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Multisensorische Modelle des Rechts

Zur syntaktischen Entfaltung von Rechtstheorie und Rechtsinformatik

  • Authors: Friedrich Lachmayer / Harald Hoffmann / Vytautas Čyras
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Visualisation, Legal Informatics, Legal Theory
  • Citation: Friedrich Lachmayer / Harald Hoffmann / Vytautas Čyras, Multisensorische Modelle des Rechts , in: Jusletter IT 6 June 2012
Mit dem von ihr thematisierten Forschungsgebiet des Multisensorischen Rechts hat Colette R. Brunschwig von der Universität Zürich einen relevanten Paradigmenwechsel für Rechtstheorie und Rechtsinformatik eingeleitet: Für die Rechtstheorie durch die Ausweitung der Sicht auf das Recht als Gegenstand der Rechtstheorie und für die Rechtsinformatik im Hinblick auf die Konzeption von Maschinen bei der Erzeugung und Anwendung des Rechts. Aber auch für die Modellbildung auf den Reflexions- und Metareflexionsebenen erweist sich dieser Ansatz als innovativ.
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Der Wechsel der wissenschaftlichen Paradigmen (Thomas Kuhn) erfolgt meist unerwartet und sehr oft aus der Peripherie des Faches. Das war etwa mit der nachhaltig bis heute herein wirkenden Rechtslogik der Fall, die durch Georg Henrik von Wright von Finnland her thematisiert wurde. Der sich gegenwärtig vollziehende Paradigmenwechsel mit der Zuwendung zum Multisensorischen Recht (Colette R. Brunschwig) kommt aus dem Übergangsbereich von Rechtstheorie und Rechtspsychologie. Räumlich gesehen ist es die Schweiz, die mit der Weblaw AG dabei ist, eine Führungsposition in der Rechtsinformation einzunehmen.

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In der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts ist ein syntaktischer Aufbruch in der Rechtswissenschaft festzustellen: Beginnend mit den rechtssoziologischen Symbolisierungen Theodor Geigers in den ausgehenden Vierzigerjahren setzt die syntaktische Revolution mit den Arbeiten Georg Henrik von Wrights um die Mitte des vorigen Jahrhunderts voll ein.
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Die Formalisierungen der Rechtslogik sind jedoch von ihrem Zeichenaufbau her gesehen beschränkt, weil sie, zumeist linear aufgebaut, nur einige wenige Elemente enthalten. Zum Teil geht es darum, normative Grundbegriffe zu definieren, etwa die Erlaubnis durch das Sollen, zum Teil kommt es auch in der Anwendung zur Übersetzung einzelner normativer Formulierungen. So sehr die Formalisierungen der Rechtslogik selbst zum Zeichen einer neuen Ära wurden, so sehr blieben sie in ihrer Wirkung begrenzt. Eine scheinbare Kreativität trat dadurch ein, dass fast jeder Autor seine eigene Notation verwendete, also die Formeln anders aussahen, obwohl sie sich strukturell gar nicht so voneinander unterschieden. Die Polnische Notation etwa, die etwa Ilmar Tammelo verwendete, vielleicht weil sie mit der Schreibmaschine leicht realisierbar war, war optisch nicht sehr differenziert.

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In der Anfangszeit der Rechtsinformatik, also in den Sechzigerjahren und in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, waren auch Bibliothekare am Werk, die ihre Dezimalklassifikationen als Gliederungsmuster übernahmen. Eine Textstrukturierung durch hinzugefügte Gliederungseinheiten ist zwar noch lange keine syntaktische Transformation, doch liegt dies dennoch auf der Traditionslinie der Jurisprudenz.
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Die Paragraphengliederung hatte stets schon eine explizite Textstrukturierung mit sich gebracht, die manchmal sogar aus Systemgründen für die Interpretation beachtlich und die schon rein optisch ein Anwendungsfeld für Ziffern war. Ein vermeintlicher Bezug zur Mathematik war durch die regelmäßige Verwendung von Ziffern hergestellt, doch konnte man mit diesen Zahlen nicht rechnen, sie dienten lediglich der Zählung. Dennoch gibt es auch hier eine Entwicklungslinie zur Rechtsinformatik, als das Bedürfnis nach einer seitenunabhängigen Zählung auftauchte und die Lösung in Randzahlen gefunden wurde. Damit ist eine relativ elastische Gliederung des Textes gefunden, die von Auflage zu Auflage beibehalten werden und die auch als Konzept in den modernen e-Kommentar übernommen werden kann.
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Diese Linie der äußeren Gliederung und Textstrukturierung wird mit XML fortgesetzt. Es wird nicht die Syntax geändert, zumindest nicht die vordergründige. Doch durch die Markierung und durch die Verbindung mit Prozeduren und Inhalten wird sehr wohl der pragmatische und semantische Hintergrundraum des Textes verändert. Bei XML könnte man von einer verborgenen (hidden) Syntax sprechen, welche zunächst im Formellen verbleibt, dann aber darüber hinausgehend Wirkungen entfaltet.
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Ein Syntaxwechsel sollte zwar semantikneutral sein, wird es aber meist nicht sein, da die jeweilige Syntax gegenüber der Semantik unterschiedlich leistungsfähig ist. Werden Rechtstexte mittels XML strukturiert und werden damit nicht Layout-Konsequenzen sondern semantische Zusatzinformationen verbunden, so erhalten die Texte damit eine neue Tiefenstruktur.
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Die zum Text hinzutretende, in der Textoberfläche nicht sichtbare (hidden) Markierungssyntax von XML wird schon seit geraumer Zeit in den juristischen Datenbanken genutzt, die semantische Anreicherung scheint jedoch eine Aufgabe des privaten Sektors zu sein.
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In diesem Vorfeld der Textsyntaktisierung befinden sich auch Kategorien der Rechtsinformation, etwa die früheren Kategorien von CELEX und des RIS. Es handelt sich um Metadaten, die in Zeilenform in die Zeilenabfolge des Textes integriert sind. Formell Text, sind sie dennoch funktionell Metadaten. Von diesen dokumentalistischen Textkategorien führt eine direkte Linie hinzu zu den Ontologien.
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Eine Zwischenform ist der Thesaurus, der freilich nicht Textbestandteil ist sondern von vornherein als ein theoretisches Konstrukt auf eine abstrakte Metaebene gehoben ist. Diente er ursprünglich der begrifflichen Klärung, so hat der Thesaurus nunmehr als eine Ausweitung von Suchtstrategien erheblich an Funktion gewonnen.
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Die Syntax des Thesaurus ist von der Seite ihrer Konzeption keineswegs mehr die lineare Wortanordnung der Texte. Ein Thesaurus kann visuell dargestellt werden, etwa als ein vertikaler Begriffsbaum von Begriffen, Oberbegriffen, Unterbegriffen, Nebenbegriffen etc. Dabei sind auch die Arten der Relationen interessant die noch keineswegs als abgeschlossen angesehen werden können.
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Es ist zwischen der Repräsentations-Syntax einerseits und der Konstruktions-Syntax andererseits zu unterscheiden. Ein Thesaurus wird mit einer technischen Sprache (gegenüber der Maschine) konstruiert, gleichsam geschrieben werden, die visuelle Darstellungssprache (gegenüber dem Menschen) wird eine andere sein. Das gilt aber für viele Bereiche der heraufkommenden Maschinenkultur, in der die Benutzeroberfläche benutzerfreundlich zu gestalten ist, die technische Tiefenstruktur aber von diesem Anfordernis unberührt bleibt und vielmehr den funktionalen Erfordernissen der Informatik zu entsprechen hat.
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Unabhängig von dem Trend zur logischen Normalisierung gab es immer schon im Bereich des Rechtes Visualisierungen, insbesondere im Mittelalter, das durch Gewohnheitsrecht geprägt und durch den Bedarf nach einer Verbildlichung charakterisiert war. Mit der Rezeption des römischen Rechts um 1500 und mit dem aufkommenden professionellen, textuell orientierten Juristenstand wurden die Visualisierungen verdrängt.
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Mit der zunehmenden Komplexität der Rechts und der mentalen Öffnung zu technischen Methoden auch im Recht kam es im Laufe des ausgehenden Zwanzigsten Jahrhunderts wieder zu einem vermehrten Auftreten von Visualisierungen, und zwar in mehreren Varianten, wobei bereits in den Siebzigerjahren klar zwischen der Symbolisierung einerseits und der Formalisierung andererseits unterschieden wurde:
  • Die lineare Visualisierung mit logischen Notationen ist zwar formal korrekt, konnte bisher jedoch nur geringe Textmengen auf diese Weise erfassen.
  • Die intuitive Visualisierung hat zwar den Vorteil des thematischen Sichtbarmachens in einer mehr oder weniger virtuellen Landschaft, ist aber keineswegs durchgehend rational rekonstruierbar, was sich in der Rechtsinformatik als Hindernis erweist.
  • In den letzten Jahren ist insbesondere im Wege des Internet eine maschinelle Visualisierung in den Vordergrund gerückt, die zwar von der Methode korrekt ist, aber nicht sehr merkbare Produkte liefert. Diese haben zwar auch eine starke Aussagekraft, doch mehr von der Architektur des Ganzen und weniger von den semantischen Räumen her gesehen.
  • Es gibt auch synthetische Versuche der Visualisierung, etwa im Bereiche der Wirtschaftsinformatik (Hans-Georg Fill), die versuchen, die formalen Methoden mit dem Vorzug der relativen Anschaulichkeit zu verbinden.
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Ein Grundproblem der nontextuellen Notationen und ihrer Nutzung für die Rechtsinformatik scheint zu sein, dass gleichsam die Entfernung zwischen dem Ufer des Rechtstextes und dem Ufer der Techniksprache zu weit ist, um mit einem einzigen Brückenbogen überwunden zu werden. Es bedarf offensichtlich intermediärer Schritte, um diesen Abstand zu überspannen.
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Der erste dieser intermediären Schritte könnte das Zerlegen des Fließtextes, etwa des dt. StGB, in logisch zueinander in Beziehung gesetzte Textblöcke sein, wie dies Florian Holzer in dem Projekt Panorama Strafrecht unternommen hat.
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Von dieser visuellen Textstrukturierung ausgehend ist es dann möglich, weitere Formen der Visualisierung anzustreben, gleichsam den nächsten Brückenpfeiler in dieser intermediären Steinbrücke über die Differenz der Sprachen und Notationen.
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Dafür kommen mehrere Sprach/Zeichen-Schichten in Betracht:
  • Natürliche Sprache
  • Professionelle Sprache
  • Textuelle Exzerpte
  • Szenische Visualisierung
  • Strukturelle Visualisierung
  • Logische Notation
  • Technische Sprachen
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Für die Entwicklung der Rechtsinformatik entscheidend waren aber bisher nicht diese Visualisierungsansätze und auch nicht die Versuche, einzelne Sollsätze logisch darzustellen, sondern vielmehr der Weg, der über den Thesaurus (Friedrich Lang, Erich Schweighofer) hin zu Taxonomien (Monica Palmirani) und zu den Ontologien (Metalex) geführt hat. Auf den Metaebenen werden weder Fließtexte in Umgangssprache oder Fachsprache verwendet, sondern vielmehr Strukturformeln, die mit Begriffen, zumeist der Fachsprache, angereichert sind.
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Diese Metaebenen-Arbeit an den Ontologien ist derzeit Stand der Kunst. Im Sinne des Kuhn‘schen Paradigmenwechselns stellt sich aber bereits jetzt die Frage nach dem Kommenden, nach dem Jenseits der Ontologien.
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In dieser Situation tritt ein neuer Forschungsansatz auf, nämlich das Multisensorische Recht, ein Begriff, der von Colette R. Brunschwig in die Diskussion eingebracht wurde.

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Damit wird der Gegenstand der Rechtstheorie grundsätzlich ausgeweitet. Ging es bisher um zwei Bereiche, nämlich um die rechtlichen Handlungsebenen einerseits und um die theoretischen Metaebenen dazu andererseits, so kommt nunmehr als weiterer, dritter Bereich die Subebene des Multisensorischen Rechts hinzu:
  • Metaebenen der Rechtstheorie
  • Rechtliche Handlungsebenen
  • Subebene des Multisensorischen Rechts
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Die Schichte des multisensorischen Rechts bildet die Basis für die Wahrnehmung und Interpretation des Rechts und wurde schon bisher antizipativ in die Produktion des Rechtes zumindest ansatzweise hineingenommen, was aber noch wesentlich ausbaubar ist.
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In dem Ausmaß nämlich, in dem Rechtsmaschinen menschliche Funktionen im Rechtsbereich nachbilden, werden die Besonderheiten des Multisensorischen Rechts auch Gegenstand der Rechtsinformatik.
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Dieser Vortrag beschäftigt sich mit der methodischen Auswirkung des Multisensorischen Rechts auf die Metaebenen der Rechtstheorie und der Rechtsinformatik.
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Es ist nämlich möglich, die Denkmodelle auf diesen Ebenen nicht nur fachsprachlich oder in formalen Sprachen zu formulieren oder in zweidimensionalen Visualisierungen dazustellen, sondern bewusst dreidimensionale Modelle zu schaffen, welche in ihrer heuristischen Wirkung ungleich leistungsfähiger und der Multidimensionalität des Gegenstandes angemessener sind als die herkömmlichen Formen der Repräsentation. Gelungene mehrdimensionale Modelle waren immer wieder in der Lage, in der Entwicklung einer Wissenschaft neue Impulse zu setzen, z.B. das Atommodell oder das DNA-Modell.

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Angesichts der Komplexitätsproblematik des Rechts könnten multisensorische Modelle in der Lage sein, die komplexen Strukturen des Rechts besser zu verstehen und zu analysieren.
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Multisensorische Modelle sind ebenso wie das Multisensorische Recht selbst Teile eines Gesamtsystems, das etwa mit
  • Multikategorialiät (der theoretischen Metaebenen)
  • Multidimensionalität (der szenischen Handlungsebenen)
  • Multisensorialität (der biologischen Basisebenen)

beschrieben werden kann.

 


Harald Hoffmann, METADAT GmbH, Simmeringer Hauptstrasse 24, A-1110 Wien

Friedrich Lachmayer, Universität Innsbruck, Innrain 52, A-6020 Innsbruck

Vytautas Čyras,Vilnius University, Faculty of Mathematics and Informatics
Naugarduko 24, 03225 Vilnius, LT, vytautas.cyras@mif.vu.lt