vom Vertrag zurücktreten, außer wenn man weiß, worauf man sich einlässt. Wie diese Idee aber zerlegt wird und wie die einzelnen Stücke den beiden Parteien zur Beweislast zugeteilt werden, darin zeigt sich der feinmechanische Charakter des Bürgerlichen Gesetzbuchs. In § 109 BGB sollte wohl auch der Unterschied zum römischen Recht betont werden, wo man von dem Vertrag mit einem Minderjährigen nicht zurücktreten konnte, sondern einseitig gebunden war. Doch auch in anderen Rechtsgebieten kommen mehrfach gestufte Ausnahmen häufig vor.
Lothar Philipps, Prof. (em.), Institut für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsinformatik der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, Prof.-Huber-Platz 2, 80539 München DE,loth@jura.uni-muenchen.de
Lothar Philipps, Prof. (em.), Institut für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsinformatik der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, Prof.-Huber-Platz 2, 80539 München DE,loth@jura.uni-muenchen.de
- 1 Layman E. Allen hat dazu eine Reihe von Aufsätzen geschrieben, zuerst wohl: Symbolic Logic: A Razor-Edged Tool for Drafting and Interpreting Legal Documents, in: Yale Law Journal Vol. 66 (1957), S. 830 ff. Grafische Darstellungen dieser Art richten sich häufig an den juristischen Laien. Derlei ist verdienstlich; der vorliegende Text behandelt freilich Fragen, die eher für den Rechtswissenschaftler von Interesse sein dürften.
- 2 2 Vgl. hierzuL. Philipps, Der Handlungsspielraum, Frankfurt a.M. 1974 (Klostermann), S. 89 ff. Der Gedanke geht zurück auf Karl Poppers Werk Logik der Forschung, wo aber naturgemäß vom Gehalt empirischer Gesetze die Rede ist.
- 3 Diese Darstellungsmethode wurde vorgestellt inL. Philipps , Der Computer als Hilfsmittel zu einer interessengerechten Normierung, in: Gesetzgebung und Computer, hrsg. vonTheo Öhlinger , München 1984, S. 67 ff.
- 4 Ich zitiere hier nur § 109 BGB:Widerrufsrecht des anderen Teils. (1) Bis zur Genehmigung des Vertrags ist der andere Teil zum Widerruf berechtigt. ... (2) Hat der andere Teil die Minderjährigkeit gekannt, so kann er nur widerrufen, wenn der Minderjährige der Wahrheit zuwider die Einwilligung des Vertreters behauptet hat; er kann auch in diesem Falle nicht widerrufen, wenn ihm das Fehlen der Einwilligung bei dem Abschluss des Vertrags bekannt war.