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Wie archiviert man ein Verbot?

Zur österreichischen Filmzensur bis 1938

  • Author: Thomas Ballhausen
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Semiotics
  • Citation: Thomas Ballhausen, Wie archiviert man ein Verbot?, in: Jusletter IT 11 September 2014
Im vorliegenden Artikel wird die Geschichte der österreichischen Filmzensur bis 1938 aus der Sicht des Archivs, das gleichermaßen als Denkmodell intellektueller Logistik bzw. Kontextualisierung und als rechtlich wie historisch gerahmte Institutionsform angesetzt werden muss, beleuchtet. Neben Fragen der Archivtheorie, der Ausbildung der Filmarchive als spezifische Institutionen mit nicht minder spezifischen Aufgaben und der Darstellung eines historischen Abrisses der Geschichte der österreichischen Filmzensur, berührt der Artikel auch die Aspekte heterogener Quellenbestände innerhalb archivspezifischer Strukturen, sowie die Optionen und Limits von Vermittlungsangeboten historischer Dokumente im Rahmen nationaler und europäischer Initiativen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Archive als Zeichenträger
  • 1.1. Archivtheorie
  • 1.2. Filmarchive und Filmzensurdokumente
  • 2. Historische Entwicklung der österreichischen Filmzensur
  • 2.1. Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg
  • 2.2. Filmzensur während des Ersten Weltkriegs (1914–1918)
  • 2.3. Die I. Republik: Die vielen Enden der Filmzensur
  • 2.4. Filmzensur im Austrofaschismus
  • 3. Erschliessungsprojekte
  • 4. Literatur

1.

Archive als Zeichenträger ^

1.1.

Archivtheorie ^

[1]

Das Archiv steht für eine geordnete Sammlung, die abseits ihrer stark auf den wirtschaftlichen Bereich fokussierten Ausrichtung, in den letzten Jahrzehnten immer häufiger in konstruktiver Verbindung zu den Bereichen des Museums und der Bibliothek gedacht und konzipiert wird1. Dies liegt neben der Praktikabilität der Verknüpfung wohl zu einem Gutteil auch daran, dass diese Institutionsformen zumeist ebenfalls interne Archive ausbildeten, um heterogene Teilbestände adäquat aufarbeiten und verwalten zu können. Abseits der klassischen Sammlungsinhalte, wie etwa dem Medium Buch (für die Bibliothek) oder dem mehr oder minder singulären Objekt (für das Museum), fanden etwa Nachlässe oder nicht-publiziertes Material ihren Weg in diese Institutionen. Die Herausforderung der Datenerfassung, der Bewahrung und sachgerechten Aufarbeitung verlangte und verlangt nach einem archivalischen Zugang innerhalb erwähnter sammlungsspezifischer Strukturen. Die Bewahrung der Bestände kann dabei als die wohl dringlichste Aufgabe verstanden werden2. Dieser wissenschaftlich unterfütterte Vorgang der Rückgewinnung des Vergessenen, Vergangenen und auch Verdrängten kann nur im Sinne einer Balance zwischen Bewahren und Zugänglichmachen der Bestände – so ihre Beschaffenheit dies zulässt – gedacht und gelebt werden. Das Archiv – das gleichermaßen System der Ordnung und eigentliche Sammlung ist, die durch ein differenzschaffendes Scharnierelement administrativer, submedialer Prozesse verbunden sind – kann auf diesem Weg als Ort der intellektuellen Wertschöpfung begriffen werden, der durch seine heterogenen Bestände vor-geprägt ist. Die unterschiedlichsten Arten des Bestandes sind dabei eben nicht nur wesentliches Kennzeichen, sondern vielmehr auch eine positiv wirksame Rahmenbedingung für den Umgang mit dem jeweiligen Material und Vorgabe gewisser Grundlinien diskursiver Arbeiten und Herangehensweisen. So kann abseits von fälschlich unterstelltem Selbstzweck über eine andauernde Neubewertung nicht nur ein umfassenderes, besseres Verständnis der eigenen Disziplin und neuerer Entwicklungen, sondern auch ein kritisches Analyseinstrumentarium umfassenderer sozialer Prozesse gewonnen werden. Die konsequente Befragung der gegebenen Sammlungsbestände – was also etwa noch als Ausstellungsexponat tauglich ist, oder aber eben schon als Teil einer disziplinhistorischen Auseinandersetzung gilt – kann eben nicht im engen Verständnis einer als allumfassend missverstandenen Hermeneutik der endgültigen und immerwährenden Ergebnisse stattfinden. Vielmehr verlangt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Erinnerung und Archiv nach einer Kette miteinander verknüpfter Auslegungen, die auch die Geschichte des eigenen Arbeitsfeldes befruchten und vorantreiben. Trotz der mitunter kritisch zu betrachtenden Ausrichtung dieser interpretativen Verfahrensweise, ist diese doch die geeignetste, um die Veränderung des Stellenwertes des erfassten Materials, in Bezug zu einer in narrativen Formen organisierten (Disziplin)Geschichtsschreibung und hinsichtlich aktueller Fragestellungen, aufzuzeigen.

[2]

Zu berücksichtigen bleibt dahingehend auch die disziplininterne Bedeutungszuschreibung im Rahmen einer zweifachen Bewegung: Die erste dieser Bewegungen ist die Herausentwicklung des jeweiligen Artefakts aus einer der Entropie verhafteten Phase der Unordnung, des Chaos», vielleicht sogar des Mülls in einen Zustand der Aufwertung3. Die zweite, daran wohl zumeist anschließende Bewegung, ist die einer – auch mnemotechnisch relevanten – Zirkulation von Semantisierungsleistungen im Rahmen der Auseinandersetzung mit Sammlungsbeständen und Einzelobjekten, einem Diskurs im Sinne eines Oszillierens zwischen zwei Spannungspunkten. Diese intellektuell-logistische Leistung schließt auch Bedeutungsverschiebungen und (Neu)Bewertungen mit ein. Auch hinsichtlich der (metaphorischen) blinden Flecken, die sich durch die Eingebundenheit in ein System ergeben – also im weitesten Sinne eine Bezüglichkeit im Sinne von Position, Beobachtung und zu verrichtender Arbeit – kann das Erkennen dieser Position, ganz im Sinne einer weiterführenden Verbindung von Rationalität und Sammlung, zu einer Erkenntnis der Teilhabe an historischen bzw. historisierenden Prozessen führen. Dabei ist es ja durchaus erstrebenswert, die Gegenwärtigkeit dieser mnemotechnischen Archivarbeit dabei nicht aus den Augen zu verlieren, also an aktuellen Diskursen zu partizipieren und dem dringlichsten Wunsch der Archive nachzukommen: einem delirierenden Zustand zu entkommen und auf eine Ordnung zuzusteuern, die in der Lage ist, sich selbst kritisch zu befragen und der eigenen Disziplin sinnvolle Möglichkeiten der Unterstützung und der (Selbst)Reflexion im Sinne einer metaphorischen Registratur bieten zu können. Dies gilt auch in einem umfassenden Sinne für die in den Institutionen tätigen Personen, die durch ihre Tätigkeit immer auch im Archivdiskurs mitgemeint und miteingeschrieben sind. Sie sind somit die Verantwortlichen, die mit ihrer Leistung dazu beitragen müssen, dass das Gleichgewicht der Verantwortung gegenüber den Beständen und auch gegenüber der Öffentlichkeit gewahrt bleibt. Nur im aktiven Brückenschlag zwischen Institution, Sammlung und aktiver Forschungsarbeit – eine notwendige Initiative, die auch in aktuellen filmspezifischen Publikationen bislang mehr gefordert denn beschrieben wird4 – kann der Weg einer seriösen, zwischen interdependenten Partnern ausgehandelten Erschließung im Sinne von Material und Öffentlichkeit liegen.

1.2.

Filmarchive und Filmzensurdokumente ^

[3]
Schon in der Frühzeit des Films machten sich die Verantwortlichen und Produzenten Gedanken, wie das sensible Material dauerhaft bewahrt und sinnvoll archiviert werden könnte: Der Wunsch nach der adäquaten Sicherung, Lagerung und weiteren Bearbeitung des Materials – der Kernaufgaben eines jeden Archivs – ist bereits für das späte 19. Jahrhundert dokumentiert. Bis zum Ende der zwanziger Jahre des Folgejahrhunderts kommt es weltweit zur Einrichtung von Abteilungen für audio-visuelle Medien innerhalb bestehender, etablierter Institutionen und auch zur Gründung neuer, meist staatlicher Stellen mit Arbeitsschwerpunkt auf dem Medium Film. In den dreißiger Jahren öffnen in fast allen klassischen filmproduzierenden Ländern Filmarchive ihre Pforten, die zugleich die ersten Mitglieder des auch heute noch bestehenden Dachverbandes der Filmarchive (FIAF) darstellen. Das Filmarchiv Austria wurde, damals noch unter dem Namen Österreichisches Filmarchiv, in seinem Gründungsjahr 1955 Mitglied der FIAF, in der es damals wie heute aufgrund seiner Aktivitäten und Bestände eine wichtige Position einnimmt. Gemäß der Materiallage und der unterschiedlichsten Teilsammlungen, die den Grundstock des inzwischen um ein Vielfaches angewachsenen Filmbestand des Filmarchivs ausmachen, konzentrierte man sich in den ersten Jahren auf grundsätzliche Basisarbeiten – Aufgabenbereiche, die auch heute noch wahrgenommen werden: Der schon erwähnte Kreislauf aus Sammeln, Bewahren und Zugänglichmachen bestimmt die filmwissenschaftliche Arbeit des Hauses, die um wesentliche Tätigkeiten ausgebaut wurden. Insbesondere in der Vermittlung, Lehre und Forschung hat sich das Filmarchiv seit 1997 neu positioniert und sich dabei – stets seine Kernagenden wahrend – im Dienste des Films und der interessierten Öffentlichkeit eingebracht. Mit der Einrichtung eines Studienzentrums als aktive Schnittstelle und mit weitreichenden Kooperationen definiert das Filmarchiv zusammen mit seinen Partnern neue Möglichkeiten akademischer Zusammenarbeit und fördert damit nicht nur die (inter)nationale Forschung, sondern auch den wissenschaftlichen Nachwuchs. Nur auf diesem Weg kann gleichermaßen der Verpflichtung zur Öffentlichmachung und der dauerhaften Sensibilisierung für Film als wertvolles, eigenständiges und eigengesetzliches Quellenmaterial nachgekommen werden. Grundlage dieser Idee einer permanenten und steten Verlebendigung des Archivguts im Sinne der Benutzer und des zu bewahrenden Materials ist eine Balance aus Bewahren und Verfügbarmachen der umfassenden heterogenen Bestände, in denen filmzensurspezifische Dokumente so wie andere Rechtsdokumente auch eine nicht unwesentliche Größe darstellen.
[4]

Zensurdokumente besitzen nicht nur für die historische Erforschung dieses Teilbereichs großen Wert; es ist auch möglich, wichtige Informationen über verschollene Filme aus ihnen zu erschließen. Abhängig vom Typ des ausgewerteten Dokuments finden sich etwa Hinweise auf den Inhalt, das Herkunftsland oder die beteiligten Personen. Filmhistorisch sind diese Dokumente bezüglich des Bereiches der Filmrekonstruktion dahingehend bedeutend, da, was besonders hervorzuheben ist, mit der Zensur eine Art der (erzählerischen) Vereinheitlichung des Films an sich vorangetrieben wurde. Vor einer Filmzensur waren beispielsweise eigenmächtige Veränderungen und Neuarrangierungen der Szenenfolgen ebenso an der Tagesordnung wie der mögliche Missbrauch der Position des den Film begleitenden Rezitators5, auf den später noch eingegangen werden wird. Der Begriff der Zensur, der im sprachlichen Umgang eindeutig negativ vorbelastet ist, bewegte sich seit jeher im Spannungsfeld zwischen politisch bzw. gesetzlich festgelegten Normen und jenen Neuerungen, die diese Normen kritisch befragten, bedrohten oder auch unterminierten. Unabhängig von staatlichem Einschreiten im Bereich der Politik oder des Schutzes der Gesellschaft bzw. ihrer Mitglieder waren immer auch Werke der Kunst und der Literatur das Ziel der Kontrollversuche. Diese Umstände haben auch für die Entwicklung der Filmzensur in Österreich Bedeutung; nicht zuletzt deshalb ist bei der wissenschaftlichen Erforschung dieses Bereichs, die durch eine schwierige Quellenlage nicht unbedingt erleichtert wird, eine Vielzahl von unterschiedlichsten Faktoren zu berücksichtigen. Mit der Aufarbeitung der Geschichte der österreichischen Filmzensur besteht somit nicht nur die Möglichkeit, eine eher ästhetisch ausgerichtete Filmgeschichtsschreibung um wesentliche Aspekte zu ergänzen, sondern darüber hinaus die Relevanz der an diese Forschung geknüpften Fragestellungen in einem interdisziplinären Kontext zu verdeutlichen.

2.

Historische Entwicklung der österreichischen Filmzensur ^

2.1.

Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg ^

[5]

Die Spektakelgewohnheit des Publikums war bereits durch Attraktionen wie mechanische Theater oder die Laterna Magica gewährleistet, die etwas wie eine unbewusste Vorbereitung auf das Kino mit sich brachten6. Diese prä- und frühkinematographischen Phänomene wurden aber nicht nur im Rahmen von Zirkussen und Varietés eingeführt und etabliert7; vielmehr lässt sich hier auch ein fließender Übergang zum Bereich der sogenannten Hochkultur nachweisen8.

[6]
Der Betrieb dieser frühen Kinematographenvorstellungen in Österreich, die durch Wanderkinos mit Ende des 19. Jahrhunderts im gesamten Kaiserreich Verbreitung fanden, wurde bis zur Einführung speziell für diesen Bereich entwickelter Gesetze unter Anwendung älterer Vorschriften geregelt. Dabei wurde etwa auf ein Theatergesetz aus dem Jahre 1850, ein kaiserliches Dekret aus dem Jahre 1852, das ein Darstellungsverbot unsittlicher Handlungen enthielt, oder sogar ein Hofkanzleidekret aus dem kinofernen Jahr 1836 zurückgegriffen – Gesetze, die auch die legale Grundlagen für Vergnügungsparks und Side-Shows darstellten und regional unterschiedlich gehandhabt wurden. Das Einschreiten der Behörden in der frühen Phase der Filmzensurgeschichte ist noch abhängig von Anzeigen durch aufgebrachte Besucher, wie etwa die Beschwerde eines Kanonikus eines Augustinerstifts, dessen Brief an den Brixener Bürgermeister auch folgende Passage enthält:
    [...] denn es kommen darin so schamlose Darstellungen vor wie ich sie nie in irgendeiner Weise gesehen habe z.B. total nackte Menschen (wie ich glaube diversi generis denn ich wollte so Scheußliches nicht näher sehen) die [...] sich berührten, sich umarmten, übereinander warfen etc. etc. und das sahen [...] auch eine bedeutende Anzahl ganz junger oder nur halb erwachsener Kinder. Ich fühle mich im Gewissen verpflichtet, Euer Hochwohlgeboren auf diesen Mißstand aufmerksam zu machen und bitte Euer Hochwohlgeboren einem solch die allgemeine Sittlichkeit gefährdenden Zustand ein möglichst schnelles Ende zu bereiten9.
[7]

Anzeigen dieser Art sind in größerer Zahl überliefert und «gaben in ihrer Häufung den Behörden wahrscheinlich den Anlass, die Filmvorführungen regelmäßig zu überprüfen»10. Ab 1898 kam es zu einer ständigen lokalen Überprüfung der Filme, die durch verpflichtende Vorzensur und die Anwesenheit eines Polizisten während der Vorstellungen gewährleistet werden sollte. Dies schien eine durchaus praktikable Lösung, waren die Vorführungen doch vom Aufenthalt der Wanderkinos oder von Kinematographenbesitzern in Gaststätten oder Hotels abhängig und somit zeitlich und lokal eingegrenzt. 1901 erließ Niederösterreich als erstes Bundesland eine Verordnung, in der «alle Wanderkünstler, Kino- oder Zirkusbesitzer für ihre Vorführungen und Schaustellertätigkeiten eine vorherige Bewilligung der Wiener Polizei einzuholen hatten»11.

[8]

In den Bundesländern gab es erst ab 1906 die Tendenz zu festen Kinosälen, vor Errichtung von Neubauten kam es zur Modifizierung vorhandener Gebäude für diese Zwecke. Die Einrichtung einer ebenso fixen Zensurbehörden ließ nicht lange auf sich warten. Wien, das auch bezüglich der festen Aufführungssäle eine Vorreiterrolle wahrnahm, hatte auch auf dem Gebiet der formellen Zensur eine zumindest teilweise wirksame zentralisierende Funktion. Die Ausbreitung des Phänomens Kino machte die Organisation einer überregionalen Filmzensur notwendig: «1906 wird in Berlin die erste überörtliche Vorzensur eingerichtet, der [im Dezember] 1907 Wien folgt»12.

[9]
Diese erste institutionalisierte Filmzensur war durch ein sehr kompliziertes Verfahren belastet, da in Wien jeder Film für jeden Gemeindebezirk neu vorgelegt und somit auch nochmals zensuriert werden musste. Der Aufwand und die Kosten vervielfachten sich, wenn man die Menge der zur Vorzensur eingereichten Filme bedenkt, die zuerst bei den Filmfirmen selbst von den Polizeiorganen besichtigt wurden. Die Betriebe, die unter dem großen finanziellen und zeitlichen Mehraufwand zu leiden hatten, waren natürlich an einer Vereinheitlichung der Filmzensur interessiert. Mit der Verlegung aller Vorführungen von Filmnovitäten in das Stiller-Kino in der Nähe des Wiener Praters und dann in den Aufführungssondersaal des sogenannten Spektakelreferats wurde eine kleine Verbesserung der Zustände erreicht. Bei der Vorzensur konnte die Polizei die Vorführung zwar verbieten, eine vorsorgliche Beschlagnahmung des Filmmaterials war aber nur in Verbindung mit einer unmittelbar zu erfolgenden Anklage möglich. Vernichtung von Filmmaterial stellte im Zensurverfahren eher die Ausnahme dar. Ein Beispiel hierfür ist die Zerstörung mehrerer Filme anstößigen Materials im Jahre 1907, der mehrere Beschwerden von österreichischen Botschaften im Ausland und die Überprüfung österreichischer Kinos, die sogenannte «Herrenabende» angekündigt hatten, vorausgegangen waren. Ab 1909 begann die Polizei auch Filmbegleittexte und die entsprechenden Werbematerialien zu zensurieren; ab etwa diesem Zeitpunkt beginnt auch die Veröffentlichung von Zensurentscheidungen in Fachzeitschriften.
[10]

Neben der offiziellen Zensur durch die Polizei entwickelte sich auch eine vom k. u. k. Bezirksschulrat Wien durchgeführte Schulzensur. Die Vertreter der Schulen machten sich besonders gegen die Rolle des Erklärers im Kino stark, da «die Erklärer mit manchen Nebenbemerkungen gegen die guten Sitten verstoßen würden»13. Dies führte dazu, dass beispielsweise in Tirol die werbemäßige Nutzung anstößiger Bilder als auch deren Kommentierung untersagt wurde.

[11]
Der nicht zu verleugnende Einfluss der Schulen und der dazugehörigen Behörden bewirkte wenig später das Erlassen einer Verordnung, die den Besuch des Kinos für Jugendliche unter 16 Jahren regelte. Die Filmindustrie reagierte darauf mit scharfer, aber nahezu wirkungsloser Kritik. Wohl auch unter dem zunehmenden Druck von Seiten der Kinogegner und der davon ungeminderten Expansion der Kinobetriebe im gesamten Kaiserreich beriefen die zuständigen Behörden 1912 eine Enquete ein, auf der ein neues, praktikableres Kinogesetz vorbereitet werden sollte. Am 12. April 1912 wurden als vorbereitende Maßnahme Fragebögen an etwa 70 Personen verschickt, die dann auch an der Konferenz teilnehmen sollten. Bei dieser Enquete nahmen schlussendlich Mitglieder der Polizei, Lehrer, Geistliche, Berater aus der Tourismusbranche, Abgesandte von Frauenorganisationen und auch Vertreter der Filmindustrie teil. Bei den dort stattfindenden Beratungen wurde zwar über den Aufbau von beratenden Gremien, in denen Beamte und Berater unterschiedlichster Gebiete eingebunden werden sollten, verhandelt, doch die angestrebte Zentralisierung und Vereinheitlichung der Zensur konnte dabei nicht erreicht werden.
[12]

Die verständliche Hauptkritik an der gehaltenen Enquete, «dass man zwar über die Einrichtung einer Zensurstelle gesprochen hat, aber nicht, wie sie zusammengesetzt sein soll»14, lässt sich nicht nur aufgrund des Fehlens wichtiger Entscheidungen begründen. Die bei dieser Enquete speziell für das Kino erarbeitete Verordnung des Ministeriums des Inneren [Nr. 191] im Einvernehmen mit dem Ministerium für öffentliche Arbeiten vom 18. September 1912, betreffend die Veranstaltung öffentlicher Schaustellungen mittels eines Kinematographen enthielt nämlich auch ein rückwirkendes Jugendverbot, das frühere Zensurentscheidungen aufhob und nun die Besitzer entsprechender Filme in ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten bringen konnte. Im beigefügten Erklärungstext dieser Verordnung, die eigentlich nur als temporäre Lösung konzipiert war und dann doch bis 1930 Gültigkeit hatte, wurde den Landeszensurstellen empfohlen, den Zensurentscheidungen der Wiener Behörden zu folgen. Nach einer kurzen Phase der Vereinheitlichung kam es wieder zur Aufsplitterung: «Mit Sicherheit gab es im Jahr 1916 außer der Wiener Zensurstelle zusätzliche Zensurbüros in Prag, Innsbruck und im schlesischen Troppau»15, die aktiv regionale Zensurentscheidungen für Filme vornahmen, die in Wien bereits zensuriert worden waren. Insgesamt waren außerhalb Wiens dreizehn regionale Filmzensurstellen, die mit der Beurteilung von nicht in Wien eingereichten Filmen betraut waren, tätig. Die Vielzahl von Filmzensurstellen brachte eine unvermeidliche Subjektivität in den länderspezifischen Zensurentscheidungen mit sich. Eine verpflichtende mehrmalige Einreichung eines Films, besonders in den westlichen Bundesländern, war damit ebenfalls nicht abgeschafft – vollkommen unabhängig davon, ob die fünfjährige Gültigkeitsdauer der jeweiligen Zensurentscheidungen bereits überschritten war oder nicht.

2.2.

Filmzensur während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) ^

[13]
Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam es zu einer Verlagerung und Verschärfung der Zensur- und Kontrollmaßnahmen. Bis zum Ausbruch des Kriegs waren regionale Unterschiede an der Tagesordnung. So war etwa ein Film mit nationalistisch-italienischem Hintergrund in Wien erlaubt, in Tirol aber verboten. Diese Nivellierung von Unterschieden brachte eine weniger an der Kontrolle von Sittlichkeit, als vielmehr politisch motivierte Filmzensur mit sich:

 

    Die Filmzensur aber war zu allen Zeiten eine scharfe, besonders strenge, und die Kriegszeit hat eigentlich nur in dem Sinn noch eine Verschärfung gebracht, daß gewisse Filme mit militärischen oder politischen Sujets jetzt auch zum großen Teil verboten werden16.

 

[14]

Im Gebiet der Österreichisch-Ungarischen Monarchie wie auch im Deutschen Kaiserreich kam es zu einem Einfuhrverbot von Filmen aus feindlichen Staaten. Damit gab es eine kurzfristige günstige Auswirkung für heimische Produktionen, da französische und italienische Konkurrenzprodukte nicht mehr importiert oder vorgeführt werden durften. Auf Anregung der Filmwirtschaft, die in ihrer Argumentation ausführte, dass mit dieser Vorgehensweise auf Dauer nur die heimischen Betriebe geschädigt werden würden, wurden bereits importierte Filme wieder zugelassen – wenn auch unter der Auflage, «dass die Firmenzeichen gelöscht und im Filmgeschehen ebenfalls Hinweise auf das Produktionsland gelöscht werden»17.

[15]
1915 wurde ein Zensuramt innerhalb des k. u. k. Kriegsarchivs etabliert, das auf Weisung des Kriegspressequartiers arbeitete. Vorerst zensierte diese Stelle nur die im Kriegspressequartier erstellten Filme, dann alle als militärisch-relevant eingestuften Filme. Der Leiter des Kriegspressequartiers, Oberst Wilhelm Eisner-Bubner, wollte zeitweise die Militärzensur auf den gesamten Filmbereich innerhalb des Kaiserreichs ausdehnen; ein Ansinnen, das vom Innenminister, unter Hinweis auf die Zuständigkeit der Polizeidirektion Wien, verhindert wurde und der Filmindustrie wohl größte Schwierigkeiten ersparte.
[16]

Die Zensur bezüglich des für das Kriegspressequartier erstellten Bildmaterials ist wohl am ehesten als eine Form der Beschneidung der filmischen Arbeit zu verstehen. Jedes der an der Front tätigen Teams hatte die jeweils gemachten Aufnahmen ausführlich zu dokumentieren, um die Arbeit der Kompilation der daraus entstehenden Kriegswochenschauen optimal zu gewährleisten. Die Wirksamkeit der Unterdrückung zeigt sich nicht nur an den durchaus auch geglückten Versuchen, die Kriegswochenschauen im neutralen Ausland mit Erfolg vorzuführen; die eigentliche Bestätigung für diese Annahme findet sich in den Listen der verwendeten Zwischentiteln. Im Gegensatz zum Filmmaterial dieser Produktionen, das zum Großteil als verschollen gilt, ist das verwendete Wortmaterial außergewöhnlich gut dokumentiert. Insgesamt existieren drei einander ergänzende Listen18, die mehrere Schlussfolgerungen zulassen:

  • der Krieg wird als ein Konflikt der Massen vermittelt; das Wort «Ich» scheint in den Listen der Zwischentitel der Kriegswochenschauen nur einmal auf.
  • die Kriegswochenschauen können als eine frühe Form des Informational Warfare verstanden werden; das Wort «tot» scheint in den Listen der Zwischentitel nur einmal auf – und dann in Bezug auf ein totes Pferd.
  • die Kriegswochenschauen weisen in ihrer wirkungsästhetischen Konzeption die Tendenz auf, das Publikum stärker an das gezeigte Geschehen zu binden. Dies belegen etwa eine im Verlauf des Krieges immer stärker werdende erzählerische Strukturierung der Kriegswochenschauen, die bewusste Thematisierung des Phänomens Kino oder der deutliche Gegensatz zwischen der Anonymisierung des Feindes und einem intermediell vorangetriebenen Aufbau «kinotauglicher Kriegshelden» aus dem k. u. k. Gebiet.
[17]
1916 wurde aufgrund verstärkter Beschwerden von der Seite der Schulbehörden ein totales Besuchsverbot kinematographischer Vorstellungen für Jugendliche unter 16 Jahren erlassen. Ausgenommen waren davon nur schulische Veranstaltungen. In einem damit in Verbindung stehenden Polizeidirektionsrunderlass vom 24. Juni 1916 wurden die dementsprechend veränderten Kriterien, laut der nur noch humoristische und belehrende Filme für das jugendliche Publikum erlaubt waren, für die Zensurierung von Filmen für Jugendvorstellungen dargelegt. Noch im gleichen Jahr reichten Vertreter der Filmwirtschaft bei der Regierung und der Polizeidirektion eine Denkschrift ein, in der sie erneut die Vereinheitlichung und Zentralisierung der Filmzensur und die Einrichtung einer Berufungsinstanz gegen erlassene Verbote forderten. Beide Punkte sind wohl in Bezug zum sich breitmachenden Regionalismus bezüglich der Filmzensurentscheidungen zu sehen.

2.3.

Die I. Republik: Die vielen Enden der Filmzensur ^

[18]

Auf Beschluss der provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918 wurde die Zensur aufgehoben. Damit war aber keineswegs ein Ende der Filmzensur erreicht, wurde die Fortführung derselben doch so verteidigt, dass mit der Zensurabschaffung doch nur die Pressezensur gemeint gewesen sei. Dass die Filmzensur aus der allgemeinen literarischen Zensur erwachsen war, wurde dabei verschwiegen: «Die zahlreichen Erklärungen, dass es im republikanischen Österreich keine Zensur mehr gäbe, blieben eher ungehört»19.

[19]
Die Wiener Polizei, die bis 1926 mit der Filmzensur betraut war, unterteilte im Rahmen ihrer Tätigkeiten Filme in die drei Kategorien «Filme in Jugendvorstellungen geeignet», «Filme in Jugendvorstellungen nicht geeignet» und «nicht zugelassene Filme». In ihrer Vorgehensweise berief sich die Polizei dabei immer wieder auf die zuvor erwähnte Verordnung Nr. 191 aus dem Jahre 1912, nach der jeder Film, der zur Vorführung gelangen sollte, mit einer Erlaubniskarte der Polizeidirektion Wien versehen werden musste. 1920 kam es in der Nationalversammlung zu einer heftigen Diskussion bezüglich einer Wiedereinführung der Filmzensur und einer Novelle der damit zusammenhängenden Gesetze. Die damals vorgestellte Variante, in der das Verbot aller Filme gefordert wurde, die nicht rein mimetischen Charakters wären, wurde aber niemals umgesetzt. Die die Filmzensurgeschichte Österreichs kennzeichnende Aufsplitterungstendenz ist auch für den Zwischenkriegsbereich nachzuweisen. Ab diesem Zeitraum wird diese sogar noch deutlicher spürbar, waren doch mittels Verfassungsnovelle aus dem Jahre 1925 sämtliche Belange des Theater- und Kinowesens vom Bund auf die Länder übergegangen. Die Errichtung einer Reihe eigenständiger Landes- und sogar Gemeindezensurstellen für Film war das Ergebnis dieser Kompetenzverlagerung.
[20]

Am 23. Juni 1926 erklärte der Verfassungsgerichtshof erneut jede Form der Zensur für aufgehoben, «lediglich die Bestimmungen zum Jugendschutzgesetz blieben aufrecht»20. In der Folge erschienen – was unter Berücksichtigung der bisherigen Zensurgeschichte wohl nicht weiter verwunderlich ist – zahlreiche hymnische Artikel auf die nun zu erwartenden, geradezu paradiesischen Zustände. Einer der wichtigsten und aussagekräftigsten dahingehenden Artikel erschien im März 1926 im Periodikum Der Filmbote. Der wesentlichste Teil dieser umfangreichen journalistischen Arbeit ist aber eine angefügte Nachbemerkung:

 

    Wie wir kurz vor Redaktionsschluß erfahren, steht eine Verlautbarung der Wiener Polizeidirektion bevor, daß Filme nach wie vor zur Zensur einzureichen sind. Da uns die Begründung dieser mit der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes in Widerspruch stehenden Anschauung der Wiener Polizeidirektion zur Stunde noch nicht bekannt ist, behalten wir uns vor, in unserer nächsten Nummer ausführlich darauf zurückzukommen21.

 

[21]

Sowohl Vor- als auch Nachzensur wurden weiterhin betrieben. Zu Änderungen kam es m. E. nur in Details und Bezeichnungen. So wurde die Filmzensur durch einen Vorführungszwang vor der öffentlichen Aufführung ersetzt, die Zuständigkeit der überwachenden Tätigkeit verlagerte sich von der Polizei zur Magistratsabteilung 52. Offiziell erfolgte die Überprüfung der Filme zur Feststellung ihrer Jugendtauglichkeit – eine Strategie, die sich auch als Versuch der wirtschaftlichen Einwirkung verstehen lässt. Nach erfolgter Freigabe und Ausstellung einer Vorführungsbestätigung konnte das jeweilige Werk zur Aufführung gelangen, diese Bestätigungen waren aber nur in Wien und Niederösterreich gültig. In Tirol, wo man sich nur sehr kurze Zeit über an den Wiener Entscheidungen orientiert hatte, und in mehreren anderen Bundesländern mussten die entsprechenden Filme erneut zur Begutachtung vorgelegt werden. Spezifische Landesgesetze wurden von Tirol 1927, von Vorarlberg 1928 und von der Steiermark 1930 erlassen. Unter Bezugnahme auf die zuvor erwähnte Verfassungsnovelle nahmen diese Bundesländer «de facto Zensurparagraphen in ihre Kinogesetzgebung[en]»22 auf. Im Falle eines Verbotes durch eine der Landesstellen blieb den Einreichenden nur der mühsame Gang vor den Verfassungsgerichtshof.

2.4.

Filmzensur im Austrofaschismus ^

[22]
1930 wurde ein neues Kinogesetz erlassen, das bezüglich der Überwachung der Kinobetriebe und der Aufführungen dem Magistrat und der Polizei besondere Aufgaben zuwies. Das Magistrat hatte nun betriebstechnische Gegebenheiten zu überprüfen, die Bundespolizeidirektion die Vorführungen, Ankündigungen und die Einhaltung der Sperrstunde. Nach der Machtübernahme der Austrofaschisten mehrten sich die Stimmen, die eine Wiedereinführung der formellen Zensur forderten. Vorarbeit zur Etablierung einer solchen institutionellen Zensur wurde mit der Verordnung Bundesgesetzblatt 20 vom 9. März 1934 geleistet, in dem eine Bewilligung durch Handels- und Unterrichtsministerium für die öffentliche Vorführung von Filmen obligatorisch wurde.
[23]

Die Maiverfassung 1934 brachte eine gesetzliche Verankerung der Zensur, die durch ein im Mai 1935 erlassenes, weiteres Kinogesetz ergänzt wurde. Im austrofaschistischen Ständestaat wurden im allgemeinen Zensurverhalten vier Schwerpunkte berücksichtigt:

  • die Verhinderung sogenannter linkspolitischer Agitationen;
  • die Verhinderung von Verspottung der Religion und Verstößen gegen die Sittlichkeit;
  • der besondere Schutz des Ansehens Österreichs;
  • die Verhinderung nationalsozialistischer Propaganda.
[24]
Alle zur öffentlichen Vorführung bestimmten Filme bedurften ab sofort einer vom Magistrat erteilten Vorführungsbewilligung, die nach der Einreichung beim Besonderen Stadtamt II und einer Prüfung durch einen Beirat, dessen Urteil für das Stadtamt aber nicht bindend war, erteilt werden konnte. Es gab aber relativ wenige Verbote, was wohl auch damit zu erklären ist, dass man heimische Produktionen nicht behindern wollte und Filme mehrmals zur Begutachtung eingereicht werden konnten. Einreichungen waren außerdem beim Filmbüro der Handelskammer und der Filmbegutachtungsstelle des Unterrichtsministeriums empfohlen, etwa zur Erlangung eines Prädikats für den jeweiligen Film.
[25]
M. E. trat die Filmbegutachtungsstelle mit der skizzierten Arbeit an den Platz der nicht mehr vorhandenen Schulzensur. Die Handelskammer hingegen war, wohl auch um die Vielzahl der Kompetenzüberschneidungen staatlicher Stellen einzugrenzen, in den letzten Jahren des austrofaschistischen Ständestaats besonders auf dem Gebiet der Einfuhrkontrolle ausländischer Filme tätig. Die rigide, kostenpflichtige und durchaus komplizierte Prozedur, die der jeweilige Einreichende hinter sich zu bringen hatte, sollte eine Regulierung der Filmimporte und der damit verbundenen Kopienzahlen gewährleisten.
[26]
Eine weitere Verkomplizierung der Situation brachte die Einrichtung einer Filmstelle des Österreichischen Jugendbundes und des Instituts für Filmkultur, bei denen ebenfalls Filme zur Begutachtung vorgelegt werden konnten und die mit ihren Urteilen – und den damit verbundenen Publikationen – ebenfalls nicht unwesentlich auf das weitere Schicksal des jeweiligen Werks einwirken konnten.
[27]

Die Filmindustrie, die sich verständlicherweise gegen jede Form der Zensur zur Wehr gesetzt hatte und der nun die politische Unterstützung verloren gegangen war, forderte unter den geschilderten chaotischen und absolut unübersichtlichen Gegebenheiten erneut eine Vereinheitlichung der Zensur. Auch die Bemühungen um eine Vereinfachung der Filmzensur, das entsprechende Bundesgesetz über das Verbot der Vorführung staatsfeindlicher Filme aus dem Jahre 1935 und dahingehenden Diskussionen im Rahmen einer Filmkonferenz 1936 brachten keine Verbesserungen. Sämtliche Versuche der Vereinheitlichung scheiterten an den Bundesländern, allen voran Tirol und Vorarlberg, die bezüglich der Filmzensur auf ihre verfassungsmäßig zugestandenen Länderkompetenzen pochten: «Alle [An]Fragen, Initiativen und offiziellen Verpflichtungen scheiterten an der Sturheit der einzelnen Bundesländer. Noch im März 1938 kämpfte man um die Vereinheitlichung der Filmzensur»23.

3.

Erschliessungsprojekte ^

[28]

Im Rahmen zweier größerer Forschungsprojekte, einerseits der Veröffentlichung von Zensurdokumenten und materialien innerhalb der (um einen Begleitband mit historischen Artikeln24 ergänzten) Reihe Materialien zur österreichischen Filmgeschichte25, andererseits dem inzwischen erfolgreich abgeschlossenen EU-Projekt COLLATE (Collaboratory for Annotation, Indexing and Retrieval of Digitized Historical Archive Material) und der notwendig gewordenen Übernahme der darin zur Verfügung gestellten Dokumente in das EFG (European Film Gateway), werden bisher vernachlässigte Primärquellen zur Filmzensurgeschichte einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

[29]
An dem grundlegenden Projekt COLLATE waren, neben projektkoordinierenden und technischen Unternehmen, auch das Deutsche Filminstitut, das Prager Národní Filmovy Archiv und das Filmarchiv Austria beteiligt. Diese Archive erarbeiten für mehrere tausend Filme aus dem historischen Bereich der dreißiger Jahre eine vergleichende Filmzensurgeschichte. Diese Verschränkung nationaler und internationaler Forschungsarbeit ist besonders für den historischen Bereich der 1930er-Jahre Jahre, auf den das COLLATE-Projekt fokussiert war, von wesentlicher Bedeutung; liegen für diese Phase doch auch besonders umfangreiche Quellen vor. Diese Primärquellen für die Arbeit des österreichischen Partnerarchivs sind sogenannte Zensurkarten, die in der I. Republik obligatorische Voraussetzung für die behördlich genehmigte Aufführung waren. Diese Karten, die auch für eine Vielzahl von verschollenen Filmen erhalten sind, enthalten nicht nur Basisinformationen wie Titel, Länge, Produzent und eine Aufstellung der Hauptdarsteller des jeweiligen Films. Neben der einreichenden Firma, dem Datum und der zuständigen Stelle – die ja, wie oben erwähnt, während des austrofaschistischen Ständestaates wechselte – finden sich auf diesem Dokumenttyp auch eine kurze Inhaltsangabe des jeweiligen Films und eine Auflistung etwaiger zensierter Szenen und Zwischentitel.
[30]
Für eine usergerechte, zeitgemäße Erleichterung im Materialzugriff, die auch grenzüberschreitend funktioniert, bietet das Medienbündel Internet hervorragende Voraussetzungen. Nachdem sich europäische Filmarchive seit Jahren verstärkt der Digitalisierung sowie Verbreitung ihrer Filmbestände via Internet zuwandten, war es sinnvoll, diese Aktivitäten im Sinne der Benutzerfreundlichkeit zu bündeln. Zentral für Bewältigung dieser Aufgabe ist das frei zugängliche Portal EFG (European Film Gateway), dessen Entwicklung mit EU-Mitteln des eContentplus-Programms der Europäischen Kommission unterstützt wurde. Im Zentrum dieses 2008 begonnenen Forschungs- und Entwicklungsprojekts stand eben die Entwicklung eines Portals, das den praktisch barrierefreien Zugang zum facettenreichen europäischen Filmerbe – vom Bewegtbild bis zum Zensurdokument – ermöglicht. Die unerlässliche Balance zwischen Verlebendigung der Bestände und konservatorisch einwandfreier Bewahrung des Materials kann dabei bestmöglich gewahrt bleiben. Das EFG als zentraler Ausgangspunkt ermöglicht die individuelle (Neu-)Erschließung der einzigartigen Bestände europäischer Filmarchive und ist in das strukturell übergeordnete Portal EUROPEANA eingebunden. Mit Aufarbeitung bzw. Zugänglichmachung der Zensurdokumente entsteht nun die Möglichkeit, wesentliche historische, bisher vernachlässigte Quellen zur österreichischen Filmgeschichte in die Filmgeschichtsschreibung zu integrieren und so neue Aspekte aufzuzeigen. Darüber hinaus kann durch die historisch korrekte Rekonstruktion von Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen auch ein besseres Verständnis der gegenwärtigen Situation, sei es etwa im Bereich der Jugendschutzbestimmungen bezüglich Kino oder von Zensurfällen nach 1945, erlangt werden.

4.

Literatur ^

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Anonym, Die Filmzensur ist abgeschafft!, in: Der Filmbote (1926), pp. 1–7

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Ballhausen, Thomas / Caneppele, Paolo (Hrsg.), Entscheidungen der Wiener Filmzensur 1929–1933, Materialien zur österreichischen Filmgeschichte 10, Filmarchiv Austria: Wien 2003

Ballhausen, Thomas / Caneppele, Paolo, Die Filmzensur in der österreichischen Presse bis 1938, Eine Auswahl historischer Quellentexte, Turia + Kant: Wien 2005

Ballhausen, Thomas / Krenn, Günter, (Re)Telling War, Austrian Newsreels of the First World War Between Presentation and Representation, in: Journal of Film Preservation 10 (2003), S. 7–9

Birett, Herbert, Die Österreichische Filmzensur während des Kaiserreiches. Ein Beitrag zur österreichischen Filmgeschichte, München [Typoskript]: München 1987

Bohn, Anna, Denkmal Film. Band 1: Der Film als Kulturerbe, Böhlau: Wien 2013

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Caneppele, Paolo, Il cinema a Bressanone (1896–1918); Collana di Pubblicazioni del Museo Storico in Trento, Museo Storico in Trento: Trento 1995

Caneppele, Paolo, Beschnittene Schaulust. Entstehung und Entwicklung der Filmzensur in Österreich. Ein Abriß (1900–1938), in: Medien & Zeit. Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart 2 (2001), S. 22–34

Caneppele, Paolo (Hrsg.), Entscheidungen der Tiroler Filmzensur 1919–1920–1921. Mit einem Index der in Tirol verbotenen Filme 1916–1922; Materialien zur österreichischen Filmgeschichte 3, Filmarchiv Austria: Wien 2002a

Caneppele, Paolo (Hrsg.), Entscheidungen der Tiroler Filmzensur 1922–1938. Nebst einer Auswahl zeitgenössischer Gesetzestexte; Materialien zu österreichischen Filmgeschichte 4, Filmarchiv Austria: Wien 2002b

Caneppele, Paolo (Hrsg.), Entscheidungen der Wiener Filmzensur 1911–1914; Materialien zur österreichischen Filmgeschichte 5, Filmarchiv Austria: Wien 2002c

Caneppele, Paolo (Hrsg.), Entscheidungen der Wiener Filmzensur 1922–1925; Materialien zur österreichischen Filmgeschichte 8, Filmarchiv Austria: Wien 2002d

Caneppele, Paolo (Hrsg.), Entscheidungen der Wiener Filmzensur 1926–1928; Materialien zur österreichischen Filmgeschichte 9, Filmarchiv Austria: Wien 2002e

Caneppele, Paolo (Hrsg.), Entscheidungen der Tiroler Filmzensur 1917–1918; Materialien zur österreichischen Filmgeschichte 2, Filmarchiv Austria: Wien 2003a

Caneppele, Paolo (Hrsg.), Entscheidungen der Prager Filmzensur 1916–1918; Materialien zur österreichischen Filmgeschichte 12, Filmarchiv Austria: Wien 2003b

Châteauvert, Jean, Das Kino im Stimmbruch, in: Kintop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films 5 (1996), S. 81–93

Faßler, Manfred, Kampf der Habitate. Neuerfindung des Lebens im 21. Jahrhundert; Edition Transfer; Springer: Wien 2012

Fossati, Giovanna, From Grain to Pixel. The Archival Life of Film in Transition, Amsterdam University Press: Amsterdam 2009

Loacker, Armin, Die ökonomischen und politischen Bedingungen der österreichischen (Ton-)
Spielfilmproduktion der 30er Jahre, [Diplomarbeit Universität Wien], Wien 1992

Musser, Charles, The Emergence of Cinema : The American Screen to 1907; History of the American Cinema 1; Charles Scribner’s Sons: New York 1990

Paech, Anne, Zirkuskinematographen. Marginalien zu einer Sonderform des ambulanten Kinos, in: Kintop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films 9 (2000), S. 83–89

Paul, William, Unheimliches Theater, in: Kintop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films 8 (1999), S. 117–139

Ridener, John, From Polders to Postmodernism. A Concise History of Archival Theory, Litwin Books: Duluth 2009

Thompson, Michael, Mülltheorie. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Essen, Klartext, 2003, ISBN 978-3-8986-1081-0.


 

Thomas Ballhausen, Koordinator des Studienzentrums im Filmarchiv Austria, Österreich.

  1. 1 Ridener 2009; Faßler 2012.
  2. 2 Auer 2000.
  3. 3 Thompson 2003, 31 ff.
  4. 4 Fossati 2009; Bohn 2013a; Bohn 2013b.
  5. 5 Châteauvert 1996.
  6. 6 Bonetto / Caneppele 2001, 23–52; Musser 1990.
  7. 7 Paech 2000.
  8. 8 Paul 1999.
  9. 9 Caneppele 1995, 76.
  10. 10 Birett 1987, 7.
  11. 11 Caneppele 2001, 22.
  12. 12 Birett 1987, 5.
  13. 13 Birett 1987, 11.
  14. 14 Birett 1987, 14.
  15. 15 Caneppele 2001, 25.
  16. 16 Anonym 1918, 2.
  17. 17 Birett 1987, 6.
  18. 18 Ballhausen / Krenn 2003.
  19. 19 Caneppele 2001, 27.
  20. 20 Loacker 1992, 26.
  21. 21 Anonym 1926, 7.
  22. 22 Loacker 1992, 26.
  23. 23 Caneppele 2001, 32.
  24. 24 Ballhausen / Caneppele 2005.
  25. 25 Ballhausen / Caneppele 2003; Caneppele 2002a; Caneppele 2002b; Caneppele 2002c; Caneppele 2002d; Caneppele 2002e; Caneppele 2003a; Caneppele 2003b.