Jusletter IT

Auf dem Weg zum automatisierten Ermittlungseingriff – Zur Verfolgung von Verkehrsverstößen in der Bundesrepublik Deutschland

  • Author: Andreas Popp
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Advanced Legal Informatics Systems and Applications
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2011
  • Citation: Andreas Popp, Auf dem Weg zum automatisierten Ermittlungseingriff – Zur Verfolgung von Verkehrsverstößen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jusletter IT 24 February 2011
Die Anfertigung von Bildaufnahmen als Beweismittel bei der Verfolgung von Regelverstößen im Straßenverkehr erfolgt in der Bundesrepublik Deutschland einerseits oft automatisiert, muss aber andererseits auf strafverfahrensrechtliche Befugnisse gestützt werden, die einen konkreten Tatverdacht voraussetzen. Dies wirft die Frage auf, inwieweit sich eine derartige «automatisierte Verdachtsschöpfung» in das gegenwärtige Konzept eines von Menschen (und nicht von Maschinen) gestalteten Strafverfahrens integrieren lässt. Der Beitrag versucht, die Problemstellung zu skizzieren und eine erste Antwort darauf zu formulieren.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einführung
  • 2. Die am Tatverdacht orientierte Herstellung von Bildaufnahmen als Problem
  • 3. Einige Überlegungen und Anmerkungen
  • 4. Literatur

1.

Einführung ^

[1]
Die Möglichkeiten und Grenzen der Verknüpfung von rechtlich geregelten Handlungsabläufen und Entscheidungsverfahren mit automatisierten Prozessen der Informationsverarbeitung beschäftigen die Verwaltungsrechtswissenschaft schon seit Jahrzehnten.1 Für die Theorie des Strafverfahrens ist dieses Gebiet dagegen noch kaum erschlossen (sieht man einmal von Teilbereichen wie den Datenschutzregeln der §§ 474 ff. StPO oder speziellen Ermittlungstechniken wie etwa der Rasterfahndung nach § 98a StPO ab). In jüngster Zeit hat sich freilich – in einem praktisch wichtigen, wenn auch zunächst wenig spektakulären Bereich – ein neuer Zugang zu diesem Problemfeld erschlossen, der durchaus Aufmerksamkeit verdient.

2.

Die am Tatverdacht orientierte Herstellung von Bildaufnahmen als Problem ^

[2]
Das praktische Bedürfnis nach einer effizienten Verfolgung von besonders unfallträchtigem Fehlverhalten im Straßenverkehr hat die mit der Verkehrsüberwachung befassten Polizeibehörden auf moderne Foto- und Videotechnik zurückgreifen lassen, die im Zusammenspiel mit technischen Messgeräten eine durchweg «gerichtsfeste» Dokumentation bestimmter typischer Regelverstöße im fließenden Verkehr ermöglicht (etwa: Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit oder Unterschreitung des gebotenen Mindestabstands zu anderen Fahrzeugen). Die in diesem Rahmen hergestellten Bildaufnahmen, die den Fahrzeugführer oder das amtliche Kennzeichen des Fahrzeugs erfassen, sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings als Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG) zu bewerten und bedürfen daher einer gesetzlichen Regelung.2 Die Fachgerichte3 sehen sie inzwischen ganz überwiegend in § 100h Abs. 1 S. 1 Z. 1 StPO (der bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten gemäß § 46 Abs. 1 OWiG entsprechende Anwendung findet). Diese Vorschrift gestattet die – offene oder verdeckte – Herstellung von «Bildaufnahmen» im öffentlichen Raum («außerhalb von Wohnungen») zu Ermittlungszwecken und setzt insoweit denVerdacht einer strafbaren (bzw. hier: als Ordnungswidrigkeit ahndbaren) Handlung voraus. Als Beweismittel im Ordnungswidrigkeitenverfahren kommen daher grundsätzlich nur solche Bildaufnahmen in Frage, die unter den Voraussetzungen der genannten StPO-Norm entstanden sind – und das heißt eben: Aufnahmen, die erst und nur deshalb angefertigt werden, wenn und weil in Hinsicht auf das betroffene Fahrzeug ein möglicher Verkehrsverstoß (etwa: überhöhte Geschwindigkeit) konkret im Raum steht.
[3]
Diesen rechtlichen Anforderungen ist zweifellos genügt, wenn das Aufzeichnungsgerät (bzw. die Kamera) durch einen Polizeibeamten bedient wird, der gezielt nur diejenigen Fahrzeuge erfasst, für die eine auf dem betreffenden Streckenabschnitt installierte Messanlage eine Überschreitung des jeweils maßgeblichen Grenzwerts meldet. Für einfache, massenhaft auftretende Sachverhalte (etwa: Tempo-Limit-Verstöße) liegt es jedoch nicht fern, das Aufzeichnungsgerät unmittelbar mit den Ergebnissen jener Messanlage zu verkoppeln (und den «man in the middle» – den Polizeibeamten – gleichsam aus dem Erfassungsvorgang herauszunehmen): Die Kamera löst immer, aber auch nur dann aus, wenn ihr die Messanlage ein Ergebnis liefert, das auf einen Verkehrsverstoß hindeutet.4 Eine solche Kopplung ist technisch ohne weiteres möglich und erscheint auch sachgerecht. Sie hat jedoch auch Zweifel aufgeworfen, ob ein solches Kontroll-Arrangement noch mit dem gängigen Verständnis des Strafverfahrensrechts in Einklang zu bringen ist:5 Wenn die StPO die Vornahme von Ermittlungseingriffen an einen zum Eingriffszeitpunkt bereits bestehenden Tatverdacht bindet, setzt sie damit möglicherweise mehr voraus, als die bei der Verkehrsüberwachung eingesetzte Informationstechnik zu leisten imstande ist – nämlich einemenschliche Entscheidung darüber, wie die aktuelle Sachlage zu bewerten sei und ob sie zur Einleitung von Ermittlungen und zu bestimmten Ermittlungseingriffen (hier: Anfertigung von Bildaufnahmen) Anlass gebe. Stößt die Automatisierung des repressiven ersten Zugriffs also auf Grenzen, die jedenfalls im traditionellen Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren nicht zu überwinden sind?

3.

Einige Überlegungen und Anmerkungen ^

[4]
Der Versuch, auf diese Frage eine Antwort zu geben, kommt ohne eine nähere Analyse des Problemfelds nicht aus. Sie kann im vorliegenden Zusammenhang nur kurz skizziert werden:
[5]
Zunächst muss man sich klar machen, welche Entscheidungsbereiche von der eben geschilderten Automatisierungnicht betroffen sind: Die Entschließung darüber, ob, an welchen Orten und in welchem Zeitraum derartige Kontrollen durchgeführt werden sollen, liegt weiterhin bei der Polizeibehörde (und in dieser Herrschaft über die Verdachtsgewinnung, die mit dem gezielten Aufsuchen und der planmäßigen Produktion von Verdachtslagen durch entsprechende Messungen verbunden ist, dürfte denn auch die eigentliche rechtsstaatliche und kriminologische Problematik begründet sein – das Stichwort «Vorfeldermittlungen» muss hier genügen). Auch die Ausübung des «pflichtgemäßen Ermessens» hinsichtlich der Frage, ob bei gegebenem Verdacht einer Ordnungswidrigkeit deren Verfolgung betrieben werden soll (§ 47 Abs. 1 S. 1 OWiG), kann im Kontext einer konkreten Verkehrskontrolle rahmenartig vorab erfolgen. Demgegenüber betrifft die «Automatisierung» allein die Frage, ob hinsichtlich eines bestimmten Fahrzeugs der Anfangsverdacht einer Ordnungswidrigkeit anzunehmen ist. Diese Frage wird bei der Kopplung von Bildaufnahmegerät und Messanlage nicht mehr für jeden einzelnen Fall durch einen Polizeibeamten entschieden, sondern routiniert nach einem vorgegebenen Konditionalschema bearbeitet: Bestimmte Messwerte lösen die Bildaufnahme aus, andere nicht.
[6]
Des Weiteren ist das (hier jedenfalls teilweise automatisierte) «Verdächtigen» vom «Beschuldigen» zu unterscheiden: Die Beschuldigung (Inkulpation) ist eine Prozesshandlung, durch die ein Strafverfolgungsorgan einer (in aller Regel verdächtigen) Person einen neuen Status im Ermittlungsverfahren zuweist.6 Insoweit dürfte zumindest zu fordern sein, dass das fragliche Vorgehen der Strafverfolgungsorgane objektiv als Willensakt interpretiert werden kann (was bei der Einbindung von IT-Prozessen offenkundig zu Schwierigkeiten führen kann – möglicherweise denen vergleichbar, die schon beim Verwaltungsakt diskutiert worden sind7 ). Die Inkulpation des Betroffenen steht in unserem Zusammenhang aber gar nicht in Rede, sondern nur die Annahme eines – zunächst auch nur fahrzeugbezogenen – Tatverdachts.
[7]
Nun mag es in der Tat so sein, dass der kriminalistische Vorgang des «Verdächtigens» und die mit ihm unter Umständen verbundene abduktive Kreativität von «Maschinen» nicht (oder noch nicht) übernommen werden kann (und das ist wohl auch weder erforderlich, noch wünschenswert). Aber darum geht es hier ja auch letztlich gar nicht. Denn im Zusammenhang mit der Überwachung eines bestimmten Verkehrsverhaltens fungiert der «Tatverdacht» im Grunde nur als eine schlichte tatbestandliche Voraussetzung, an die das Bildaufnahmesystem nach Vorgabe der betreibenden Polizeibehörde eine bestimmte Folge (die Anfertigung einer Aufnahme) knüpft. Der Umstand, dass seine Aufnahmetätigkeit vollständig durch die ihm jeweils zugelieferten Messergebnisse determiniert ist, begründet gerade keinen Unterschied im Vergleich zu einem Polizeibeamten, der auf eben diese Messergebnisse nicht anders reagieren würde (und, sofern die Durchführung der Kontrolle von seinen Vorgesetzten angeordnet und geleitet wird, auch gar nicht anders reagieren dürfte).
[8]
Insbesondere liefe der Verweis auf denBeurteilungsspielraum leer, der den Strafverfolgungsbehörden in der Frage des Anfangsverdachts nach verbreiteter Meinung zustehe und von einer schematisch-konditional verfahrenden Maschine wohl in der Tat nicht immer adäquat ausgefüllt werden könnte. Ob ein solcher Beurteilungsspielraum in Hinsicht auf den strafprozessualen Verdacht tatsächlich anzuerkennen ist, wird gelegentlich (mit beachtlichen Gründen) in Zweifel gezogen.8 Vermutlich wird man hier nach der jeweiligen Funktion des Tatverdachts für den weiteren Fortgang des Verfahrens differenzieren müssen. Im vorliegenden Zusammenhang können wir die Frage aber letztlich offen lassen. Denn auch die grundsätzliche Anerkennung eines «Beurteilungsspielraums» schließt eine Auslagerung von Entscheidungselementen auf automatisierte Teilprozesse9 keineswegs aus:
[9]
Zum einen ist die Einräumung eines solchen Spielraums ja gerade nicht als Aufforderung zu einem Willkürakt zu verstehen, der etwa auf die individuellen Vorlieben und Launen eines (menschlichen) Subjekts angewiesen wäre. Vielmehr wird, wer von einem derartigen Spielraum Gebrauch macht, für die von ihm getroffene Entscheidung stets in Anspruch nehmen, sie sei aus bestimmtensachlichen , intersubjektiv nachvollziehbaren Gründen gerade die richtige (beispielhaft: Wer als Polizist einen Tatverdacht geltend macht, wird sich insoweit nicht lediglich auf eine «innere Stimme» bzw. auf bloße Vermutungen berufen, sondern auf anerkanntes kriminalistisches Erfahrungswissen verweisen). Ein solcher Rekurs auf angebbare sachliche Kriterien dürfte aber auch eine zumindest ansatzweise Operationalisierung eröffnen.
[10]
Zum anderen und vor allem aber hat jeder «Spielraum» auch Grenzen: Es werden sich also immerhin Fälle angeben lassen, die jenseits dieser Grenzeneindeutig in der einen oder anderen Richtung zu beurteilen sind. Auch wenn das moderne Strafverfahrensrecht namentlich durch die Abkehr von starren «Beweisregeln» (bzw. hier: «Verdachtsregeln») charakterisiert wird, führt die dezidiert empirisch-naturwissenschaftliche Rationalität des modernen Beweisrechts doch gerade auch zu klaren Vorgaben.10 Wenn die Messung von Geschwindigkeits- und Abstandsverstößen durch ein bestimmtes Messgerät eine anerkannte (oder gar die einzig anerkannte11 ) Form der Sachverhaltsermittlung darstellt, sind die damit erzielten Messergebnisse letztlich weder für das Gericht, noch für die anderen Verfahrensbeteiligten mehr hintergehbar. Dann ist es aber – jedenfalls in diesem Anfangsstadium der Ermittlungen – schlechterdings nicht zu begründen, weshalb ein Anfangsverdacht nicht vorliegen sollte, obwohl das (fehlerfrei funktionierende) Messgerät eine signifikante Überschreitung des jeweils einschlägigen Grenzwerts festgestellt hat. Für irgendwelche Bewertungen oder Abwägungen ist jedenfalls an dieser Stelle kein Raum. Und gerade diese Bindung der «Verdächtiger» an naturwissenschaftliche Standards macht auch den Weg frei für die Automatisierung der Entscheidung über das Vorliegen eines Anfangsverdachts. Umgekehrt erlaubt es die streng konditionale Programmierung dieser Entscheidung, die (damit zusammenfallende) Einleitung eines Ermittlungs- (bzw. Ordnungswidrigkeiten-)Verfahrens der dahinter stehenden Polizeibehörde (und nicht nur einer «Maschine») zuzurechnen.

4.

Literatur ^

Albrecht, Florian, Automatisierung des Anfangsverdachts? Straßenverkehrsüberwachung am Scheideweg zwischen Rechts- und Überwachungsstaat. In: juris PraxisReport IT-Recht (jurisPR-ITR), Ausgabe 11, Anm. 5 (2010).
Harnisch, Stefanie; Pohlmann, Martin, Bild und Videoaufzeichnungen im Bereich der polizeilichen Verkehrskontrolle. In: Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (NZV), S. 380-385 (2010).
Luhmann, Niklas, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, Duncker & Humblot, Berlin (1966).
Polomski, Ralf-Michael, Der automatisierte Verwaltungsakt: Die Verwaltung an der Schwelle von der Automation zur Informations- und Kommunikationstechnik, Berlin (1993).
Popp, Andreas, Verfahrenstheoretische Grundlagen der Fehlerkorrektur im Strafverfahren, Berlin (2005).
ders., Normativität und Richteramt. In: Bung, Jochen, Valerius, Brian & Ziemann, Sascha (Hrsg.): Normativität und Rechtskritik (ARSP-Beiheft 114), Franz Steiner Verlag, Stuttgart, S. 124-137 (2007).
Roggan, Fredrik , Rechtsgrundlage für bildgebende Messverfahren in der Verkehrsüberwachung? In: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Heft 15, S. 1042-1045 (2010).
Schulz, Lorenz, Normiertes Mißtrauen. Der Verdacht im Strafverfahren, Frankfurt a.M. (2001).
Störmer, Rainer, Beurteilungsspielräume im Strafverfahren. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW), 108. Jg., Heft 3, S. 494-524 (2006).



Andreas Popp, Privatdozent an der Universität Passau, Juristische Fakultät, Innstraße 40, 94032 Passau, DE
Andreas.Popp@uni-passau.de


  1. 1 Vgl. hier nurLuhmann, N., Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, Berlin 1966;Polomski, R.-M., Der automatisierte Verwaltungsakt, Berlin 1993.
  2. 2 BVerfG NJW 2009, 3293.
  3. 3 Vgl. etwa OLG Bamberg NJW 2010, 100; OLG Brandenburg NJW 2010, 1471; OLG Celle NZV 2010, 363; OLG Dresden DAR 2010, 210; OLG Düsseldorf DAR 2010, 393.
  4. 4 Überblick etwa beiHarnisch, S.; Pohlmann, M. , NZV 2010, 380 ff.
  5. 5 Vgl. AG Eilenburg 28.10.2009, 5 Owi 256 Js 32476/09;Albrecht, F. , jurisPR-ITR 11/2010, Anm. 5;Roggan, F., NJW 2010, 1042 (1044).
  6. 6 Entsprechend definiert § 48 Abs. 1 Z. 1 öStPO den Beschuldigten als Person, die «auf Grund bestimmter Tatsachen konkret verdächtig ist, eine strafbare Handlung begangen zu haben,sobald gegen sie wegen dieses Verdachts ermittelt oder Zwang ausgeübt wird ».
  7. 7 Hierzu etwa Polomski (FN 1), S. 68 ff.
  8. 8 Vgl. namentlichStörmer, R., ZStW 108 (2006), S. 494 (512 ff.);Schulz, L., Normiertes Mißtrauen, S. 223 ff.
  9. 9 Dazu allgemeinPopp, A. , Verfahrenstheoretische Grundlagen der Fehlerkorrektur im Strafverfahren, S. 208 ff., 236 ff.
  10. 10 Dazu auch schonPopp, A., Normativität und Richteramt (2007), S. 124 (133 ff.).
  11. 11 Vgl. in diesem Zusammenhang (für das deutsche Recht) auch AG Meißen 14.07.2010, 13 OWi 705 Js 36235/09.