1.
Auf ein kurzes Wort ^
Des Menschen Beine sind seine Bürgen.
Sie führen ihn zu dem Ort, an dem seine
Anwesenheit verlangt wird. b.Sukkah 53a
2.
Psalm 1 – oder irgendwo müssen wir beginnen ^
- Wohl und Glück des Mannes, der nicht ging im Rat der Verlorenen (Abgerückten), und auf dem Weg der Fehler (Fehlerhaften) nicht verweilte und auf dem Sitz der Spötter nicht (niemals) saß;
- Sondern Lust hat an Gottes Weisung und über seine Lehren nachsinnt (sich Gottes Lehren flüstert) Tag und Nacht.
- Er wird sein wie ein Baum, gepflanzt an Wasserläufen, der zu seiner Zeit seine Frucht gibt; und sein Laub verwelken1 nicht: alles was er hervorbringt (macht) gedeiht (alles was er tut, es gelingt).
- Nicht so sind die Verlorenen (Abgerückten), sondern wie Spreu, die Wind verweht. Darum bestehen Verlorenen (Abgerückten) nicht (in der Entscheidung) die Entscheidung, und Fehler (Fehlerhafte) nicht in der Gemeinschaft der Korrekten.
- Denn Gott kennt den Weg der Korrekten (der Begradigten / Gemaßregelten),(alternativ: Denn Gott (ist) in Kontakt auf dem Weg der Gemaßregelten)aber der Weg der Verlorenen verliert sich.
3.
Moral und Heldenhaftigkeit ^
Wir misstrauen dem Einzelnen und seiner moralischen Handlungsfähigkeit, vielleicht misstrauen wir auch seinem Horizont und vielleicht sind wir auch gut beraten, dies zu tun. Aus diesem Grund schaffen wir Ethiken, die allgemeine Normen formulieren und auf vagen Prinzipien basieren. Die Einzelnen sollen diesen Ethiken in ihren Interaktionen erkennbar folgen. Diese Normengefüge, welche den Handlungen der Einzelnen Ziele vorgeben sollen, dienen dazu, innert einer Gemeinschaft eine moralische Ordnung zu gewährleisten. Allerdings zu dem Preis, dass diese Ordnung Gefahr läuft, sich zu verselbständigen. Sie verhilft dem Einzelnen nicht nur, sich zu orientieren, sondern auch, sich über andere hinwegzusetzen. Damit zieht sie durch Abstraktion eine Disparität zwischen den einzelnen Akteuren. Die soziale Ordnung pervertiert ihren Sinn. Ein Umstand, auf den bereits Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung2 hingewiesen haben. Diese allgemeinen moralischen Schemata und die Möglichkeit, sich über andere hinwegzusetzen, rechtfertigen aber genau jene Helden, in deren Namen die mitunter größten Verbrechen in der Geschichte begangen wurden und wohl auch weiterhin begangen werden. Welchen Sinn und welche Auswirkungen haben die (nicht erst) seit der Aufklärung gefeierten abstrakten und allgemeinen Normen in einer Ethik und Sozialordnung? Verführen diese nicht Individuen dazu, sich von der Bürde der Offenlegung ihrer persönlichen Entscheidung zu entlasten? Es ist ein Versteckspiel ähnlich dem eines Richters, der versucht, die von ihm getroffene Entscheidung zu entpersonalisieren und in einem Dickicht an Verweisen und Berufungen zu verstecken. Die Entscheidung und persönlichen Entscheidungsgründe werden entindividualisiert. Nicht anders geschieht es aber mit Normen, an die man sich hält, obwohl sie menschenunwürdig und lebensverachtend sind. Könnte es sein, dass das allgemein Abstrakte, die Tendenz supraindividuelle Normen und Regelungen zu schaffen, d.h. der Wunsch nach einer Universalisierung, selbst das Problem ist?
Interessant an dieser Vorstellung ist, dass sie implizit eine Ontologie voraussetzt, die erst Jahrtausende später von Spinoza und Leibniz in der Monadologie entwickelt wird. Nach dieser Auffassung von Ontologie ist zum einen Ontologie die eigentliche Epistemologie und des Weiteren sind alle materiell-organisatorischen Einheiten miteinander in einem mittelbaren oder unmittelbaren Austausch. Am besten kann man sich das mit dem Wollknäuelspiel vergegenwärtigen. In diesem Spiel werfen sich alle Spieler ein Wollknäuel zu und entwickeln es, so dass am Ende jeder Spieler durch einen Faden mit jedem anderen direkt verbunden ist. Dieser vollständige Graph lässt nun direkte Interaktionen zu: A zieht am Faden, durch den er direkt mit B verbunden ist; aber auch Indirekte: A zieht am Faden, durch den er mit C verbunden ist, und B erfährt eine leichte Spannung in allen Fäden. Damit hätten wir wieder eine schöne Realisation unserer Aussage von A nach B via C. Diese materielle ontische Verbundenheit (ontisch bedeutet in diesem Zusammenhang den real messbaren Ausschnitt der ontologischen Konzeption) hat ein formales Gegenstück. Dieses Gegenstück ist ein Zerrspiegel, der einen Ausschnitt der Welt in sich festhält, wenn man ihn durch feste (rekursive) Regeln fasst. Solche formalen Spiegel der Welt, die gleichsam die Welt enthalten, sind mathematische und logische Formalismen, aber auch analytisch-normative. Sie sind gleichsam die ganze Welt, da sie die Welt aus einer Perspektive heraus spiegeln. Diese Ontologie, d.h. die potentielle Verbundenheit aller Dinge, setzt nun der intellektuelle Sensualismus voraus. Wie sonst könnten Beziehungen, Strategien, etc. erkannt werden, wären sie nicht in einem Verbund und formal gespiegelt? Interessanter Weise ließe sich mit Hilfe dieser hier angedeuteten SSL-Ontologie (monodische Ontologie nach Sokrates, Spinoza und Leibniz) auch ein linguistisches Phänomen erklären: Language as Cultural Tool. Das ist ein alternativer Ansatz zu Chomskys angeborener Grammatik. Diese Theorie wird von Daniel Everett, einem Schüler von Marcelo Dascal vertreten. Letzterer ist ein Leibniz-Experte und analytischer Philosoph. Vielleicht geht diese SSL-Theorie sogar weiter und kann zeigen, dass beide Ansätze ontologisch und somit epistemologisch mit ihr vereinbar sind. Diese linguistischen Theorien würden sich dann nur in zwei Punkten unterscheiden. Einerseits in der Frage nach dem Datenbegriff und andererseits in der Frage, wann die abgebildete Struktur, die in Sprachschemata transformiert wird, den Menschen erreicht. Höchstwahrscheinlich aber ist der kritische und hilfreiche Punkt der des Datenbegriffes und dessen ontologischer Rezeption.
4.
Von Psalm, Moral und Zeichen ^
Peirce definiert die Semiotik als «the doctrine (…) of possible semiosis»3. Diese Zeichenlehre ist mit dem Begriff der Semiose als konstituierendes Moment des Zeichens verbunden. Semiose im Sinne Peirces ist «an action, an influence, which is, or involves, a cooperation of three subjects, such as a sign, its object, and its interpretant, this tri-relative influence not being in any way resolvable into actions between pairs»4 . Eine schöne und klare Darlegung, die noch einiges zur Ausarbeitung offen lässt. Allerdings sehen wir hier schon wieder unser leitmotivisches Dreiergespann: Von A (dem Objekt) nach B (dem Interpreter5) via C (dem vermittelnden Zeichen). Vielleicht haben wir bis jetzt den Eindruck vermittelt, dass sich das Dreiergespann in mechanischer Weise richtungsgebunden liest (A à C à B) und wir nur eine Dynamik im Zeichen und der Rezeption durch den Interpreter zulassen. Allerdings treten auch Zeichen und Objekt zugleich (wie Peirce bemerkte) in eine Interaktion, die dem komplex-dynamischen Dreikörperproblem der Physik in nichts nachsteht. Das Normensystem als Zeichen verschränkt sich mit dem Zeichen und evoziert innerhalb des Zeichens eine Dynamik (hier sehen wir das Zeichen als organisatorisch-formale Einheit im Sinne der Monadologie des Leibniz und Spinoza). Der Austausch mit dem Interpreter erzwingt quasi einen Aufstieg in immer höhere und abstraktere Formalisierungen und reinere Begriffsschöpfungen zur Unterscheidung zwischen dem angemessenen Guten und dem Bösen. Das wirkt über die Zeichen und den Interpreter zurück auf das Objekt, das Leben, die Gemeinschaft und die individuellen Akteure. Das Objekt selbst wird nun nach den Begriffen eingeteilt. Die zwei Reiche des Lebens entstehen. Diese Einteilung und die Lebensweise, welche die Bösen erzeugt und somit wiederum diese Separation, geht abermals zurück auf das Zeichen und den Interpreter und über den Interpreter auf das Zeichen. Wir haben nun nach wie vor die drei Semiose-Elemente, aber eine komplexere Dynamik im Außenverhältnis zwischen den Elementen A↔C↔B↔A, aber auch innerhalb der Elemente. In diesem Sinne sind diese Semiose-Elemente Monaden wie auch die Semiose selbst eine Monade darstellt. Diese interaktionistische Perspektive auf die Semiose im Sinne einer Deutung der Abstraktion normativer Systeme und ihrer Eigendynamik legt nahe, dass diese Zeichenkonzeption eine rein ontologische Struktur aufweist. Sie sind das formale Gegenstück zu den materiellen Komponenten und repräsentieren in unserer Interpretation der Monadologie die Gesamtheit der Welt in einem vielschichtigen Zeichen.
Rainhard Z. Bengez, Mathematiker, Mediziner, Wissenschaftstheoretiker und Rabbiner. Gegenwärtig lehrt er Mathematik und Philosophie an der Nationalen Universität Taipei und an der TU München, wo er u.a. an der computable legal theory arbeitet.
- 1 Der Psalm wird betont und akzentuiert vorgetragen oder gesungen. Das melodisch-rhythmische Moment ist wesentlicher Bestandteil eines Psalms. Das Verbum verwelken bezieht sich auf die Frucht und das Laub, d.h. auf die Präsenz, das Ansehen und das Wirken (Kinder, Werke, geprägte Menschen). Durch eine Pause im Vortrag nach dem Frucht-Abschnitt wird das Verbum akzentuiert und man hört seinen rückbezüglichen Einschluss, seine Umklammerung der beiden Substantive, die für sich stehen, aber gerade durch diese Lücke gemeinsam verbunden werden. Wenn man es liest, so sieht man sie getrennt, doch wenn man es hört, dann erschließt sich einem ihre Zusammengehörigkeit unmittelbar. Das ist ein Stilmittel der Psalmen gewesen. Im Althebräischen ist das leichter zu lesen, oder im Sinne des Psalms, zu murmeln. Dieses Murmeln, das Spiel mit der Sprache, ist auch ein Schlüssel zu ihm und den anderen Psalmen.
- 2 Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1947
- 3 Peirce, Charles Sanders, Collected Papers, Harvard University Press: 1931–1934, 5.488
- 4 Peirce, 5.484
- 5 Diese sicherlich nicht unkontroverse Bezeichnung basiert auf einer Synthese der Semiotik im Sinne Peirces und der ontologischen Erkenntnistheorie Leibniz und Spinozas erweitert um das Konzept des ontologischen Übersetzer des Autor.