I.
Einleitung ^
II.
Die Gründe für das Fehlen der Rechtsinformatik im Jurastudium ^
Zu den Geisteswissenschaften zählte man im 19. Jahrhundert auch die Rechtswissenschaft. Vor allem der schon erwähnte Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) mühte sich darum, der ehrwürdigen «Jurisprudenz», also der blossen «Rechtsklugheit» den Rang einer Wissenschaft zu verschaffen. Obwohl er ein geschworener Anhänger das Gewohnheitsrechtes war, und obwohl er das kurz vor seiner Berufung an die 1810 gegründete Universität Berlin in Kraft gesetzte Gesetz, das Preussische Allgemeine Landrecht, schlicht ignorierte, hat er in seinem Hauptwerk, dem «System des heutigen Römischen Rechts»3, eine Auslegungslehre für Gesetze entwickelt, die bis in die Gegenwart für die juristische Methodenlehre bestimmend geworden ist. Dabei ging es ihm darum, den Anwendungsbereich der Gesetze einzuengen und zu zeigen, wie wenig Gesetze eigentlich zu leisten imstande seien. Das Gegenteil trat freilich ein. Seine Lehre wird heute benutzt, um mit den Kategorien der grammatischen, der historischen, der systematischen und der teleologischen «Auslegung» – der «Savigny-Quart» –, zu der in unserer Zeit noch die verfassungskonforme Auslegung getreten ist, Dinge in die Gesetze hinein zu lesen, die darin nicht stehen. Das gesamte juristische Ausbildungswesen in Deutschland besteht heutzutage im Kern in dem Bemühen, diese «Methode» zu vermitteln. Dass sie in der Praxis so gut wie nie angewandt wird, steht auf einem anderen Blatt.
Auf diese Weise bildete sich eine hermeneutische Wand, an der bislang alle Vorschläge abgeprallt sind, Computer im Zentrum der Rechtsanwendung einzusetzen. Nur ein Mensch – so die verbreitete Überzeugung – sei imstande, ein Gesetz zu «verstehen», es «auszulegen» und dabei beispielsweise zu entdecken, dass auch ein Tier eine «Sache» i.S.d. Straftatbestandes der Sachbeschädigung ist, obwohl im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) das Gegenteil steht und der «normale» Mensch im Tier eher ein Mitgeschöpf sieht. Dieser Grundkonsens hat die Einstellung zum Computer im Recht geprägt. Seit Erscheinen der ersten Untersuchungen zu «EDV im Recht» in den 1960er und 1970er Jahren4 sind Legionen von Veröffentlichungen erschienen, in denen gegen die wenigen Pioniere der damaligen Zeit ausgeführt wurde, Computer könnten Gesetze weder verstehen noch auslegen und hätten daher im Recht nichts zu suchen. Ja, dieses Diktum wurde bereits zu einer Zeit verbreitet, als an Computer noch überhaupt nicht zu denken war. So hat der Soziologe Max Weber (1864–1920) bereits vor hundert Jahren das Schreckgespenst eines «ParagraphenAutomaten» gezeichnet, «in welchen man oben die Akten nebst Kosten und Gebühren hineinwirft, auf dass er unten das Urteil nebst den mehr oder weniger stichhaltigen Gründen ausspeie…»5 Der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann hat im Jahr 1969 geschrieben, der «Rechtsprechungs-Computer» würde sicherlich «ein anderes «Recht» (erzeugen), als es von der richterlichen Rechtsprechung gesprochen wird: ein «Recht», in dem das Gleichheitsprinzip völlig mechanisch manipuliert wird, das keinerlei Rücksicht auf die konkrete, geschichtliche Situation und Individualität nimmt, eine Karikatur der blinden, ganz ‹ohne Ansehung der Person› richtenden Justitia, ein ungeschichtliches und apersonales Recht»6. Daran hat sich bis heute nichts geändert In der Gegenwart hat beispielsweise ein prominenter Anwalt, Benno Heussen, geschrieben, «Recht... können wir aus grundsätzlichen Erwägungen nicht den Maschinen überlassen. Sie müssen uns dienen, nicht umgekehrt...»7.
Die Vorstellung, nur der Mensch könne die juristischen Gesetze verstehen und anwenden, scheint so selbstverständlich zutreffend zu sein, dass sich die IT-Kritiker unter den Juristen kaum jemals die Mühe machen, genauer zu untersuchen, worum es dabei eigentlich geht. «Verstehen» heisst nach Wilhelm Dilthey, aus äusserlich gegebenen, sinnlich wahrnehmbaren Zeichen ein «Inneres», Psychisches zu erkennen. Es setzt «Intelligenz» voraus. Die Wurzel dieses Wortes liegt im Lateinischen, wo die Wörter «inter» (= zwischen) und «legere» (= wählen) zu «intellegere» zusammengefasst wurden. Intelligenz bedeutet demzufolge, eine Situation durch kritische Auswahl von charakteristischen Merkmalen zu verstehen und zu bewältigen. Es geht dabei um die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen, ein Thema, mit dem sich viele Disziplinen beschäftigen. Im Zusammenhang der juristischen Tätigkeit geht es vor allem um das Lernen, um die Orientierung, um das Problemlösen, um die Emotionen, also um das Rechtsgefühl. Generalthema ist dabei die Bewältigung von Komplexität.8
Zu der genannten hermeneutischen Wand kommen die fachlichen Schwierigkeiten der Informatik hinzu. Diese Disziplin ist nicht nur jung, sondern auch spröde. Schon die Technik ist schwer verständlich und wird immer anspruchsvoller. War die Lochkartentechnik noch halbwegs nachvollziehbar, dürfte heutzutage kaum ein Jurist auch nur eine ungefähre Vorstellung davon haben, was beispielsweise ein «Quantencomputer» ist. Entsprechendes gilt für die Methodik. Was beispielsweise eine «relationale Datenbank» ist, dürfte den meisten Juristen auch nach einer Erläuterung weitgehend verschlossen bleiben. Wie jede Disziplin hat auch die Informatik ihre eigene Sprache.13 Ich war nach der Gründung der erwähnten Informatik-Fakultät Mitglied sowohl dieser Fakultät als auch der Juristenfakultät und habe die Verständigungshindernisse beim ersten Zusammentreffen mit einem «echten» Informatiker erlebt, als dieser mich fragte: «Was halten Sie von Symbolics?»14 Bis dato hatte ich gedacht, nur die Philosophen überfallen ihre Opfer mit unverständlichen Redewendungen («Wie stehen Sie zum Solipsismus?») Ich habe mir damals angewöhnt, ohne Hemmungen nachzufragen, wenn ich etwas (und das war und ist vieles) nicht kannte. Das hat immer funktioniert. Heute weiss ich, dass das Leben in zwei verschiedenen Welten sogar seine Reize hat. Wenn mir im Gespräch mit Juristen etwas nicht gefällt, pflege ich zu sagen: «Wir Informatiker sehen das aber ganz anders.» Und bei den Informatikern widerspreche ich gern mit der Einleitung: «Also, aus juristischer Sicht...»
III.
Die Grundlagen und die historische Entwicklung der Rechtsinformatik ^
IV.
Der Computer in der juristischen Ausbildung ^
Fertigkeiten unterscheiden sich von Fähigkeiten. Diese sind angeboren, jene werden durch Training erworben. Ob es spezifisch juristische Fähigkeiten gibt, ist wenig erforscht. Aber auch der begabteste Student benötigt Fertigkeiten, die er nur durch Training erwerben kann. Gegenwärtig findet dieses Training nicht schon in der Ausbildung, sondern erst in der Praxis statt. Ein guter Jurist wird man vor allem durch Erfahrung. Anhand einer ständig wachsenden Menge von Fällen übt er die Fertigkeit, die unbegrenzte Vielzahl und Vielfalt der Konflikte des menschlichen Zusammenlebens im Einklang mit Gesetz und Recht zu behandeln. Während der Wissenserwerb eine durch und durch rationale Tätigkeit ist, findet dieses Training eher intuitiv auf eine Weise statt, bei der das eigentliche Geschehen im Dunkeln bleibt. Was dabei genau geschieht, wird einem regelmässig so wenig bewusst wie dies bei anderen eintrainierten Verhaltensfertigkeiten, etwa den Verhandlungsfertigkeiten, der Fall ist.
Da seinerzeit alle Voraussetzungen für ein solches Vorhaben fehlten, blieb die Freirechtsbewegung folgenlos. Bis heute findet das «Lernen» unverändert vor allem durch Hören und Lesen, kaum durch Tun statt. In Vorlesungen und Seminaren werden juristische Inhalte vermittelt. Gleiches geschieht beim Lesen von Büchern und Fachzeitschriften. Die Studenten erfahren, wie die Dogmatik organisiert ist, was in den Gesetzen steht, was die verwendeten Begriffe bedeuten, welche Motive den Gesetzgeber zu bestimmten Regelungen bewogen haben, was die Gerichte zu Streitfragen entschieden haben, welche Meinungen im Schrifttum zu Rechtsproblemen vertreten werden und manches andere mehr. Diese Vermittlung erfolgt anhand von geschriebenen und gesprochenen Texten. So gut wie nie erfährt der Student jedoch, was er sich davon wie einprägen und was er damit anfangen soll. Sicher ist nur, dass es nicht um die dargebotenen Texte geht. Kein Mensch – vom Schauspieler abgesehen – kann sich Texte merken. Entscheidend sind vielmehr die Inhalte. Aber von welcher Art sind diese Inhalte im Recht? Sieht man einmal von dem erwähnten Grundwissen ab, das zu besitzen Teil der juristischen Bildung ist (Kenntnis der Dogmatik, der Rechtsgebiete, der Gesetze, der Gerichtsbarkeiten usw.), ist das eine Frage, die kaum jemals gestellt, geschweige denn beantwortet wird.
V.
Schlussbemerkung ^
Prof. Dr. Fritjof Haft war Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsinformatik und Strafrecht an der Universität Tübingen und ist Geschäftsführer der von ihm gegründeten Normfall GmbH in München (www.normfall.de).
- 1 Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10. Oktober 2013, BGBl I Nr. 62.
- 2 Dazu Fritjof Haft, Spionage – einst und jetzt, in: Jusletter IT 15. Mai 2014.
- 3 Das Buch erschien 1840 in Berlin.
- 4 Siehe dazu Fritjof Haft, Elektronische Datenverarbeitung im Recht, München 1970.
- 5 Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in derselbe, Gesammelte politische Schriften, 4. Aufl. 1980, S. 323.
- 6 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel, 1972, S. 352 f.
- 7 Benno Heussen, Interessante Zeiten, Stuttgart 2013, S. 334.
- 8 Dazu Fritjof Haft, Juristische Methodenschule, München 2014, S. 141 ff.
- 9 Der Ausdruck leitet sich von den Riemen («Gürteln») her, mit denen Aktenbündel zusammengeschnürt werden.
- 10 Die Datensammler der NSA sprechen bereits von Yottabyte (YB) = 1024 Byte.
- 11 Das Projekt wird von Martin Engel unter dem Titel «Individuelle Verbraucherrechtsdurchsetzung» bearbeitet.
- 12 Das Projekt wird unter der Bezeichnung Gaius von der Normfall GmbH betrieben.
- 13 Ein Beispiel bietet der Begriff «Granularität». Er hat in der Informatik eine ganze Reihe von Bedeutungen, unter denen sich der normale Jurist nur wenig oder gar nichts vorstellen kann: Je nach Anwendung bedeutet Granularität bei Daten den Grad der Aggregation, beim Datenstrom ein Kennzeichen für dessen hierarchische Zerlegbarkeit, beim Rechtemanagement eines Mehrbenutzer-Betriebssystems die Feinkörnigkeit des Rechtemanagements, bei einem Hypertext die Menge des Textes an einem Hypertext-Knoten, bei einer Systemarchitektur die Zahl der Untergliederungen eines Elementes einer parallelen Rechnerarchitektur und bei einer Suchmaschine deren Auflösung.
- 14 Symbolics Inc. war ein US-amerikanisches Computer-Unternehmen, das in den 1980er und 1990er Jahren Computer zum Ausführen der Programmiersprache Lisp gebaut hatte.
- 15 Das englische Magazin THE ECONOMIST, das Kolumnen unter den Namen historischer Persönlichkeiten wie «Charlemagne» und «Bagehot» veröffentlicht, hat 2014 einen neuen Internet-Blog namens «Babbage» eingeführt.
- 16 33 Minn. L. Rev. 455 (1948–1949)
- 17 33 California. L. Rev. Vol. 52 May 1964.
- 18 The A.A.L.S. Jurimetrics Committee, Scientific Investigation of Legal Problems», in Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1962, S. 367 ff.
- 19 Deutsche Rentenversicherung, 1962, S. 149 ff.
- 20 FS Jahrreiss, 1964, S. 189 ff.
- 21 Ernst Fuchs, Was will die Freirechtsschule, 1929, S. 47, wieder veröffentlicht in: Ders., Gerechtigkeitswissenschaft. Ausgewählte Schriften zur Freirechtslehre. Eds. A.S. Foulkes und A. Kaufmann. Karlsruhe, 1965.
- 22 Entsprechende Expertensysteme existierten bereits in den 190er Jahren. Siehe Gerathewohl, Peter: Erschliessung unbestimmter Rechtsbegriffe mit Hilfe der Computers. Ein Versuch am Beispiel der «angemessenen Wartezeit» bei § 142 StGB, Dissertation, Tübingen 1987
- 23 Näher zu den genannten Möglichkeiten mein Buch «Juristische Lernschule», www.normfall.de.