[1]
Im Laufe der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts hat sich im Sog der sog. Critical Legal Studies eine Auffassung herauskristallisiert, nach welcher das Gesetz etwa auf einen gewaltsamen politischen Eingriff des Dritten in das naturwüchsige ethische Verhältnis zwischen dem Ich und dem Anderen zurückgeführt werden kann. Den entscheidenden Ansporn haben Critical Legal Studies in den Vereinigten Staaten im Jahre 1989 erlebt, und zwar in einer Reihe von Symposien an der New Yorker Cardozo Law School unter dem Titel Deconstruction and the Possibility of Justice, die mit Jacques Derridas Vortrag Gesetzeskraft in Gang gesetzt wurde. (Derrida 1991a) Zu jener Zeit befand sich die Dekonstruktion, immer noch im unheimlichen Schatten des «Falls Paul de Man», unter den starken Anklagen wegen ihrer unbesorgten anything goes-Philosophie, die lebenswichtige ethische und politische Unterschiede einebnet. Als repräsentativ für den damals vor allem unter den sog. linken Intellektuellen verbreiteten Verdacht eines neokonservativen Relativismus darf ja die wohlbekannte Kritik von Jürgen Habermas an Derrida im Band Der philosophische Diskurs der Moderne (1985) genommen werden. In solch einem politisch aufgeladenen Zusammenhang setzte sich Derrida in seinem erwähnten Vortrag unter anderem die Aufgabe, das Verhältnis der Dekonstruktion zur deutlicher politisch ausgerichteten Kritischen Theorie möglichst klar herauszuarbeiten. Aus diesem Grunde nimmt er die berühmte Abhandlung von Walter Benjamin Zur Kritik der Gewalt als Vorlage seiner Lektüre. Die Gewaltfrage war dabei auch nicht ganz von ungefähr aufgerollt, sondern eher mit besonderer Rücksicht auf die von Derrida kurz davor vorgenommene Ehrenrettung des höchst fragwürdigen Verhältnisses zum Nationalsozialismus von Paul de Man und Martin Heidegger (Derrida 1988, Derrida 1992a). Die letztgenannten «Gewalttäter» hätten nun einem Opfer des Nationalsozialismus Platz räumen sollen, also Walter Benjamin, dessen Ansichten nach Derridas Meinung eine genauso aufmerksame dekonstruktive Lektüre, wenn auch aus dem entgegengesetzten Blickwinkel verdient haben.
[2]
Allerdings widmet sich Derrida dem Thema der Gewalt nicht zum ersten Mal in seinem Benjamin-Vortrag. Ganz im Gegenteil, zieht ja dieses Thema sozusagen von Anfang an durch sein Werk, da das Wort bereits im Titel von zwei großangelegten Kapiteln seiner frühen Bücher Grammatologie und Schrift und Differenz niedergeschrieben steht (Derrida 1976: 121–234; Derrida 1983: 171–243). Man könnte vielmehr behaupten, dass dieser Begriff inmitten Derridas früherer zeichentheoretischer und sprachtheoretischer Phase seine späteren rechtstheoretischen und politisch-ethischen Interessen ankündigt. Merkwürdigerweise nimmt das frühe Konzept der Gewalt im Denken Derridas einen so zentralen Platz ein, dass es sozusagen die unüberbrückbare Kluft überbrückt und sowohl die Operationsweise der Différance als auch jene der Metaphysik bezeichnet. Obwohl sich nämlich diese zwei Konzepte gegenseitig ausschließen, wohnt den beiden ein Kraftakt inne, sodass sie von einer allumfassenden «Ökonomie der Gewalt» kontaminiert sind (Derrida 1976: 36f., 100f., 195ff.).
[3]
Indem sie durch Aufschübe, Spaltungen, Falten und Einbrüche jedwede Identität von sich selbst teilt, heißt es erstens in Bezug auf die Urschrift der Différance, trägt sie eine unumgängliche «Spur der Gewalttätigkeit» in sich (Derrida 1976: 99f.).
Das Einzige im System zu denken, es in das System einzuschreiben, das ist die Geste der Ur-Schrift: Ur-Gewalt, Verlust des Eigentlichen, der absoluten Nähe, der Selbstpräsenz, in Wahrheit aber Verlust dessen, was nie stattgehabt hat, einer Selbstpräsenz, die nie gegeben war, sondern erträumt und immer schon entzweit, wiederholt, unfähig anders, als in ihrem eigenen Verschwinden in Erscheinung zu treten. (Derrida 1983: 197)
[4]
Dieser «Usurpation, die immer schon begonnen hat» (Derrida 1983: 66), dieser «differentiellen Kraft und Gewalt der différance» (Derrida 1991a: 15) setzt sich, zweitens, die vereinheitlichende Kraft und Gewalt der Metaphysik entgegen, die eine immer-schon-innere Differenz sei es durch entschlossene Benennung, Identifizierung oder Phänomenalisierung in der Gestalt eines Feindbildes nach außen projiziert. Dabei gibt sie aber ihr stillschweigendes Repräsentationsmanöver als gewaltfrei, unschuldig und harmlos aus (Derrida 1983: 236). Stellvertretend dafür sei z.B. Saussures Geste der Austreibung der Schrift und damit letztendlich auch der Differenz aus der phonetischen Sprache, die von Derrida, statt als «wissenschaftlich wertfrei», wie sie intendiert und proklamiert war, als eine widersprüchliche ethisch-politische Entscheidung analysiert wird. Saussures linguistisch-deskriptivem Postulat vom Wort als Grundeinheit der Sprache wohnt ein diskriminatives Urteil inne und insofern enthält es notwendigerweise auch eine präskriptive Gesetzessetzung. Was nun diesen metaphysischen Kraftakt von der Gewalt der Différance unterscheidet, besteht darin, dass er verborgen, ja vielmehr verneint bleibe im Unterschied zur Gewalt der Différance, die sich selbst als einen Kraftakt anerkenne und kundgebe. Dementsprechend wird die erstere Gewalt von Derrida als eindämpfende, disziplinäre, ja totalitäre angesehen, die letztere hingegen als bewusstmachende, öffnende und befreiende. Im Kontext der allgemeinen «Ökonomie der Gewalt» mildere und mindere diese reflektierte also jene andere, blinde Gewalt (Beardsworth, 8ff.).
[5]
Damit ist aber keineswegs gesagt, dass sie selbst gewaltfrei ist. Im Gegenteil, denn sie muss dem metaphysischen Diskurs ja auch ihrerseits Gewalt antun, d.h. dem vernichtenden Krieg, den der metaphysische Diskurs gezwungener weise gegen die Différance führt, wiederum den Krieg erklären und damit eingestehen, «dass noch kein Frieden ist» (Derrida 1976: 179). «Der zweite Krieg als Anerkennung ist die geringstmögliche Gewalt, die einzige Möglichkeit, die schlimmste Gewalt im Zaume zu halten: die des primitiven und prälogischen Schweigens, einer unvorstellbaren Nacht […], einer absoluten Gewalt.» (Derrida 1976: 197). Mit dieser «Kriegserklärung» ist bereits der wichtigste Ansatzpunkt einer eigentlich erst zu kommenden dekonstruktiven Ethik skizziert: Wenn gewaltsame Urteile schon sowieso unhintergehbar sind, ist es viel besser mit Rücksicht auf unvermeidliche Ausschlüsse zu verfahren als ohne eine derartige Rücksicht. «Ohne die Präsenz des Anderen, aber auch konsequenterweise ohne Abwesenheit, Verstellung, Umweg, Aufschub, Schrift gibt es keine Ethik. Die Urschrift ist der Ursprung der Moralität wie der Immoralität. Nichtethischer Anbeginn der Ethik. Gewaltsamer Anbeginn.» (Derrida 1983: 243). Dekonstruktion wird damit zum Différancebewusstsein schlechthin, zum Bürge der Wachsamkeit gegenüber der «ursprünglichen und transzendentalen Gewalt» (Derrida 1976: 190, 194) oder zum Stützpunkt der Verantwortung gegenüber dem ausgeschlossenen Anderen promoviert, die durch keine nachträgliche Gesetzgebung annulliert werden kann. Weil die Différance jedem Gesetz vorausgeht, gelte es, sich ihren subversiven Bewegungen gegenüber lieber zu öffnen als zu verschließen, und zwar dadurch, dass man das eigene Subjekt zu ihrem Medium macht. Indem sie in dieser Weise jedwede Souveränität ihres Subjekts prinzipiell aufgibt, wird die Dekonstruktion zu einer Art der Verwirklichung, wenn nicht gar der Einverleibung der Différance.
[6]
Um aber die angekündigten Ausführungen zur Gewalt- und Gesetzesfrage im Benjamin-Vortrag besser verstehen zu können, empfiehlt es sich zuvor möglichst genau zu erforschen, wie die von der Dekonstruktion in Schutz genommene Différance allmählich zur Gerechtigkeit umstilisiert wurde. Der erste wichtige Schritt in dieser Richtung wurde im Laufe der 70er Jahre gemacht, als die Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie ihre Erweiterung auf das Terrain der Volkssouveränität erlebte. Immerhin lässt sich bereits die Koinzidenz von Einzelinteressen und dem Allgemeinwillen, wie sie von Derrida in seiner Dekonstruktion von Rousseaus Theorie des Gesellschaftsvertrags im Grammatologie-Buch ausgeführt wird, in eine aufschlussreiche Verbindung mit der Aufhebung der subjektiven Intentionen in den sozialen Konventionen in der Sprechakttheorie bringen, wie sie von Derrida in seinem vieldiskutierten Austin-Vortrag «Unterschrift Ereignis Kontext» (1971) dargelegt wird (Krauß, 120ff.). Derrida zufolge trachtet Rousseau danach, jene wohlbekannte Entäußerung, die in der politischen Ordnung zwischen dem Volksrepräsentanten und dem repräsentierten Volk stattfindet, durch das Ideal des Allgemeinwillens (volonté générale) als total transparenten Repräsentanten aufzuheben. In einen unbemerkbaren, insignifikanten Signifikant (wie z.B. das Geld, die Sprache oder die Vernunft) verwandelt, schließt der automatisierte Wille die Kluft zwischen Sein und Sollen und führt damit die Gesellschaft mit Hilfe der Kultur zurück zum Naturzustand. Falls der Souverän nämlich über den Gesellschaftsvertrag konstituiert sei, falle sein subjektiver Wille mit dem Allgemeinwohl zusammen, wobei der Staat sich nahezu Merkmale eines newtonianischen Universums aneigne (Bennington 1985: 162; Bennington 1994: 248).
[7]
Aus dem Blickwinkel der Dekonstruktion jedoch bedeutet das von Rousseau anvisierte Prinzip der Volkssouveränität ein gefährlich vollständiges Aufgehen der Individuen im Volk, infolge dessen der Umschlag in einen absoluten Totalitarismus droht:
Jede einzelne Person wäre unmittelbar mit dem Volk als ganzem identisch, alle wären gleich, aber niemand wäre mehr frei. Sie wären alle ständig an demokratischen Verfahren beteiligt, wären ununterbrochen und unmittelbar mit allen allgemeinen Interessen befasst, weil es immer ihre eigenen Interessen sind. So würde das Individuum aufgehen in das Volk, seine Interessen verlieren und wäre vollständig mit Politik überlastet. […] Das mit sich identische Volk kennt keine unterschiedliche Interessen und folglich keine Wahl mehr. (Demirovic 129)
[8]
Um ein derartig unerwünschtes Ergebnis vorwegzunehmen, besteht die Dekonstruktion darauf, dass der allgemeine Wille sich von der Subversion des partikularen Willens niemals völlig loslösen kann. Dasselbe gilt übrigens auch für die von der Sprechakttheorie beanspruchte Identität der Sprachkonvention, deren jegliche partikulare Anwendung von einer unvorhersehbaren Bedeutungsverschiebung beunruhigt bleibe. Dieser unumgängliche Mangel an der angestrebten Selbstgenügsamkeit des kollektiven Subjekts wird durch eine Paradoxie in seinem Handeln erklärt. Was nämlich in beiden Fällen bereits als Voraussetzung seiner Souveränität vorhanden sein müsste – der allgemeine Wille bzw. die Bedeutungsidentität – entsteht eigentlich erst als nachträglicher Effekt des geschlossenen Vertrags bzw. ausgeführten Sprechakts. Diese Aporie inmitten des Subjekts wird aber durch eine stillschweigende Annahme sowohl in der Theorie des sozialen Vertrags als auch in der Sprechakttheorie verwischt. Da die ihren physischen Trieben ausgelieferten Egoisten des Naturzustandes dem Interesse am Allgemeinwohl kaum folgen können, «Rousseau himself seems to require that the people have the attributes which will arise from society in order to institute it.» (Bernasconi 1990: 1557). Einen ähnlichen Anspruch erhebt auch Austin als er in seinem Konzept des Performativs von bereits feststehenden Angemessenheitsbedingungen ausgeht, obwohl die letzteren ja erst als Auswirkung einer jeweils gegebenen Performanz möglich sind.
[9]
Solch einer Beseitigung der Unentscheidbarkeit in der Konstitution des kollektiven Subjekts setzt sich die Dekonstruktion dadurch entgegen, dass sie dieses Subjekt grundsätzlich von der Bindung an das gestrige Gesetz befreit. Würde sich der Souverän einem Gesetz beugen, das aus der Vergangenheit heraus Macht über ihn ausübe, dann würde seine in Anspruch genommene absolute Präsenz geschmälert und seine absolute Freiheit eingeschränkt bleiben.
Angesichts dessen, dass Rousseau darauf besteht, dass der Souverän nicht durch das Gesetz gebunden sein kann […] bestünde das unverwechselbare Merkmal der Souveränität in dem Recht, seine Versprechen und seine Gesetze zu brechen. Nur dadurch, dass er seine Versprechen und Gesetze bricht, würde der Souverän im Prinzip in der Lage sein, sie zu halten… Der Allgemeinwille wird selbst nur zu einem gegenwärtigen, wenn er versammelt wird; doch da die Versammlung stets von heute ist, ist sie morgen schon wieder vergangen… Jeder darauffolgende Moment kann und muss im Prinzip von vorangegangenen unterschieden sein. (Weber, 116f.)
[10]
Falls aber das kollektive Subjekt derart lediglich im Aufschub existiert, in einer Kette von wiederholten Repräsentationen bzw. Setzungsakten, denen ein die volle Legitimität bzw. Bedeutung verhindernder individueller Rest stets innewohnt, dann stellt sich die Différance als paradoxe Bedingung des Gesetzes bzw. der Kommunikation heraus. Hätte es nämlich gar keine Identität in den konstitutiven Wiederholungen gegeben, würde es zu Missverständnissen kommen und die Kommunikation würde misslingen. Gelinge hingegen die völlig identische Wiederholung, werde die Kommunikation überflüssig und erstarre in der Wiederholung des Immergleichen. In derselben Art und Weise macht die Différance zugleich die Bedingung der Möglichkeit des Allgemeinwillens und die Bedingung seiner Unmöglichkeit (Bennington 1994: 249). «If that journey closed into a perfect circle with no danger of accident along the way […] then politics would be destroyed into a frictionless functioning» (Bennington 1985: 165).
[11]
Die stillschweigend gezogene Parallele zwischen dem Funktionieren des Rechts und der Kommunikation wird bis zur Überlappung zweier Bereiche in Derridas Dekonstruktion der nordamerikanischen Unabhängigkeitserklärung geführt (Derrida 1984). Das Volk, auf das sich diese Erklärung beruft, um sich selbst zu bevollmächtigen, existiere im Moment der Erklärung überhaupt noch nicht als Einheit. Wie kann man aber ein Dokument im Namen von etwas noch-nicht-Vorhandenem legitim unterzeichnen? Geht es hier nicht um eine illegitime Selbstermächtigung, die die Spuren der Différance aus dem politischen Handeln auszutreiben versucht? Im Ursprung der Gründung lässt sich also dementsprechend ein verschlungener und gespaltener Moment der Zeitlichkeit, ein unabdingbares après coup erkennen: Man konstatiere die Souveränität des Volkes, das doch erst performativ eingesetzt werden soll. Gerade um die Lücke solch eines konstativ kontaminierten, notwendig unvollständigen Performativs aufzufüllen, suche man nach der Rückversicherung bzw. Zuflucht bei unterschiedlichen Ermächtigungsinstanzen wie Gott, Natur, Volk, Schicksal oder Geschichte. Indem kein Sprechakt seine Bedeutung aus sich selbst heraus garantieren kann, ist er gezwungen, nach der Unterstützung einer ihm angeblich vorausgehenden Instanz zu greifen, die ihn dann ihrerseits aber notwendigerweise zum Scheitern bringt (Honig, 104ff.). Weder die Vergangenheit in der Gegenwart, noch das Außen in dem Innern, noch das Andere im Selbst lassen sich also ohne ein «undenkbares Residuum» absorbieren. Dieser wiederkehrende Fremdbezug in jeglicher performativen Identitätsbildung, erklärt Derrida,
ist nichts anderes als das von uns mit der Literatur assoziierte Verhältnis zum Gesetz. Und dieses Verhältnis impliziert zwangsläufig, dass die Autonomie unmöglich ist. […] Das Gesetz, das man sich gibt, bleibt unabdingbar auf jenes bezogen, das man vor dem Gesetz übernimmt […] und dieses allein ermöglicht, indem es die Autonomie selber unmöglich macht, das Verlangen nach Autonomie. (Bennington/Derrida, 259)
[12]
Mit dem «literarischen» Verhältnis des Gesetzes zu demjenigen, was vor dem Gesetz existiert, bezieht sich Derrida in diesem Zitat offensichtlich auf seinen Essay über Kafkas Erzählung Vor dem Gesetz (Derrida 1985). Weil der literarische (d.h. unentscheidbare) Charakter des Performativs eine wichtige Rolle spielt in der Öffnung des Gesetzes der Gerechtigkeit (d.h. Différance) gegenüber, und weil diese Öffnung ihrerseits den zentralen Platz in den angekündigten Ausführungen zur Gesetzeskraft einnimmt, wollen wir diesen Essay im folgenden etwas näher erörtern.
[13]
Kafkas Erzählung bedeutet für Derrida vor allem einen niveaureichen und facettenreichen Treffpunkt des Literarischen (Singularen) und Rechtlichen (Universalen), der trotz beidseitigen Ansprüchen auf Selbständigkeit auf gegenseitige Kontamination zweier Pole hinweist. Das Gesetz seinerseits widersetzt sich allen Versuchen, aus der Geschichte abgeleitet (d.h. erzählt) zu werden, weil dies seine Allgemeingültigkeit einschränken würde. Da es aber bekannter weise niemals gleich gerecht gegenüber allen Betroffenen ist, gab es im Namen der Zuschadengekommenen immer wieder Versuche, das Gesetz gerade durch solch einen Hinweis auf etwas Vorgesetzliches zu relativieren. Derrida lässt sich der Illustration halber auf Freuds «mythisch-erzählerischen» Versuch in Totem und Tabu ein, die Entstehung des Moralgesetzes (oder kantschen kategorischen Imperativs) aus einem Urereignis bzw. dem Schuldgefühl der Brüder wegen des begangenen Vatermords zu derivieren. Wie konnten sich aber die Brüder für ihre Tat schuldig fühlen, so Derridas Frage, wenn das Ereignis dem Moralgesetz (wie von Freud dargestellt) vorausging; um ihr Verbrechen wirklich bereuen zu können, müssten sie ein bereits vorhandenes Gesetz gebrochen haben. In Freuds Beweisführung haben wir also wieder einmal mit der oben erörterten performativen Verwechslung des Effekts mit der Voraussetzung zu tun. Aus dieser unhintergehbaren Aporie leitet Derrida den Schluss ab, dass es unmöglich sei, die Geschichte des Gesetzes aus dem Zuständigkeitsbereich des Gesetzes selbst herauszuziehen. Weder lässt sich also das Gesetz gegenüber der Geschichte (in beiden Sinnen des Wortes histoire: literarisch und historiographisch), noch die Geschichte gegenüber dem Gesetz verselbständigen. Beide müssen sich aporetisch auf etwas beziehen, was ihre Setzung voraussetzt, ihnen also unabwendbar entgeht und somit die Bedingung der Un/möglichkeit ihrer Identität ausmacht.
[14]
Was nun sowohl dem Gesetz als auch der Geschichte vorausgeht, lässt sich an diesem Punkt unserer Auslegung ja bereits unschwer als Différance erkennen, hier «das Gesetz des Gesetzes» genannt (Derrida 1985: 121), das seinerseits alle Unterschiede unentwegt setzt, selbst aber ihnen ebenso unentwegt entgeht. Gerade aber dieser Überrest einer uneinholbaren Vergangenheit – eines unbewusst archivierten Gedächtnisses sei es des Gesetzes oder der Geschichte, das sich jeglicher Erinnerung widersetzt – macht das Versprechen ihrer ebenso uneinholbaren Zukunft (d.h. begriffen als etwas, was immer-erst-zu-kommen-hat, à-venir) aus. Obwohl das Konzept des Versprechens, das in diesem Essay nur einmal verwendet wird (Derrida 1985: 117), in den darauffolgenden Arbeiten Derridas einen immer wichtigeren Platz einnehmen wird, kann es in einer letzten Analyse lediglich als Weiterführung und Aufarbeitung früherer Konzepte der Différance oder Spur betrachtet werden (Beardsworth, 36). Derrida geht es folglich immer um dasselbe – durch das Anerkennen des nicht-unterscheidbaren Ursprungs aller Unterschiede womöglich Gewalt zu vermindern – und wenn er der verdrängenden Metaphysik gegenüber diese ethisch notwendige Bewusstmachung zuvor der Dekonstruktion zuwies, nun eignet er dem Recht oder der Philosophie gegenüber die Stellvertretung des ausgeschlossenen Anderen der Literatur an. Anstatt sie nämlich zu verhindern, wie die anderen Diskurse es zu tun pflegen, meint Derrida, neigt die Literatur durch ihre fiktionale Erzähltätigkeit dazu, die Unerreichbarkeit des Gesetzes immer wieder zu bezeichnen (re-marque). In diesem Sinne wird sie als ein Repräsentant des Gesetzes dargestellt, der eben kein (unmittelbares) Verhältnis zum Gesetz hat, der dieses Verhältnis vielmehr konsequent unterbricht und dadurch die Notwendigkeit des Scheiterns, das Gesetz zu vertreten wachhält. (Derrida 1985: 121)
[15]
Die Unrepräsentierbarkeit des Gesetzes findet Derrida in Kafkas Erzählung übrigens nicht nur durch die Hauptfiguren des Torhüters und des Mannes vom Lande in den Vordergrund gerückt, die ja beide schließlich vor dem Gesetz verbleiben, sondern ebenso in der Widerstandsfähigkeit der eingefügten Parabel gegenüber dem Ganzen des Romans vorhanden, bzw. der Literatur gegenüber den philosophischen oder psychoanalytischen Deutungen (Derrida 1985: 127), des beurteilten Sachverhalts gegenüber dem Urteil, oder des Einzelnen gegenüber dem Allgemeingesetz einer gegebenen politischen Gemeinschaft. Aber gerade diese Unmöglichkeit, das Gesetz ein für allemal zu erfassen, vorzustellen, darzustellen oder zu vertreten, hält die ethische Möglichkeit seiner freien, d.h. nicht bereits vorher bestimmten Anwendung offen. So zumindest deutet Derrida die verblüffende Schlussantwort, die der Türhüter dem Manne vom Lande gibt: dass dieses Tor des Gesetzes – vor dessen Durchschreiten er ihm ja immer wieder abgeraten hat – nur für ihn bestimmt war und dass er es jetzt zuschließen werde.
Only in refusing to give access to itself does the law – conceived since the modern invention of democracy in terms of «generality» – speak, not to the particular (the fictional generality of democratic law to which all have access as particulars), but to the singular. […] That the law can never be general in its very possibility of being general implies, precisely, the very possibility of singularity. It is because the law cannot address the singular that the law is destined for the singular. (Beardsworth, 41f.)
[16]
Es ist die Literatur – oder genauer das Literarische in allen Diskursen, bzw. das Unentscheidbare in allen Urteilen, die immer wieder gescheiterte Erfahrung des «Wir» – die die ausbleibende Exemplarität des Gesetzes bloßlegt, um über das Andenken der unvordenklichen Vergangenheit das Versprechen einer immer-erst-zu-kom–menden Zukunft wachzuhalten.
[17]
Damit sind wir letztlich zu einem Punkt gelangt, an den die «messianische» Beweisführung des Benjamin-Vortrags klar und manchmal auch wörtlich anknüpft. Im «Messianismus ohne Messias» dieses Vortrags und seiner unmittelbaren Nachfolge (Derrida 1991b, 1991c, 1992b, 1993, 1994, 1995), nämlich, explodiert das Literarische als das grundsätzlich Vorgesetzliche inmitten jedes Gesetzes, jeder Entscheidung, jedes Urteils, um deren politische (demokratische) Legalität der ethischen Gerechtigkeit gegenüber zu öffnen, einer unberechenbaren Zukunft, die erst einmal bevorsteht. Damit im Einklang deutet Derrida Benjamins allzu schroffe Opposition zwischen der rechtsstiftenden und rechtserhaltenden Gewalt derart um, dass er die gewaltsame Rechtsstiftung zum vorgesetzlichen oder literarischen Bestandteil jedes Urteils promoviert, womit jegliches Urteil folglich zum Akt der Verabschiedung des bestehenden Rechtssystems, dessen Außer-Kraft-Setzung wird. Wie einmal schon die Différance quasitranszendental bestimmt worden war, so wäre jetzt auch die Rechtsstiftung «in sich selbst weder gerecht noch ungerecht; eine Gewalt, die ihrer eigenen Definition gemäß von keiner vorgängigen Justiz, von keinem vorgängigen Recht, […] von keiner bereits bestehenden Stiftung verbürgt, in Abrede gestellt oder für ungültig erklärt werden könnte» (Derrida 1991a: 28, 87).
[18]
Das Recht ist also, Derrida zufolge, so wie die Sprache «von Anfang an von der Gewalt gezeichnet, einer Gewalt, die danach als ungesetzlich und vorrechtlich von Recht ausgeschlossen werde, die sie aber in jeder Entscheidung gemäß diesem Recht wieder reproduziere» (Krauß, 148). Wenn die rechtserhaltende Gewalt aber die (be)gründende Gewalt zwangsläufig (und unbewusst) wiederholt (Derrida 1991a: 83, 90f.), dann muss jede Neueinsetzung des Gesetzes von einem diskontinuierlichen Sprung gekennzeichnet sein. Ähnlich wie die sog. Iterabilität beim frühen Derrida die diskontinuierliche Transformation der Sprache bestimmte, so ist nun das Kontinuum des Rechts in jedem seinen Segment durch eine paradoxe Als-Ob-Transzendentalie unterbrochen und in ein Nacheinander von grundlosen (oder revolutionären) Momenten verwandelt. Gegenüber den politischen Versuchen, diese Kluft in der Staatssouveränität zugunsten der Totalität der letzteren zu verwischen, stellt sich die Dekonstruktion die ethische Aufgabe, die Grundlosigkeit bzw. Illegitimität im Herzen des Gesetzes anzuerkennen, um damit seine Gewalttätigkeit zu verringern (Bennington/Derrida, 263; Beardsworth, 19f.; Krauß, 157f.). Indem sie die notwendigerweise unvollständige Gerechtigkeit des Gesetzes (sozusagen nach dem Vorbild der Literatur) immer wieder bezeichnet (re-marquer) und seine Gründungsgewalt damit in einer fortwährenden Iteration zerlegt (Derrida 1991a: 58), erhebt die Dekonstruktion ihrerseits den Anspruch auf Gerechtigkeit. Insofern sie dabei im Namen der uneinholbaren Vergangenheit zugunsten einer unvordenklichen Zu-kunft (à-venir) handelt, wird sie sogar von Derrida an einer Stelle überraschend vorbehaltlos mit der Gerechtigkeit gleichgesetzt (Derrida 1991a: 30).
[19]
Es ist dabei allerdings bezeichnend, dass Derrida seinen Gebrauch des Wortes «Gerechtigkeit» durch die Identifizierung dieses Begriffs in Levinas» Totalité et infini mit der ethisch verbindlichen Beziehung mit dem Anderen (la relation avec autrui) rechtfertigt (Derrida 1991a: 45), bzw. durch den Bezug auf das legitimiert, was Lévinas in seinen Talmudlektüren sainteté nennt und was mit dem anderswo verwendeten Wort «Ethik» gleichsinnig ist (Bernasconi 1987: 149ff.). Wenn Derrida aber damit anhand Lévinas die Gerechtigkeit mit der Ethik zu identifizieren trachtet, dann ist das zweifach problematisch: erstens, weil Lévinas selbst das Wort Gerechtigkeit überwiegend anders gebraucht (d.h. für die Beziehung zum Dritten und nicht für das Angesicht zu Angesicht, s. Bernasconi 1987: 352), und zweitens, weil Derrida selbst gegen den Levinas’schen Gebrauch des Wortes «Ethik» seinerzeit grundsätzliche Einwände erhob. Derrida warf Lévinas vor, dass er die Ethik als ausschlaggebende «erste Philosophie» befürwortet, ohne ihre philosophisch-geschichtliche Bestimmung zu erforschen und damit ihre Ethizität in Frage zu stellen (Derrida 1986: 74; Derrida 1993b: 40). Diese seine Kritik lässt sich übrigens unschwer mit jener vorhergehenden in Verbindung bringen, die er in Violence et métaphysique an Levinas» Bemühungen richtete, das gebietende Angesicht des Anderen von jeglicher Spur der kontaminierenden Repräsentation zu befreien.
[20]
Wenn aber das Konzept der Ethik und damit ihre Verbindlichkeit bei Lévinas auf Grund all dessen unproblematisiert verbleiben, wie steht es dann mit dem Begriff der Gerechtigkeit, zumal weil er mit der levinasschen Ethik analog verwendet wird? Wie der letztere bei Lévinas (Derrida gemäß), so ist der erstere Begriff erstaunlicherweise bei Derrida selbst des «geringsten Umweges durch das historische Gedächtnis» entledigt (Derrida 1991a: 44), ja vielmehr jedweder Ambiguität befreit, die nicht nur dem Levinasschen, sondern schon dem französischen Wortgebrauch eigen ist (Bernasconi 1987: 353). Statt einer genealogischen oder philosophischen Überprüfung unterzogen zu werden, wie dies Derrida von Lévinas mit Recht für das Wort «Ethik» verlangt, wird die Gerechtigkeit schlechthin für «nicht dekonstruierbar» genommen (Derrida 1991a: 30). Gerade nämlich als undekonstruierbar, fordert sie von uns unnachgiebig, das Recht zu dekonstruieren (Derrida 1991a: 40f.). Es handelt sich hier wohlgemerkt um einen unabwendbaren Befehl, der demjenigen des levinasschen Angesichts äquivalent ist, wiewohl Derrida vor der möglichen Ausartung des levinasschen Angesicht-zu-Angesicht in Richtung Gewalt warnt, in «die Unmöglichkeit, das Gute vom Bösen, die Liebe vom Hass, das Geben vom Nehmen, den Lebenswunsch vom Todestrieb … zu unterscheiden» (Derrida 1997: 65). Selbst in der Gesetzeskraft heißt es diesbezüglich unzweideutig:
Sich selbst überlassen, stehe die unberechenbare und stiftende Idee der Gerechtigkeit immer in größter Nähe zum Bösen, ja zum Schlimmsten, da die perverseste Berechnung sie sich immer wieder aneignen kann. Das ist immer möglich. Die unberechenbare Gerechtigkeit befiehlt also zu berechnen. (Derrida 1997: 57)
[21]
Wenn die Gerechtigkeit aber zu berechnen befiehlt, dann scheint es nur insofern, als sie selbst von dieser Berechnung (Dekonstruktion) verschont bleibt. Denn die Gerechtigkeit geht ja über Regel und Berechnung hinaus (Derrida 1991a: 51), bleibt deren Ordnung fremd und heterogen (Derrida 1991a: 49), indem sie «unendlich, unberechenbar, regelverletzend» sei (Derrida 1991a: 44). Als eine «Erfahrung der Pflicht», ordnet sie dem Subjekt, sich dem Unentscheidbaren, ohne ihn berücksichtigen zu können, schlechthin zu überlassen (Derrida 1991a: 49).
[22]
Obwohl sie sich auf Lévinas beruft (Derrida 1991a: 45), lässt sich solch eine Verabsolutisierung der Gerechtigkeit als unabwendbaren Gebots des ganz Anderen eigentlich ganz schwer mit Lévinas» Idee der Gerechtigkeit versöhnen, die «den Vergleich, die Koexistenz, die Zeitgenossenschaft, die Versammlung, die Ordnung, die Thematisierung, die Sichtbarkeit der Gesichter und dadurch die Intentionalität und den Intellekt und in der Intentionalität und Intellekt die Intelligibilität des Systems und dadurch auch eine gemeinsame Gegenwart auf gleicher Ebene, der der Gleichheit, wie vor einem Gericht» mit einbezieht (Lévinas 1992a: 343). Wie Derrida selbst im oben erwähnten Zitat, so weist auch Lévinas darauf hin, dass, sobald die Gerechtigkeit «sich selbst überlassen [wird], so trägt sie eine Tyrannei in sich». (Lévinas 1987: 435) Deswegen zieht er vor, immer wieder zu betonen, dass «in den Augen des Anderen […] mich der Dritte [ansieht]» (307f.) oder dass «meine Beziehung zum Nächsten den Beziehungen, die dieser Nächste zu Dritten unterhält, nicht äußerlich bleiben [kann]» (Lévinas 1992b: 30).
Die interpersonale Beziehung, die ich mit dem Anderen herstelle, muss ich auch mit den anderen Menschen herstellen; es besteht also die Notwendigkeit, dieses Privileg des Anderen abzumildern; daher die Gerechtigkeit. Diese, ausgeübt durch Institutionen, die unvermeidlich sind, muss immer durch die anfängliche interpersonale Beziehung kontrolliert werden. (Lévinas/Nemo, 69)
[23]
Trotz gewissen Weigerungen in seiner Beweisführung (Derrida 1991a: 35, 41), entscheidet sich Derrida dennoch nicht, die von Lévinas hervorgehobene Instabilität der Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Recht genauer zu untersuchen, sondern zieht stattdessen vor, den Operationsmodus der Gerechtigkeit der «Logik der Gabe» anzugleichen. Bezeichnenderweise schließt die letztere Austausch, Zirkulation und Rationalität von Anfang an aus.
Diese «Idee der Gerechtigkeit» stellt sich mir als irreduzibel dar in ihrem bejahenden Charakter, in ihrer Forderung einer Gabe ohne Austausch, ohne Zirkulation, ohne Anerkennung, ohne einen ökonomischen Kreis, ohne Kalkül und ohne Regel, ohne Vernunft oder ohne Rationalität… (Derrida 1991a: 51f.)
[24]
Wie die Gabe also jeder Überführung in die ökonomischen Termini ausweicht, so entzieht sich auch die Gerechtigkeit der Überführung in die Termini des Rechts. Die Gerechtigkeit läuft somit auf jenes unerreichbare «ganz Andere» (tout autre) hinaus, das wir niemals übersetzen, sondern nur bejahen, anerkennen, willkommen können.
The most famous such idea was Saint Anselm’s idea of God as that than which no greater (majus) or better (melius) can be conceived, or, as that which is greater or better than anything that can be conceived at all. That is a concept which says that whatever conceptual understanding one may reach of God, God is greater or better than that. God is in-finite by definition. […] God’s measure is to be without measure. God is the sheer excess of never containable or comprehensible excess, Who is always more than anything we can say or think, which is a kind of auto-maximizing idea. (Caputo, 180, 183)
[25]
Dies erlaubt uns letztendlich, den jetzt schon ziemlich offensichtlichen Schluß zu ziehen, dass die Dekonstruktion jene metaphysischen Ideale durch die Hintertür wieder einschmuggelt, welche sie zuvor auf der philosophischen Bühne durchgestrichen und zerlegt hat. Mit anderen Worten, wenn Derrida auf der einen Seite fordert, dass wir alle metaphysischen Ideale als Quellen der totalitären Gewalt verabschieden, wie kann er dann auf der anderen Seite – ohne dabei selber das Verhängnis der totalitären Gewalt in Kauf zu nehmen – die Gerechtigkeit als eine normative Richtschnur einführen, der es sich unendlich anzunähern gilt? Das Risiko der Gewalttätigkeit einer so aufgefassten Gerechtigkeit besteht nämlich darin, dass sie wegen ihrer grundsätzlichen Unerschliessbarkeit keinen positiven Orientierungspunkt aufzuweisen imstande ist, weshalb niemand versichern kann, welche die richtige Richtung des anvisierten Annäherns sei. Da die Offenheit an sich noch keineswegs Gerechtigkeit bringen muss, scheint die Dekonstruktion für ihren unnachgiebigen Abbau des metaphysischen Dogmatismus letztendlich den hohen Preis der Willkür des politischen Handelns zu bezahlen. Wie kann man ja schließlich eine normative Stellung aus genereller Ambivalenz und Unentscheidbarkeit beziehen? Wenn wir mit der Erfahrung der Unmöglichkeit einer gerechten Entscheidung auf jedem Schritt und Tritt konfrontiert sind, was macht dann eine Position tragbarer als die andere?
[26]
How can we «warrant» (in any sense of the term) the ethical-political position we do take? This is the question that Derrida never satisfactorily answers. What is worse, […] he seems to call into question the very possibility of «warranting» ethical-political positions. What are we to do after we realize that all archai tremble? […] We want some understanding of what kind of institutions and practices could be developed for a «democracy to come». […] [T]here is a danger that, for all the evocative power of the very idea of a «democracy to come», the idea of such a democracy can become an impotent, vague abstraction. (Bernstein, 191, 223)
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Da er die Entscheidung bzw. das Urteil durch keine spezifische Gründe absichert, betreibt Derrida eine minimalistische Ethik, aus der die politische Wertung und Handlung ganz schwer abzuleiten sind. Bei ihm bleibt das Terrain zwischen der strukturellen Unmöglichkeit und politischen Notwendigkeit der Entscheidung (des Urteils) untertheoretisiert, was folglich einem gefährlichen Dezisionismus die Tür weit öffnet (Krauß, 318ff.). Wenn die absolute Andersheit als unhinterfragter Bürge der Gerechtigkeit behandelt wird, dann geraten all jene Gesetze, Rechte, Normen, Regeln und Institutionen in Gefahr bzw. all jene «berechenbaren Verhältnisse», die die vorliegende Demokratie gewährleisten. Durch solch eine Loslösung von «starren Rechtsprinzipien» kann nämlich nicht nur die Gerechtigkeit in Verteidigung genommen, sondern ebenso gut der Weg zu einem verbrecherischen Unrechtsregime eingeebnet werden, wie am Beispiel des nationalsozialistischen Gesetzgebung ersichtlich wird (Krauß, 336). Zwar warnt Derrida hin und wieder davor, dass die «nicht antizipierbare Zukunft» «nicht das «Was auch immer» sein darf hinter dem sich die allzu bekannten Gespenster verbergen» (Derrida 1995: 265), dass sie nicht zu «that non-knowledge, which (is) utterly intolerant of obscurantism and ignorance» (Rand, 210) werden darf, er kann aber sein verabsolutiertes und unterbestimmtes Schlüsselkonzept der Gerechtigkeit vor dem rassistischen, sexistischen, faschistischen oder totalitaristischen Missbrauch nicht grundsätzlich in Schutz nehmen.
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Um die Grausamkeit anstelle der Gerechtigkeit womöglich vorwegzunehmen, empfiehlt es sich deshalb an erster Stelle, jenen Grossen Unterschied zwischen dem Recht (Gesetz) und der Gerechtigkeit zu verringern und abzumildern, dessen Unversöhnlichkeit ja einer zu weit getriebenen Nivellierung all der anderen Unterschiede zu verdanken ist (LaCapra, 191). Es gilt dementsprechend zu beachten: Weder gibt es Gerechtigkeit ohne Recht, noch Recht ohne Gerechtigkeit. Die Grenze zwischen den beiden Bereichen verläuft immer schon inmitten jedes einzelnen Bereichs. Eben aus diesem Grunde gilt es der dargelegten Tendenz Derridas gegenüber, sowohl die Gerechtigkeit als auch das Recht als unhintergehbare Performative zu behandeln, einen kritischen Abstand zu halten. Während das Recht für Benjamin z.B. nur einer der Diskurse sei, setzt es Derrida mit der Sprache gleich, um seinen Raum allumfassend und immanent betrachten zu können (Gehring 237, 254f.). Eine derartige Übertragung sei nämlich die notwendige Voraussetzung dafür, dass die Dekonstruktion ihrerseits die unermüdliche Vertretung der «jenseitigen» Gerechtigkeit übernehme.
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Trotz deren grundsätzlicher Andersartigkeit jedoch, die sich um eine fortwährende Vergrößerung des gegebenen sozialen Raums kümmert, lässt sich die Gerechtigkeit jenseits des durchs Gesetz abgesicherten Raums kaum vorstellen, d.h. außerhalb der «Prinzipien der Toleranz und Achtung» bzw. mannigfaltiger Institutionen, «die sich für die Sicherung der Rechte und die Durchsetzung von Grenzziehungen sorgen. Sonst fragt es sich, wie die Toleranz gegenüber dem Andersartigen mit den Erfordernissen des Zusammenlebens unter gemeinsamen Normen in Einklang zu bringen ist.» (McCarthy, 174). Um dies abschließend mit Lévinas auszudrücken: Bereits in den Augen des gebietenden Anderen der Gerechtigkeit sieht mich der korrektive Dritte des Rechts an. Wie auch umgekehrt. Beide lassen sich nicht klar voneinander trennen, wiewohl sie freilich auch nicht zu vermischen sind. Gerade darin besteht die Herausforderung.