Jusletter IT

Die Fiktionalisierung des Rechts. Juridische Fragen im Kriminalroman

  • Author: Sigrid Schmid-Bortenschlager
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Semiotics
  • Citation: Sigrid Schmid-Bortenschlager, Die Fiktionalisierung des Rechts. Juridische Fragen im Kriminalroman, in: Jusletter IT 11 September 2014
In der Geschichte des Kriminalromans lässt sich eine zunehmende «Professionalisierung» feststellen: Vom Privatdetektiv über den Polizeibeamten hin zu Anwälten als Protagonisten. Der hier als positives Exempel analysierte Roman von Dershowitz The Devil’s Advocate thematisiert ethische und moralische Fragen des Rechtssystems und benutzt dazu verschiedene Diskurstypen, um diese theoretischen Fragen spannend und unterhaltsam darzustellen. Durch die mediale Dominanz von US-Serien im TV, durch die Konzentration auf das Interessante, Spektakuläre und die Mischung von Fiktion und Realität wird bei anderen, ähnlichen Kriminalromanen (Grisham, Turow, Margolin etc.) allerdings häufig das Rechtssystem nicht transparenter, sondern die unterschiedlichen Rechtssysteme verwischen sich zu einem einheitlichen Unterhaltungssystem.
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Die folgende Analyse muss auf dem Hintergrund von zwei Tendenzen im Bereich des Kriminalromans gesehen werden:
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Der Kriminalroman gehört seit mehr als hundert Jahren zu den populärsten Genres, die sowohl von quasi Nicht-Lesern als auch von Literaturfreaks in grossen Mengen «verschlungen» werden. Er ist auch ein Genre, das den Medienwechsel klaglos überstanden hat; er bestimmt das Kino und das Fernsehen mit seinen Serien ebenso wie den Taschenbuchmarkt1; er ist auch ein Genre, in dem die «Klassiker» mit den Neuerscheinungen offenbar problemlos koexistieren.
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Sieht man sich die Geschichte des Genres an, so kann man – notwendigerweise vereinfachend – eine auffällige Tendenz feststellen: Am Anfang standen die Amateure bzw. Privatdetektive im Zentrum – von Agatha Christies Miss Marple und Hercule Poirot bis zu Dashiell Hammetts Sam Spade, Raymond Chandlers Philip Marlowe und Rex Stouts Nero Wolfe, die in Robert Parkers Spenser und Lee Childs Reacher2 späte Nachfolger gefunden haben. Schon bald treten ihnen Repräsentanten des Polizeiapparats an die Seite, von Kommissar Maigret über Inspektor Columbo bis zu den TV-Serienhelden wie z.B. Derrick und Der Alte im deutschsprachigen Bereich, Roger Hanin als Navarro im französischsprachigen. In den 1980er Jahren machen die dem lateineuropäischen Rechtssystem zugehörigen Untersuchungsrichter, die juges dinstruction, einen weiteren Schritt ins Innere des Justizsystems, die besonders in den italienischen Mafia-Filmen und TV-Serien in den Gestalten Franco Neros, Vittorio Mezzogiornos sowie Patricia Millardet bei uns bekannt geworden sind; auch die französische TV Serie mit Simone Signoret als Untersuchungsrichterin Madame Le Juge gehört hierher. Die Helden der in jüngster Zeit so erfolgreichen skandinavischen Krimis haben ebenfalls Polizisten als Helden (Wallander3). Die Tendenz zu immer grösserer Realitätsnähe wird ausserdem durch die zunehmende Bedeutung von kriminologischen Techniken – quasi durch «Verwissenschaftlichung» – im Roman und in den Serien – weitergeführt.
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Im US-amerikanischen Bestseller-Bereich haben die Romane aus dem Anwaltsmilieu eine Variante eröffnet, die nur bedingt in der Tradition des angelsächsischen courtroom dramas steht. Drei wichtige und erfolgreiche Autoren dieses Sub-Genres sind John Grisham, Scott Turow und Alan M. Dershowitz. Ihnen ist gemeinsam, dass sie selbst Anwälte sind oder lange Jahre gewesen sind, dass sie die Spannungsstruktur des Genres mit moralisch-politischen Fragen verbinden bzw. die Spannungsstruktur dazu benützen, derartige Fragen4 zu diskutieren, und dass sie – teils mehr, teils weniger – literarische Ambitionen im Bereich der formalen Gestaltung haben. Rahmenhandlungen, komplizierte points-of-view, Zeitenverschachtelungen strafen das Bild vom primitiv geschriebenen Bestseller Lügen.
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Diese Tendenz – die Professionalisierung des Detektivs – wird begleitet von einer zunehmenden Verwischung der Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Das Phänomen geht in der Literatur schon auf die 70er Jahre zurück (Reportage- und Dokumentar-Literatur, die allerdings schon in den 1930-er Jahren populär waren). Im TV ist es erst in den zwei letzten Jahrzehnten so richtig ins Blickfeld gerückt. Norman Mailers Ausdruck faction, die Kombination von Fakten und Fiktion muss hier erwähnt werden; erstes berühmtes Beispiel war wohl 1965 Truman Capotes In Cold Blood5, die versuchte Rekonstruktion eines tatsächlichen Mordes. Diese Vermischung der Sphären Realität und Fiktion von Seite der Produktion ist im TV durch die diversen reality shows aufgenommen worden, und betrifft nicht mehr nur die Produktion, sondern beeinflusst – via Publikumsmitbestimmung – auch die Rezeption massiv.
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Die USA sind hier, wie so häufig im medialen Bereich, weiter fortgeschritten, die Entwicklungen haben aber Europa schon erreicht, wie ein beliebiger Blick in das Fernsehprogramm zeigt.
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In den USA gibt es inzwischen TV-Kanäle, die auf Gerichtsberichterstattung spezialisiert sind, interessante bzw. publikumswirksame Fälle werden im ganzen Land gesucht und live übertragen. Dabei übernimmt bei interessanten Fällen die TV Anstalt auch schon einmal die Anwaltskosten. Diese Auswahl von «interessanten» Fällen, über die die Berichterstattung in extenso oder geschnitten den ganzen Tag läuft, findet offensichtlich ihr Publikum und ihre Sponsoren. O.J. Simpsons Prozess war hier nur der eine Sensationsfall, der auch die europäischen Anstalten erreicht hat. Neben diesen Reportagen gibt es aber auch Kanäle, die Gerichtssaal-Serien à la Perry Mason non-stop senden, und häufig sind die Serien spannender als the real thing – daher ja auch die extensive Suche nach «interessanten» = TV-tauglichen Real-Fällen –; denn wie jeder Gerichtssaal-Kiebitz, aber auch Richter und Anwalt berichten kann, ist der Grossteil des Gerichtsalltags von Routine und Fadesse gekennzeichnet. Dennoch tritt durch das gleiche Medium, durch das gleiche Ambiente und das gleiche Ritual – denn die Serien (und Filme und Bücher) verwenden natürlich Experten als Berater, um möglichst authentisch zu wirken und Fehler zu vermeiden – eine eindeutige und intendierte Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion auf.
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Die oben erwähnten Bücher von Grisham und Kolleg/inn/en liefern einerseits Material für diesen Markt, andererseits versuchen sie ihn durch die Art der Fragestellungen, die Genauigkeit der legalistischen Argumentation auch zu konterkarieren. Ihre Intention ist es offensichtlich, Probleme des Rechtswesens, aber auch der Moral, zu popularisieren und zu fiktionalisieren, und sie bedienen sich dazu der Spannungsstrukturen, die der Kriminalroman in seiner mehr als hundertjährigen Geschichte entwickelt hat.
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Ins Zentrum meiner Analyse möchte ich Alan M. Dershowitz The Advocates Devil, London: Headline 1995, stellen, die US Ausgabe stammt aus dem Jahr 1994, Hardcover und Paperback Edition erfolgen im selben Jahr.
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Die Aufmachung inseriert den Text in eine Tradition, auf dem Titelblatt steht A stunning courtroom drama in the tradition of Presumed Innocent – der Name des Autors, Scott Turow, muss für den hier offenbar intendierten Leser/die Leserin nicht mehr genannt werden. Auch der Titel selber schreibt sich in eine – allerdings andere – literarische Tradition ein, da er aus dem The Devils Advocate in Umkehrung The Advocates Devil macht – in beiden Fällen steht der Anwalt im Zentrum, allerdings im klassischen Beispiel als Subjekt der Handlung, im neuen Roman als Objekt der Heimsuchung.
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Die Rückseite des Buches bringt Rezensionsauszüge aus der New York Times und dem Daily Express, am Vorblatt wird der Autor folgendermassen vorgestellt:

    Alan M. Dershowitz is one of North Americas most talented and high-profile lawyers, who has represented such prominent clients as Mike Tyson, Claus von Bulow, Leona Helmsley and O.J. Simpson. He is the Felix Frankfurter Professor of Law at Harvard Law School and the author of numerous non-fiction books, including the US number one bestseller Chutzpah, and Reversal of Fortune, about the Claus von Bulow case which was made into an Academy Award-winning film.

    The Advocates Devil is Alan M. Dershowitzs first novel.

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Analysieren wir diese Angaben kurz: «most talented and high profile lawyers» – verbindet das allgemeine Lob mit der publizistischen Sichtbarkeit, macht das Erstere eigentlich von Letzterem abhängig, die medienwirksamen Fälle werden auch gleich aufgezählt. Nach der Betonung dieser medialen Wichtigkeit folgt, an zweiter Stelle, der wissenschaftliche Ausweis: mehr als DER6 Felix Frankfurter Professor an der Harvard Law School kann man in den USA wohl kaum sein, die akademische Würde, die neben der Praxis als Anwalt steht, wird noch durch die zahlreichen non-fiktionalen Werke ergänzt. Hier findet sich allerdings wieder die Rückkehr zum Ausgangspunkt, denn entgegen den Erwartungen, die wohl mit der Harvard Professur verbunden sind, wird hier nicht – oder nicht nur – auf spezialisierte wissenschaftliche Fachbücher Bezug genommen, sondern unser Autor hat auch auf diesem Gebiet Best-Seller vorgelegt, die sogar verfilmt und mit Oscars belohnt wurden. In diesem Kontext verblüfft dann der Nachsatz, dass es sich beim vorliegenden Werk um den ersten Roman von Dershowitz handelt. Hier wird eine Opposition zwischen Realität und Fiktion aufgebaut, die allerdings sehr ungleichgewichtig ist: 10 Zeilen dienen dazu, den Autor mit realen Fällen zu verknüpfen, mit anwaltlicher und wissenschaftlicher Kompetenz auszustatten, das Prestige dieser Wissenschaftlichkeit auf seine erfolgreichen Bücher und ihre Verfilmungen zu übertragen – alles im Bereich der «Realität» angesiedelt –, um dann in einem Absatz den vorliegenden Text scheinbar von all diesen Bindungen zu lösen und ihn dem Bereich der Fiktion zuzuordnen. Diese Trennung ist umso schwerer aufrecht zu erhalten, als ja das plot des Romans – ein berühmter Sportler (diesmal ein Basketballspieler und ein Weisser, in Differenzierung von den genannten Schwarzen Tyson und Simpson) wird der Vergewaltigung bezichtigt – die Verbindung zur Realität mehr als nahelegt.7
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Der Text besteht aus einem Prolog, drei Teilen mit spezifischen Titeln – 1. Innocent until proven guilty, 2. A jury of his peers, 3. Better ten guilty go free...? –, die insgesamt aus 42 durchnummerierten Kapiteln bestehen. Am Ende steht ein Epilog. Teil 3 beginnt mit einem Prolog, der inhaltlich und typographisch dem ersten Prolog entspricht. Dieser erste Prolog ist daher dem ersten Teil zuzuordnen, obwohl er vor dessen Titel steht, und nicht dem Gesamtroman. Hier dürfte es sich um einen layout-Fehler handeln, denn er ist inhaltlich eindeutig kein Prolog zum gesamten Text. Diese Anordnung ergibt auch ein symmetrischeres Bild des Gesamtromans: Teil 1 und 3 mit Prolog, der Mittelteil ohne, der Epilog bezieht sich auf den gesamten Text.
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Der erste Teil entwirft ein Bild des Anwalts Abe Ringel; es zeigt ihn mit seiner Tochter Emma, die das letzte Jahr der High-School besucht, seinem Angestellten Justin, seinem verehrten Lehrer Haskell, seiner Freundin und Partnerin Rendi. Hier wird quasi der private Raum gezeichnet, der Familienroman angelegt; dazu kommt beruflich die wichtige Übernahme des Falles Campbell, der den Anwalt Ringel berühmt machen kann. Campbell ist ein berühmter Sportler, der der Vergewaltigung angeklagt ist.
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Parallel zu diesem projektiven Fall erfahren wir von einem vergangenen, aber noch immer aktuellen Fall: Ringel verteidigt – pro bono – den zum Tod verurteilten Afro-Amerikaner Charlie Odell, der in der death row auf seine Hinrichtung wartet: Odell hat zwar seine Unschuld immer betont, doch die Jury hat gegen ihn entschieden. Die legalen Möglichkeiten einer Aufschiebung der Vollstreckung der Todesstrafe sind praktisch vorbei, und Ringel greift zu verzweifelten Maßnahmen.
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Im zweiten Teil steht der Prozess gegen Campbell im Zentrum, den Ringel gewinnt – Campbell wird freigesprochen.
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Im dritten Teil erhärten sich die Zweifel Ringels an der Unschuld seines Klienten. Er ist mit der moralischen Frage konfrontiert, ob und wie er gegen einen ehemaligen Klienten vorgehen kann, der freigesprochen worden ist, von dem er aber inzwischen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen muss und annimmt, dass er weitere Vergewaltigungen oder sogar Morde begehen wird. Im Übergang zum Genre Abenteuerroman/Verbrecherjagd mit seiner Spannungssteigerung wird das juridische Problem kurzfristig aus den Augen verloren, um im Epilog wieder aufgenommen zu werden.
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Der Roman ist sorgfältig parallel strukturiert: Odell ist der Unschuldige, der in einem korrekten Rechtsverfahren verurteilt worden ist, und den Ringel nun – vor dem Gesetz und gegen das Gesetz im Namen einer höheren Moral – retten möchte, Campbell ist der Schuldige, der in einem ebenfalls korrekten Rechtsverfahren freigesprochen worden ist, und vor dessen weiteren Taten der Anwalt Ringel nun die Gesellschaft schützen muss, ebenfalls mit extra-legalen Mitteln. Die in den Titeln der drei Teile angesprochene Problematik Innocent until proven guilty, das Prinzip der Geschworenen und die Frage des Schutzes der Unschuldigen, ist aufs engste mit dem angelsächsischen Prinzip verbunden, dass ein Schuldspruch nur dann erfolgen darf, wenn die Schuld beyond a reasonable doubt erwiesen ist. Im französischen Rechtssystem genügt, ähnlich wie im österreichischen, hingegen bereits «die innere Überzeugung» («suivants votre conscience et votre intime conviction») der Geschworenen, um zu einem Schuldspruch zu gelangen.8
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Diese prinzipielle Problematik wird im Roman auf zwei Ebenen verhandelt: Einmal sozusagen auf der Ebene des Abenteuerromans – die dramatische Rettung des unschuldigen Odells, die Jagd nach dem Vergewaltiger Campbell, der die Tochter des Anwalts Ringel als nächstes Opfer ausgewählt hat –, zum anderen als Problem, mit dem der Anwalt Ringel, stellvertretend für alle Anwälte, konfrontiert ist, wo er Stellung beziehen muss.
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Im Zentrum des Romans steht das Verhältnis des Anwalts zu seinem Klienten und die Frage, ob dieses Vertrauensverhältnis unter allen Umständen zu wahren ist. Dezidiert wird hier die Parallele zum Beichtgeheimnis gezogen, wobei der zu Rate gezogene Priester interessanterweise die Unverletzlichkeit des Beichtgeheimnisses höher ansetzt, da Priester für Seelen, nicht für Leben zuständig sind, der Anwalt also durch die Aufgabe, Leben zu retten, von der Verpflichtung zur Geheimhaltung entbunden werden könnte. (Dass auch ein Priester mit der Problematik, durch das Brechen des Beichtgeheimnisses konkrete Leben – nicht das seines «Beichtkindes» – retten könnte, bleibt hier eigenartigerweise ausser Acht.)
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Das Problem wird, wie schon erwähnt, an zwei Fällen – an Odell und an Campbell – abgehandelt, und es wird auf zwei Ebenen diskutiert, auf der abstrakt-ethischen und auf der praktisch-verfahrenstechnischen.
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Charlie Odell ist wegen Mordes verurteilt worden, da ihn ein Zeuge erkannt haben will; Justin, Ringels Angestellter, hat aber, im Gegensatz zu dieser akzeptierten Darstellung, von einer Anwalts-Kollegin, Nancy Rosen erfahren, dass sie von einem Klienten unmittelbar nach dem Odell angelasteten Mord engagiert worden ist, um ihn wegen dieses Mordes, den er ihr gestanden hat, zu verteidigen. Ringel, der Verteidiger von Odell glaubt – oder besser, weiss also, dass Odell unschuldig ist, aber trotzdem hingerichtet werden wird; er versucht nun, den Namen des richtigen Mörders von dessen Anwältin Nancy Rosen zu erfahren: Es geht hier um die Abwägung der Werte: Hinrichtung eines Unschuldigen – nach einem korrekten Verfahren vs. Brechung des Vertrauensverhältnisses Anwalt–Klient. Die Frage wird nicht nur auf der moralischen Ebene, sondern auch unter Ausnützung sämtlicher legalen Möglichkeiten gelöst: In einem ersten Schritt ermächtigt Nancy Rosen Justin, über ihre Aussage eine eidesstattliche Erklärung abzugeben. Da der Richter diese Aussage nur als Verzögerungstaktik des Verteidigers von Odell sieht, wird Nancy Rosen gezwungen, einen Schritt weiter zu gehen. Sie versucht zuerst, Straffreiheit für ihren Mandanten zu erreichen, als auch dies misslingt, nennt sie zwar seinen Namen, warnt ihn aber vorher, sodass er sich durch Flucht seiner Verhaftung entziehen kann. Diese Warnung führt nun zur Verhaftung von Rosen, da sie einen Verbrecher begünstigt hat – und in der Folge auch zum Verlust ihrer Anwaltsberechtigung, allerdings führt dieses Verhalten auch zur Rettung des unschuldigen Odell vor der Hinrichtung. Die Frage Leben vs. Vertrauensverhältnis wird in diesem konkreten Fall zugunsten des Lebens entschieden, mit schwerwiegenden Folgen für die Beteiligten: die Systemverletzung wird system-intern geahndet, Rosen darf nicht mehr als Anwältin arbeiten, sie wird zu einer Haftstrafe verurteilt – ihre spätere Begnadigung und Entlassung, die im Buch noch mitgeteilt wird, dient zwar dem poetischen/fiktionalen Gerechtigkeitsempfinden, ist aber für das Problem selbst irrelevant und auch nicht sehr wahrscheinlich.
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Das Problem des Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Mandant bestimmt auch den zweiten Fall, den Fall Campbell. Der berühmte und beliebte Basketball-Spieler Joe Campbell ist angeklagt, eine junge Frau vergewaltigt zu haben, er behauptet allerdings, unschuldig zu sein. Ringel übernimmt seine Verteidigung, und auf einer ersten Ebene scheint es ein ganz klarer Fall zu sein, da die Anklägerin schon einmal Klage wegen Vergewaltigung erhoben hat und diese dann zurückziehen musste. Diese erste Ebene wird auch im Prozess durch einen Freispruch bestätigt.
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Daneben aber wird im Text die zweite Ebene entwickelt: Die genauen erzähltechnischen Details interessieren uns hier nicht, fest steht, dass Ringel zu der Überzeugung kommt, dass Campbell sich – via Computer-Recherche – bewusst (eine) «vulnerable» Frau(en) ausgesucht hat, eine Frau, der nicht geglaubt werden wird, da sie schon einmal – unter Eid – in einer ähnlichen Situation gelogen hat. Campbell ist – so die Überzeugung von Ringels Mitarbeitern, er selbst will es noch nicht so recht glauben – ein intelligenter psychisch kranker Mann: Er kommt nur bei Anwendung von Gewalt zur sexuellen Befriedigung; um dies ungestraft erreichen zu können, wählt er immer Frauen aus, von denen er aufgrund ihrer von ihm recherchierten Vorgeschichten sicher sein kann, dass sie ihn nicht anzeigen werden, da ihnen nicht geglaubt würde. Als ihn Ringel mit diesem Verdacht, noch vor der Gerichtsverhandlung konfrontiert, weist Campbell diese Anschuldigungen natürlich zurück, und für Ringel stellt sich – wiederum – ein doppeltes Problem, ein moralisches und ein verfahrenstechnisches: Die Frage nach der Berechtigung der Verteidigung per se ist einfach gelöst, da jeder, ob schuldig oder unschuldig, ein Recht auf ein faires Verfahren und damit auf Verteidigung hat. Schwieriger ist da schon, ob Ringel, Vater einer 18jährigen Tochter, einen Vergewaltiger verteidigen will. Auch diese Frage wird klar beantwortet: Ein Zurücklegen der Verteidigung zu dem Zeitpunkt, als die ernsten Zweifel auftauchen, kurz vor der Verhandlung, käme einem Eingeständnis gleich, dass der Verteidiger nicht mehr an die Unschuld seines Mandanten glaubt, und würde diesen daher um ein faires Verfahren bringen – Ringel setzt also die Verteidigung fort, unter Bezug auf das im Titel des dritten Teils formulierten Prinzips Better ten guilty go free; zu diesem Zeitpunkt der Geschichte ist dieses Prinzip noch unhinterfragt, das Fragezeichen am Ende des Titels taucht erst später auf.
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Da Ringel also, inzwischen von der Schuld seines Klienten überzeugt, seine Verteidigung aus Rechts- und Fairnessgründen trotzdem durchführen muss, stellt sich nun allerdings die verfahrenstechnische Frage, ob er Campbell in den Zeugenstand rufen kann, wenn er weiss, dass dieser sich durch die Antworten auf bestimmte Fragen, antwortet er der Wahrheit gemäß, selbst belasten würde; will er eine Verurteilung vermeiden, muss und wird er Meineide schwören. Nach allgemeiner Meinung würde Campbell einen perfekten Zeugen abgeben und durch seine Aussage das Verfahren für sich entscheiden, er will auch selbst aussagen. In einer langen Szene wird diese Aussage geprobt, zuerst mit Ringels Assistenten Justin, dann mit Campbell selber.
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Der Erzähler konstruiert dieses Verhör genau, sodass nur für Campbell positive und gleichzeitig auch wahre Antworten zugelassen sind, weitergehende Informationen, die sein Mandant offeriert, weist Ringel entschieden zurück, er will und darf nicht wissen, was er stark vermutet, nämlich dass sein Mandant schuldig ist und bereit ist, Meineide zu schwören. Die Aufgabe des Anwalts wird auch anhand von Präzedenzfällen und durch Kommentare breit diskutiert.

    «Right here», Justin said, opening a thick volume to the Supreme Court Decision to the Nix vs. Whiteside case. «It says in black and white that a lawyer may not assist his client in committing perjury or elicit an answer he knows to be false.»

    «Now, Justin, think for a minute. Did I – the defense attorney elicit that false answer from Campbell? Or was it you, the prosecutor, who elicited the false answer on cross-examination?»

    «So, whats the difference?»

    «Everything» Abe said emphatically. «It makes all the difference in the world that it is the prosecutor who is eliciting an answer which he doesnt know is false. Im not responsible.»

    «Thats just plain sophistry», Justin replied.

    «Those sophists were great lawyers», Abe said. «All of law is sophistry. On these kinds of distinctions are civilized societies built.»

    «Its a bullshit distinction, Abe, and you know it.»

    «I know it, you know it. Yet the law doesnt explicitly forbid it. And what the law doesnt forbid a defense attorney to do to help his client it requires him to do.»

    «So you think that the law permits or even requires you to put Campbell on the stand as long as you dont knowingly elicit false answers on direct examination, even though you believe the prosecutor will elicit false answers from him on cross-examination.»

    «Yes, if it would help Campbell win.» ( p. 216f)

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Die Zitation des konkreten Präzedenzfalls verleiht der Diskussion die Aura des Authentischen; indem Justin die Einwände des Lesers formuliert, wird dieser in die Erörterung des Problems eingebunden und der Überzeugungskraft von Ringels Argumenten ausgesetzt. Interessant dabei ist wiederum, dass es weder um den konkreten Fall, noch um das Prinzip allein geht, sondern dass die «civilized societies» die Zivilisation selbst an die minutiöse – und oft auch unbefriedigende – Gesetzesauslegung gebunden wird.
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Im Prozess selbst entscheidet sich Ringel dann doch noch gegen eine Aussage, obwohl sie so sorgfältig vorbereitet worden ist.
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Um die Differenziertheit der Argumente von Dershowitz deutlich zu machen, sei hier ein kurzer Vergleich mit einem anderen Kriminalroman angestellt, der ebenfalls diese Frage stellt, mit Philip M. Margolin: Gone, but not forgotten, 1993. Auch hier ist eine junge Anwältin mit der Frage konfrontiert, ob sie den Serienmörder Darius, der die Frauen vor ihrem Tod sadistisch gequält hat, verteidigen kann. Als sich ihr diese Frage zum ersten Mal stellt und sie sie mit ihrer Mutter diskutiert, beruft sie sich noch auf das System und das Anrecht auf ein faires Verfahren. Als ihr aber ihr Klient gesteht, dass er die Mordserie vor 10 Jahren tatsächlich begangen hat, dafür aber – aufgrund einer Erpressung – begnadigt worden ist, legt sie seine Verteidigung ohne größere Gewissensbisse zurück, denn ein derartiges Monstrum kann und will sie nicht verteidigen. Daran ändern auch die allmählich auftauchenden Zweifel, ob er wirklich der Verursacher der jetzigen Serie ist, nichts. Sie führt zwar seine Verteidigung – nicht ohne Erfolg – noch weiter, aber nur, bis ein anderer Verteidiger gefunden ist. Keine Probleme mit der Vorverurteilung, die eine derartige Niederlegung der Verteidigung bedeutet (wie bei Dershowitz), plagen sie, genau so wenig wie verfahrenstechnische Probleme der Benützung der Informationen, die sie in ihrem Klient-Anwalts-Verhältnis erfahren hat. Die Frage wird reduziert auf die berechtigte Abscheu vor dem monströsen Verbrecher, der selbst die Selbstjustiz rechtfertigen würde. So geht sie auch, ohne allzu grosse Skrupel, auf die Erpressung der Entführerin ihrer Tochter ein und liefert ihr das «Monstrum» im Gerichtsgebäude aus. Wir haben es hier mit einem «klassischen» Kriminalroman zu tun, der an die Emotionen und den Hausverstand der Leser appelliert, sie aber mit juridischen Spitzfindigkeiten verschont. Bei Dershowitz hingegen dient der plot primär dazu, die legalistischen Fragen zu illustrieren, sie verständlich zu machen.
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Zu diesem Zweck macht er Anleihen bei den verschiedensten Diskurstypen und baut seinen Roman nach strengen Prinzipien auf, zu diesem Zweck aktualisiert Dershowitz auch das kulturelle Wissen des Lesers/der Leserin in Bezug auf verschiedene Diskurstypen, um über dieses Wissen eine Identifikation Erzähler/Leser zu erleichtern.
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Am Beginn und am Ende steht der Familienroman, das Privatleben des Anwalts Abe Ringel, das Verhältnis zu seiner Tochter, die gerade erwachsen wird, die Erinnerung an seine Frau und ihren Unfall, das durch die damalige Untreue belastete Verhältnis zu Rendi. Diese Elemente bilden den Rahmen für die Anwalts-Partien, sie sind jedoch auch aufs Engste mit dem Thema Vergewaltigung und Verteidigung eines Vergewaltigers verflochten, denn Emma, Ringels Tochter, ist aktiv in einer Frauengruppe und diskutiert mit ihrem Vater heftig über die Bestrafung von Vergewaltigung. Am Ende – und dies ist wohl eine der Schwächen des Buches – verschwindet vorübergehend die komplexe Problematik der Verantwortung des Anwalts gegenüber seinem Klienten, als Emma, Ringels Tochter, durch Campbell direkt gefährdet ist. Es gereicht dem Autor Dershowitz dann allerdings zur Ehre, dass sich im Roman Emma selbst retten kann und nicht auf ihren Vater, die Polizei etc. angewiesen ist.
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Neben der Einbettung in den Familienroman ist die private Ebene auch durch das Verhältnis von Ringel zu seinem alten Lehrer Haskel bestimmt, bei dem er immer wieder Rat sucht. Fünf der 42 Kapitel sind diesen Besuchen gewidmet, in denen der weise Gelehrte, der sich nicht nur im Recht, sondern vor allem auch in der Thora auskennt, durch geschickte Fragen und Hinweise Ringel in seinen moralischen Dilemmata dazu bringt, sich selbst zu helfen. Er verkörpert also die klassischen rabbinischen Erzählungen und Fabeln. Die Bibel und die rabbinischen Auslegungen werden hier dezidiert als Gesetzesauslegungen, als älteste überlieferte Präzedenzfälle gekennzeichnet, die auch für heutige Probleme noch modellhafte Antworten bieten.
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Daneben findet sich in den Recherchen von Justin (via Computer) das klassische Detektivschema der intellektuellen Recherche wieder, in Rendis Recherchen wird der abenteuerlich-aktionistische Strang der Krimi-Tradition aufgenommen, während im mittleren Teil klassisches courtroom drama im «Kampf» zwischen Staatsanwältin und Verteidiger inszeniert wird, obwohl auch hier viel neueres Fachwissen eingebracht wird – so wird der wissenschaftlichen Beratung bei der Auswahl der Jury-Mitglieder breiter Raum gewidmet. Diskurse über Geisteskrankheit, über abnorme Sexualtäter ergänzen das Spektrum der in Dienst genommenen Diskurstypen, das einerseits verschiedene Traditionsstränge des Kriminalromans miteinander kombiniert, das aber durch Familiengeschichte, rabbinischen Diskurs sowie die Rechtsargumente das klassische Repertoire erweitert.
[34]
Oppositionsdispositive durchziehen die verschiedensten Ebenen (Ringel privat – Ringel beruflich, Vergangenheit – Gegenwart, Wahrheit – Lüge etc.), sie sind jedoch am deutlichsten und wichtigsten in den beiden dargelegten Fällen Odell und Campbell ausgebildet.
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Odell ist ein Farbiger, arm, erfolgslos, durchschnittlich begabt, aber unschuldig; er wird durch den Justizvollzug in den Wahnsinn getrieben, dieser Wahnsinn schützt ihn auch kurzfristig vor der Hinrichtung, da es laut Gesetz notwendig ist, dass er die Strafe einsieht, begreift, doch eben nur kurzfristig. Als Nebenthema wird an seinem Beispiel auch die Frage von Sinn und Wahn-Sinn der Todesstrafe mit all ihren Absurditäten diskutiert, ein Thema, das auch in vielen anderen Romanen und Filmen behandelt wird.
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Campbell hingegen ist weiss, erfolgreicher Basketball-Spieler, wohlhabend, intelligent, allgemein beliebt, er verfügt über eine gewinnende Persönlichkeit, allerdings ist er auch – von der Gesellschaft zuerst nicht wahrgenommen – psychisch krank und ein schuldiger Verbrecher. Wie aus dieser Kurzcharakterisierung deutlich wird, arbeitet Dershowitz hier stark mit der Umkehr von Klischees, mit der mehrfachen Umwertung von Sympathiebeiwerten, aber auch mit der Umkehrung von Beziehungen zu realen Fällen von Prozessen mit bekannten Sportlern; der Bezug zu den Afro-Amerikanern (um der linguistischen political correctness einmal Tribut zu zollen) Tyson und Simpson, der am Vorblatt hergestellt wird, drängt sich auch von Text selbst her auf.
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Zwar ist Ringel der Verteidiger von beiden Mandanten, doch wird im Fall Odell die Anwältin Nancy Rosen zur Schlüsselfigur, die wiederum in klarer Opposition zu Ringel steht:
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Ringel stellt den «normalen», erfolgreichen, bürgerlichen Anwalt dar, der sich dem Regelsystem des Gesetzes aufs tiefste verpflichtet fühlt. Er trennt klar zwischen dem Gesetz als Regelsystem und dem Leben, ist in dieser Hinsicht eine gespaltene Persönlichkeit. Im Konfliktfall des Vertrauensverhältnisses zwischen Klient und Anwalt stellt er die Regel, die Notwendigkeit, das Vertrauensverhältnis zu schützen, über das (persönliche) Bedürfnis, mögliche Verbrechen zu verhindern.
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Erst in der Extremsituation, als seine eigene Tochter gefährdet ist, geht er mit seinen Vermutungen zur Polizei, allerdings ohne dort Glauben zu finden und ohne die Verhaftung des Täters zu beschleunigen. Dieser wird erst durch seine Tochter und ihre erfolgreiche Selbstverteidigung entlarvt und überführt. Trotz dieses «menschlichen Ausrutschers», der diegetisch primär der Steigerung der Spannung und dem Wechsel ins Abenteuer-Genre zu verdanken ist, bleibt Ringel als Anwalt integer, wenn er auch menschlich-moralisch stark angeschlagen erscheint.
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Nancy Rosen hingegen ist die revolutionäre Anwältin, sie hat die bürgerliche Erfolgskarriere und den damit verbundenen Wohlstand abgelehnt und praktiziert in einem Laden in einem Slum, widmet ihre Gesetzeskenntnis also denen, die – mangels Geld und Bildung – meist zu den Opfern des «Systems», auch des Rechtssystems, werden. Für sie ist das Gesetzessystem als Regelsystem wichtig, allerdings ist sie, darüber hinausgehend, eigenen Wertvorstellungen verpflichtet, die es ihr letztlich auch ermöglichen, die Regeln zu verletzen. Sie tut dies keineswegs leichtsinnig, versucht vielmehr alle Möglichkeiten des Gesetzes auszuschöpfen, aber wenn es innerhalb des Systems keine Möglichkeit gibt, einen Unschuldigen vor der Hinrichtung zu retten, dann übertritt sie die Regel, beschuldigt ihren Klienten des Verbrechens, von dem sie nur in ihrer Funktion als seine Anwältin erfahren hat. Sie ist dann allerdings auch bereit, die vom Gesetz vorgesehene Strafe, Gefängnis und den Verlust der Anwaltsberechtigung, hinzunehmen, genauso wie sie später auch ihre Begnadigung akzeptiert – sie ist keine Märtyrerin in einem wie immer gearteten Kreuzzug. Der notwendige, einmalige Gesetzesbruch stellt nicht das gesamte System in Frage, es geht nur um den konkreten Fall.
[41]
Die Darstellung von Nancy Rosens heroischer Haltung bringt ihr die Sympathien der Leser/innen ein, sie wird auch im Epilog noch einmal bestätigt, in dem Ringel auf die Versuche, eine gesetzliche Vorschrift für das im Roman behandelte Dilemma zu finden, damit antwortet, dass dies nicht möglich sei, da es immer auf den konkreten Fall ankomme und niemand dem Anwalt die (moralische) Entscheidung abnehmen könne.

    «...Some existential moral issues are so complex that they are not amenable to simple solution by the adoption of a blanket rule. Every lawyer will have to continue to struggle with the dilemma of whether or when to blow the whistle on a client.»

    Prior to sending this letter, Abe read it aloud in front of Haskels tombstone.

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– mit diesen – auch von der Sprachebene her für einen Krimi ungewöhnlichen – Sätzen, endet der Roman. (p. 406)
[43]
Trotz dieser positiven Beurteilung von Rosens Haltung kann man, bei aller Oppositionsstruktur, nicht behaupten, dass Ringel und seine Regeltreue negativ beurteilt werden. Zwar kommt es aufgrund seines Schweigens tatsächlich zu einem weiteren Mord und einem Mordversuch an seiner Tochter, doch wird auf der narrativen Ebene gezeigt, dass es Ringel nicht gelingen hätte können, diese Morde zu verhindern – seine «Beweise» sind nicht ausreichend, um einen freien Bürger präventiv einzusperren oder in psychiatrische Behandlung einzuweisen – und dieser Schutz der bürgerlichen Rechte wird positiv bewertet.
[44]
Romane, wie der hier skizzierte von Dershowitz haben Anwälte als Helden und behandeln (moralische, ethische) Probleme des Rechtssystems, indem sie sie in die traditionelle Form des Krimis kleiden.
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In John Grishams Roman The Firm geht es um das Problem des Anwalts, der merkt, dass er in einer Firma arbeitet, die in großem Stil Geld für die Mafia wäscht, und der schließlich unter eigener Lebensgefahr für den FBI die Akten beschafft, die zur Verurteilung seiner Vorgesetzten und Kollegen führen, in Pelican Brief, ebenfalls von Grisham, geht es um die Verwicklung von Politik und Justizsystem, das in den USA durch die Bestellung der Staatsanwälte durch allgemeine (logischerweise parteipolitisch bestimmte) Wahlen besonders ausgeprägt ist; dieses Thema, kombiniert mit dem Schutz der eigenen Ehefrau, ist auch in Presumed Innocent und der «Fortsetzung» Innocent von Scott Turow9 zentral, der begonnen hat, in Sandy Stern einen Anwalt als Serienhelden aufzubauen .
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Was diese Texte – und ihre Bearbeitungen in Film und TV – so problematisch macht, ist einerseits die Vermischung von juridischen Problemen mit dem Abenteuer-Schema bzw. manchmal auch ihre Reduktion auf diese Ebene, wenn die Anwälte bloß Privatdetektiv oder Agent spielen (bei Grisham). Andererseits finden wir auf der Rezeptionsseite vor allem die Vermischung von verschiedenen Rechtssystemen zu einem omnipräsenten fiktionalen juridischen System, das allerdings mit dem international law herzlich wenig zu tun hat: Angesichts der existierenden medialen Präsenz sind Österreicher/innen, und nicht nur sie, heutzutage sicherlich via TV, Film, Bestseller mit dem US-Rechtssystem und seinen Grundsätzen viel vertrauter als mit dem österreichischen; sie kennen alle die Telefonnummer 911, kaum aber den österreichischen Polizeinotruf 133, ganz zu schweigen vom europäischen 112. Dieses Wissen existiert auch, in reduziertem Maß – via Mafia-Thematik in Film und TV – über das italienische System. Staatsanwälte scheinen politischem Druck direkt ausgesetzt. Dass dies in den USA – via Wahlsystem – tatsächlich der Fall ist, in Österreich aber – via Unabhängigkeit – nur in minimalem Ausmaß (durch das Weisungsrecht des Justizministers) wird dabei ausgeblendet; von Richtern wir erwartet, dass sie selber Beweise sammeln, ohne dass ins Bewusstsein kommt, dass «Untersuchungsrichter/in» eine Funktion ist, die es im österreichischen System gar nicht gibt. Die unterschiedlichen Begründungen für eine Verurteilung durch ein Schöffengericht (reasonable doubt, innere Überzeugung etc.) sind hier ebenfalls zu nennen.
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Was auf den ersten Blick als willkommene Erweiterung des Wissens auf dem Gebiet der Rechtspflege erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen fast als Verwirrungsstrategie, die das Misstrauen gegenüber dem für Laien angeblich undurchschaubaren jeweiligen Polizei- und Rechtssystem nur noch stärkt.

 

Sigrid Schmid-Bortenschlager, geb. 1946, lehrte Neuere deutsche Literaturwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Komparatistik an den Universitäten Salzburg, Graz, Paris VIII, Paris XII, Utrecht. Forschungsschwerpunkte: Frauenliteratur, Literaturtheorie, Literatur des 20. Jahrhunderts, österreichische Literatur. Publikationen (Auswahl): Konstruktive Literatur. Bonn: Bouvier 1985; Hermann Broch – éthique et ésthetique. Paris: PUF 2001; Österreichische Schriftstellerinnen 1800–2000. Eine Literaturgeschichte. Darmstadt: WBG 2009.

  1. 1 SeinSchicksal in den elektronischen Medien ist allerdings noch problematisch.
  2. 2 Beidesind Ex-Polizisten; ihr persönlicher Ehrenkodex verbindet sie allerdings mit den noir-Helden von Chandler und Hammett.
  3. 3 MankellsRomane wurden sowohl in Schweden, mit Krister Henrikson, als auch in Grossbritannien, mit Kenneth Branagh als Serie verfilmt und international vermarktet.
  4. 4 Esist bezeichnend, dass Dershowitz nach seinem Roman eine wissenschaftliche Abhand lung schreibt, in der er die Problematik des Jury-Systems behandelt.: Reasonable Doubts: The Criminal Justice System and the O.J. Simpson Case. New York: Simon & Schuster 1997. Scott Turow bleibt im Bereich der Fiktion, aber auch er schreibt eine Art Fortsetzung, Innocent, London: Pan Books 2010, in dem sich Sabich in einer vergleichbaren Situation befindet und diesmal verurteilt wird.
  5. 5 1967von Richard Brooks erfolgreich verfilmt.
  6. 6 Dieim Text gewählte Formulierung «the Felix Frankfurter Professor» ist auch im Englischen ungewöhnlich, wenn nicht falsch. Die normale Form wäre ohne Artikel.
  7. 7 Scott Turow wird auf den Umschlagseiten seines ersten Buches Pleading Guilty folgendermassen vorgestellt: «Scott Turow was a Fellow in Creative Writing at Stanford before attending Harvard Law School. He served with distinction as an assistant US district attorney in his native Chicago, trying and winning a number of important cases involving the Illinois legal system. He is now a partner in a Chicago law firm», bei Philip Margolin heisst es am Umschlag von The Associate «Philip Margolin is a retired criminal defence lawyer in Oregon where he tried many high-profile cases.» und auch Grisham wird als Fachmann vorgestellt: «John Grisham graduated from Law School in 1981 [offensichtlich nicht Harvard] and for nine years ran his own law firm. Following the extraordinary success of A Time To Kill and The Pelican Brief …John Grisham gave up his practice to write full time.» (The Client).
  8. 8 DerUnterschied wurde in Cayattes Film La glève et la balance thematisiert.
  9. 9 ScottTuro: Innocent: London: Pan Books 2010. Im Vorwort zum Roman bezeichnet er selbst das Buch als «sequel» zu seinem ersten Roman, Presumed Innocent, 1987.