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Menschenrechte und traditionelles afrikanisches Recht

  • Author: Helga Kerschbaum
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Semiotics
  • Citation: Helga Kerschbaum, Menschenrechte und traditionelles afrikanisches Recht, in: Jusletter IT 11 September 2014
Teil 1 gibt einen Überblick über die Entwicklung vom christlich–europäischen zum universellen Völkerrecht, der Allgemeinen Menschenrechte, der Rechte der kulturellen Minderheiten im Allgemeinen; sowie eine Kurzdarstellung der Rechte der Ureinwohner, und die Beachtung ihres überlieferten Rechtes am Beispiel Südafrika Ende des zwanzigsten Jahrhunderts.
Teil 2 erläutert die Situation der traditionellen und der modernen afrikanischen Gesellschaft, gibt Einblick in die «Afrikanische Charter der Menschenrechte» und in das Konzept des «Ubuntu». Dieses soll das Verständnis für die Tradition Afrikas – und die Notwendigkeit der Einbeziehung der Spiritualität auch in den westlichen wissenschaftlichen und politischen Diskurs – erweitern.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Vom christlich-europäischen zum universellen Völkerrecht
  • 1.1. Völkerrecht und Menschenrechte
  • 1.2. Die Allgemeinen Menschenrechte
  • 1.3. Zur Sicherung der Menschenrechte
  • 1.4. Die Rechte der Ureinwohner (Aborigines, indigenous people)
  • 1.5. Das Recht auf Traditionelles Recht (customary law)
  • 2. Menschenrechte und traditionelles afrikanisches Recht
  • 2.1. Die traditionelle afrikanische Gesellschaft
  • 2.2. Die moderne afrikanische Gesellschaft in Südafrika
  • 2.3. African Charter on People’s and Human Rights
  • 2.4. Ubuntu
  • 3. Schlussfolgerungen
  • 4. Literatur

1.

Vom christlich-europäischen zum universellen Völkerrecht ^

[1]
Die Entwicklung des Völkerrechts, dem Recht der internationalen Staatengemeinschaft, und die von den Vereinten Nationen deklarierten Menschenrechte stehen in engem Zusammenhang. Es lohnt daher, zum besseren Verständnis beider zunächst einen kurzen Blick auf die Geschichte des Völkerrechts zu werfen.

1.1.

Völkerrecht und Menschenrechte ^

[2]
Die Wurzeln des europäischen Völkerrechts reichen bis in das frühe Mittelalter zurück. Ursprüngliche Völkerrechts-Subjekte (VRS) waren die Staaten der christlich-abendländischen Staatengemeinschaft und der Apostolische Stuhl. Die souveränen Staaten Europas und die moderne Staatengemeinschaft haben sich aus dem Schoße dieses mittelalterlichen Kosmos entwickelt; es wäre daher verfehlt, anzunehmen, sie hätten sich als einzelne Völkerrechtssubjekte bewusst zu einer Staatengemeinschaft zusammengeschlossen. Die Kolonialisierung der Neuen Welt durch europäische Völker brachte lediglich eine wesentliche Erweiterung des räumlichen Geltungsbereichs des bis weiterhin ausschließlich christlich-europäischen Völkerrechts.
[3]
Mit dem Westfälischen Frieden im Jahre 1648 beginnt eine neue Periode, jene des klassischen Völkerrechts. An die Stelle der mittelalterlichen Gemeinschaftsidee trat nun der «mechanische» Grundsatz des Gleichgewichts. Nunmehr sollte durch die Allianzen souveräner Staaten das politische Gleichgewicht und damit der Friede gesichert werden.
[4]
Im Jahre 1856 wurde der erste nichtchristliche Staat an das «allgemeine» europäische Völkerrecht gebunden – die Türkei – und ab der 2. Hälfte des 19.Jhd wurden auch andere nichtchristliche Staaten Asiens als VRS allgemein anerkannt.
[5]
Man kann sagen, dass das Völkerrecht nach dem 1.Weltkrieg universell geworden ist. Aber, noch bevor der Prozess der Ausweitung des christlich-europäischen Völkerrechts zu einem allgemeinen Völkerrecht zum Abschluss gekommen war, setzte teilweise bereits eine rückläufige Tendenz ein. Sie wurde durch die bolschewistische Revolution von 1917, die verschiedene Werte des Abendlandes ablehnte, eingeleitet. Durch die Emanzipation der farbigen Völker traten neue Staaten in die Staatengemeinschaft ein, die niemals zum abendländischen Kulturkreis gehört hatten und teilweise Rechtsauffassungen vertraten, die von den abendländischen Rechtsvorstellungen divergierten.
[6]
Gleichwohl anerkennen heute praktisch alle Staaten der Welt das Völkerrecht, auch wenn seine Grundsätze vielfach verschieden ausgelegt werden. Denn Worte und Begriffe allein vermögen keine genügenden Bindungen zu begründen, wenn die hinter den Worten stehenden Werte nicht bekannt sind, nicht gelebt oder weggedacht werden.
[7]
Nach Auffassung des Wiener Rechtsgelehrten Alfred Verdross besteht dennoch die Hoffnung, dass diese Werte schließlich zu allgemeiner Anerkennung gelangen werden, da das aus der christlich-abendländischen Kultur entsprossene Völkerrecht von allgemein menschlichen Werten ausgehe, die in der ethischen Natur des Menschen verankert sind. Ein Gedanke, der sich auch in den Allgemeinen Menschenrechten findet.

1.2.

Die Allgemeinen Menschenrechte ^

[8]
Sie werden als Grundrechte gesehen, die grundsätzlich jedem Menschen zustehen und die auf den Grundpfeilern der Freiheit, Gleichheit, und Solidarität beruhen – auf Werten, die seit der Französischen Revolution 1789 als fundamentale erkannt worden waren. Im Zentrum dieser Menschenrechte stehen daher Rechte und Freiheiten gegenüber der Staatsmacht. Zum Kern der europäischen Rechtsstaatsidee gehört der fundamentale Anspruch, dass der Mensch dem Staat gegenüber unabdingbare, jedem Zugriff der Staatsmacht entzogene Rechte und Freiheiten besitzt. Es sollen daher alle Menschen, die in einem Vertragsstaat oder unter dessen Jurisdiktion leben, unter anderem Anspruch auf Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung haben.
[9]
Nach den Gräueln des 2. Weltkrieges wollte die internationale Staatengemeinschaft den Weltfrieden, aber auch grundlegende Rechte des Individuums verstärkt schützen und sie erhob den Grundsatz der Achtung der Menschenrechte zum allgemeinen Prinzip. Bereits 1948 wurde der 1. Teil der Internationalen Charter für Menschenrechte, die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» vorgelegt und am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung einstimmig(!) verabschiedet. Die Charter trat nach wichtigen Ergänzungen erst 1976, also rund 30 Jahre nach dem Beginn der Arbeiten, in Kraft.
[10]
Die Präambel der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte bekräftigt den Glauben der Völker der Vereinten Nationen (VN) an die grundlegenden Menschenrechte, die Würde und den Wert der menschlichen Person, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, und die Entschlossenheit, sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen bei größerer Freiheit zu fördern.
[11]
Die Menschenrechte werden als ein untrennbarer Bestandteil der menschlichen Natur gesehen, und als jene Voraussetzungen, die es den Menschen erst ermöglichen, auch ihre geistigen Fähigkeiten und das Gewissen voll zu entfalten und ihre geistig seelischen Bedürfnisse zu befriedigen.
[12]
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte umfasst 30 Artikel:
  • Art. 1–19 betreffen bürgerliche und politische Rechte;
  • Art. 22–28 wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte: im Art. 23 ist das Recht jedes Menschen auf Arbeit statuiert;
  • im 29. Art. sind die Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft angeführt;
  • Art. 30. ist eine Auslegungsbestimmung.
[13]
In Artikel 1 legt die grundlegende Auffassung dar, dass «alle Menschen frei geboren sind und gleich in Würde und Rechten. Sie sind mit Verstand und Gewissen begabt und sollen einander in einem Geist der Brüderlichkeit begegnen».
[14]
Die Charter für Menschenrechte enthält unter anderem das Recht jedes Menschen auf Leben, und die Gleichheit aller vor dem Gesetz und sichert die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.
[15]
Sie will einen angemessenen Lebensstandard für jeden, die Möglichkeit, an den Errungenschaften des wirtschaftlichen Fortschritts teilzuhaben und das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit und Bildung. Ebenso erwähnt sie das Recht aller am kulturellen Leben der Gemeinschaft teilzunehmen und enthält darüber hinaus Minderheitenschutzbestimmungen. Sie sichert das Recht jedes Menschen auf menschliche Behandlung im Freiheitsentzug durch das Verbot der Folter und Sklaverei.
[16]
Doch mit der Festschreibung dieser Grundsätze war die Ausformung der Allgemeinen Menschenrechte noch nicht beendet.
[17]
Die weitere Entwicklung der Menschenrechte.
[18]
Nur fünf Jahre später – es ist das Jahr 1981 – wurden wichtige Meilensteine für die Entwicklung und Präzisierung der Menschenrechte gesetzt. In diesem Jahr wurde im Juni die «African Charter on Human and People’s Rights» angenommen und im September 1981 erfolgte die «Universelle Islamische Deklaration der Menschenrechte». In diesem Jahr trat auch die Konvention der Vereinten Nationen «Zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau» in Kraft.
[19]
Es gab Frauendiskriminierungen im Lauf der Geschichte in verschiedenen Formen und Graden und in verschiedenen Erdteilen. Sie hatten zur Folge, dass Frauen durch sie im doppelten Sinne des Wortes behindert wurden. Man denke an die Bandagierung der Füße chinesischer Frauen, die ihnen die Fortbewegung erschwerte, das Einschnüren in enge Mieder der europäischen Frauen, welches die Atmung beschränkte und die noch heute in einigen Regionen Afrikas vorkommende weibliche genitale Verstümmelung. Trotz der zahlreichen Bemühungen der Weltgesundheitsorganisation und der von der UNO ausgerufenen Dekade für Frauen (1975–1985) konnte diese bisher nicht beseitigt werden.
[20]
Die Erklärung und Plattform Beijing, wo im Jahre 1995 die 4. UNO Frauenkonferenz stattfand, unterstrich die Verpflichtung von Regierungen, Gewalttätigkeiten gegen Frauen, einschließlich genitaler Verstümmelung, als Priorität zu bekämpfen. Wie unglaublich schwierig die Ausführung dieses Vorhabens ist, zeigt die Tatsache, dass drei UN Organisationen, die Weltgesundheitsorganisation, der UN Children’s Fund und der UN Population Fund, im Jahre 1997 einen Plan vorlegten, der zum Ziel hat, innerhalb von 10 Jahren eine starke Abnahme weiblicher geschlechtlicher Verstümmelung zu erreichen und deren völlige Beseitigung innerhalb von drei (!) Generationen.
[21]
Im Jahre 1989 wurde eine «UN Kinderrechtskonvention» geschaffen, welche die Rechte der Kinder festlegt. Sie ist der erste holistische Vertrag über allgemeine Menschenrechte, da sie ökonomische, soziale, kulturelle Rechte ebenso wie politische und Bürgerrechte umfasst. Sie richtet sich u.a. gegen Kinderarbeit, körperliche Züchtigung und Missbrauch von Kindern.
[22]
Rechte, auch solche, die in internationalen Verträgen festgelegt sind, können erst dann in vollem Umfang wirksam werden, wenn es legale Mittel zu ihrer Durchsetzung gibt.

1.3.

Zur Sicherung der Menschenrechte ^

[23]
Zur Sicherung der Menschenrechte erfolgt eine Überprüfung der Einhaltung der Menschrechte durch die Vertragsstaaten selbst, durch eine Berichtspflicht der Vertragsstaaten an internationale Gremien und die Befassung des Menschenrechtsausschusses (MRA) durch einen Vertragsstaat, wenn er der Meinung ist, dass ein anderer Staat seinen Verpflichtungen nicht nachkommt.
[24]
Nach den sogenannten «1503 Verfahren», einem vom Wirtschafts- und Sozialrat eingerichteten Verfahren der Menschenrechtskommission (MRK) aus dem Jahr 1979, kann jede Person oder Personengruppe, die an der Ausübung der Menschenrechte gehindert werden, eine Beschwerde an die VN richten. Es sind auch Beschwerden von Einzelpersonen oder Gruppen nach der «Konvention über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung» und der «Konvention gegen Folter» nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges vorgesehen. Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen werden zusammen mit der Stellungnahme der Regierung von einer Arbeitsgruppe der Unterkommission behandelt, bei groben und wiederholten Verstößen an die Unterkommission weitergeleitet, welche die MRK informiert. Diese entscheidet, ob sie eine eingehende Studie über die Lage durchführen oder einen Sonderausschuss oder Sonderberichterstatter einsetzen soll. Die Namen der belangten Länder werden jährlich veröffentlicht.
[25]
Die Menschenrechtskommission ist das wichtigste Gremium der VN, das sich mit Menschenrechtsfragen befasst. Die VN sind nicht in der Lage, Regierungen zu einer Änderung ihrer Praktiken oder ihrer Politik zu zwingen. Der einzige Weg, welcher der MRK offen steht, ist ihre Überzeugungskraft. Alle Verfahren vor den VN zielen darauf ab, das volle Gewicht der öffentlichen Weltmeinung gegenüber den betroffenen Regierungen zum Tragen zu bringen. Eine besondere Verantwortung für den Schutz der Menschenrechte fällt dem Wirtschafts- und Sozialrat zu, der Empfehlungen abgeben kann, um die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle zu fördern.
[26]
Obwohl die Achtung der Menschenrechte zumindest seit Ende des 2. Weltkrieges für Europäische Staaten selbstverständlich hätte sein sollen, zeigt sich doch am Beispiel der Entwicklung in Afrika, dass eine gewisse Kluft zwischen der Deklaration der Menschenrechte und dem politischen Alltag lag, wie dies an zwei Beispielen dargestellt werden soll – sei es aufgrund machtpolitischer Interessen Europas und Amerikas, sei es aufgrund des erstarkten Selbstbewusstseins afrikanischer Führer, die den aus ihrer Sicht westlichen Menschenrechten ihre eigenen afrikanischen Traditionen vorzogen.
[27]
So schreibt der Wissenschaftler an der Cape Town University Thomas Bennett, in seinem Buch Human Rights and African customary law:

    «Ironischerweise war einer der Gründe der Voreingenommenheit gegen die afrikanische Kultur ihre Identifikation mit dem Kolonialismus, da die Tradition der Eingeborenen von verschiedenen europäischen Kolonialstaaten dafür missbraucht worden war, die Macht (unfähiger) lokaler Herrscher zu unterstützen, um eine langsame Entwicklung dieser Völker zu rechtfertigen.

    Später, als afrikanische Länder ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, war man der Ansicht, die traditionellen afrikanischen Einrichtungen wären dem Fortschritt und der Bildung der Nationalstaaten hinderlich: denn sie entsprachen nicht den Allgemeinen Menschenrechten, sie hielten verschwenderische und antiquierte Wirtschaftssysteme aufrecht und sie förderten die Stammesgruppen. Außerdem machten chronisch politisch unstabile Verhältnisse die Einführung der Menschenrechte unmöglich, selbst wenn man sie gewollt hätte.» (1994: 1f.; Übers. H. Kerschbaum)

[28]
Und in der österreichischen Tageszeitung Die Presse vom 8. April 1997 berichtet Thomas Knemeyer in seinem Beitrag «Schwarzafrika und die ‹Zweite Befreiung ›»:

    «Vor 40 Jahren wurde das erste Land Schwarzafrikas aus der Kolonialherrschaft entlassen.

    Heute gilt der Ugander (Staatspräsident) Museveni als der Begründer einer neuen Ära, der eine ‹Zweite Befreiung Afrikas› in Aussicht stellt. Während des Befreiungskrieges in Uganda fand Museveni Mitstreiter bei den Rebellenbewegungen verschiedener afrikanischer Länder. Drei von ihnen sind inzwischen selbst an die Regierung gelangt: Kagana (Ruanda), Afewerki (Eritrea) und Zenawi (Äthiopien). Diese Vierergruppe hat mehrere Eigenschaften, die sie von anderen afrikanischen Staatsführern unterscheiden: Sie sind Panafrikaner, proamerikanisch und anti-französisch; sie halten wenig von der klassischen parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts, aber viel von einer guten Verwaltung und der Förderung des Wirtschaftswachstums.»

[29]
Die Kolonialisierung Afrikas hatte wesentlichen Anteil an den aufgezeigten Entwicklungen.

1.4.

Die Rechte der Ureinwohner (Aborigines, indigenous people) ^

[30]
Die zentrale Bedeutung des Begriffs «Aborigines» liegt in der Bewohnung eines Landes vor dem Eintreffen von einwandernden Kolonialisten. Weitere Merkmale sind ein Status kultureller Unterordnung und das Bestehen sozialer Differenzen, die sie von der dominanten Bevölkerungsgruppe abgrenzen (set apart). Afrikaner sind in Afrika weder politische noch numerische Minderheiten, so dass nur Minderheiten innerhalb der afrikanischen Bevölkerung unter diesen Status fallen können, nicht aber beispielsweise die Schwarzen zur Zeit der Apartheid.
[31]
Im Allgemeinen bedeutete Kolonialisierung für die Ureinwohner ihre Unterwerfung unter die Rechtsordnung der Eroberer. Da z.B. die Territorien Australiens von England als terrae nullius betrachtet wurden, stellte sich die Frage nach der Anerkennung eines Souveräns oder einer anerkennungsfähigen Regierung gar nicht. Sogar dann, wenn die Kolonien durch einen Vertrag erworben wurden, war die Anerkennung der Rechte der Ureinwohner ein Akt der Generosität und des Wohlwollens, der von der Kolonialmacht jederzeit eingeschränkt oder aufgehoben werden konnte.
[32]
Für Afrika kann man im Großen und Ganzen sagen, dass die Territorien nicht als terrae nullius behandelt werden konnten. Da die Afrikaner – im Unterschied zu anderen Ureinwohnern wie den Indianern, den Maori und den australischen Aborigines – die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, konnten sie ihre Kulturen trotz der Kolonialisierung aufrechterhalten. Da es sich um lebendige und starke Kulturen handelte, war es politisch praktisch unmöglich, ihnen diese Anerkennung zu verweigern. Daher beschloss England bereits in seinen frühen kolonialen Bemühungen, dass die Gesetze der Eingeborenen respektiert werden sollen, vorausgesetzt, dass sie entsprechend «zivilisiert» waren. Am Beispiel Südafrikas soll die weitere Entwicklung skizziert werden:
[33]
So verlangte z.B. die Royal Instruction vom 8. März 1848, betreffend die südafrikanische Provinz Natal, die lokalen Rechte und Gebräuche nur dann zu derogieren, wenn sie den allgemeinen Prinzipien der Humanität, die in der gesamten zivilisierten Welt anerkannt waren, widersprachen. Ähnliche Regelungen erfolgten für die südafrikanischen Gebiete des Transvaal nach seiner Annexion 1877 und später für die Transkei.
[34]
Die afrikanischen Einwohner wurden in den Annexionsdekreten als «in der Zivilisierung nicht genügend fortgeschritten» erklärt, um sie dem Common Law zu unterstellen. Es hätten auch weder die vorhandenen finanziellen oder personellen Mittel ausgereicht, die ganze afrikanische Bevölkerung einem fremden Rechtssystem unterzuordnen. So wurde den Afrikanern in den meisten Fällen die eigenständige Ordnung ihrer Familien- und Erbangelegenheiten überlassen. Jedoch waren beispielsweise die nach dem Traditionellen Recht geschlossenen Ehen gegenüber den zivilen oder christlichen Ehen rechtlich inferior und nicht als gleichwertig anerkannt.
[35]
Im Jahre 1927 wurde durch den Native Administration Act eine gewisse Anerkennung des Traditionellen Rechts erreicht und einigen Gerichtshöfen wurde die Befugnis zur Anwendung Traditionellen Rechts in Rechtsfällen zwischen Afrikanern eingeräumt – die erst im Jahre 1988 auf alle Gerichtshöfe des Landes ausgedehnt wurde. Danach mussten alle Gerichte Südafrikas traditionelles afrikanisches Recht (das nur mündlich tradiert war) anwenden, auch gegenüber Weißen, so ferne es mit genügender Sicherheit sogleich festgestellt werden konnte und nicht den Prinzipien der öffentlichen Politik oder der natürlichen Gerechtigkeit widersprach.
[36]
Der Grund für diese lange Geringschätzung des Traditionellen Rechts lag in dem Umstand, dass dieses niemals als «Recht» gesehen worden war. Der Staat war stets der Annahme, er hätte die volle Berechtigung zur Entscheidung, ob überhaupt und in welchem Ausmaß Traditionelles Recht anzuerkennen sei.

1.5.

Das Recht auf Traditionelles Recht (customary law) ^

[37]
Die erste Grundlage für das Recht auf die eigene Kultur – und damit auch Rechtskultur – wird in der Pflicht eines Staates, die Rechte der Minderheiten zu schützen, gesehen. Minderheiten sind Gruppen innerhalb eines Staates, die durch das gemeinsame Band der Sprache, der Kultur oder Religion verbunden sind. Um sich als Minderheit zu qualifizieren, muss zwei Kriterien entsprochen werden: das gemeinsame ethnische, religiöse oder sprachliche Band und die Unterordnung unter eine mächtigere Gruppe.
[38]
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs 1945 wurde die Aufgabe der Sicherung des Minderheitenschutzes von der UNO wahrgenommen. Das Ergebnis ihrer Arbeit war das «Internationale Übereinkommen über politische und zivile Rechte», das Angehörigen von Minderheiten das Recht sicherte, in Gemeinschaft mit anderen Mitgliedern seiner Gruppe die eigene Kultur und Sprache zu pflegen und die eigene Religion auszuüben. Danach hat der Minderheitenschutz relativ wenig Beachtung gefunden und erst im letzten Jahrzehnt wieder an Aufmerksamkeit gewonnen: 1992 nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen die «Deklaration der Rechte von Personen, die einer nationalen, ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit angehören» an.
[39]
Das zweite Gruppenrecht, jenes der Selbstbestimmung, überlagerte seit seiner Anerkennung als eine Regel des internationalen Gewohnheitsrechtes in den sechziger Jahren die Bedeutung des Minoritätenschutzes. Selbstbestimmung wird zumeist als Recht von Völkern auf Selbstverwaltung verstanden. Es soll auch den Angehörigen eines Volkes die Möglichkeit gewährleisten, ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu verfolgen – was die enge Verwandtschaft mit den Rechten der Minderheit offen legt, die somit beide als «Rechte zur kulturellen Selbstbestimmung» gesehen werden können. Das Recht auf Selbstbestimmung enthält auch implizit die Pflicht des Staates, keine Gruppenmitglieder zu diskriminieren, da es diesen sonst unmöglich wäre, ihre eigenen Einrichtungen aufrecht zu erhalten.
[40]
Innerhalb der letzten 40 Jahre begannen Aborigines-Gruppen, die in der internationalen Gemeinschaft besonders benachteiligt waren, verschiedene Rechte für sich zu reklamieren: das Recht auf freie kulturelle Ausübung, nach Land und Rohstoffen und, radikaler, nach politischer Selbstbestimmung. Da die Aborigines durch internationale Verträge nicht viel erreicht hatten, da sie immer mit der heiklen Frage der Selbstbestimmung verbunden waren, gingen sie zu einer anderen Strategie über und begründeten ihren Anspruch mit den Menschenrechten.
[41]
Bereits 1981 setzte die UN MRK eine Arbeitsgruppe für Indigenous People ein, die seit 1985 mit dem Entwurf der Deklaration der Rechte beschäftigt war. Die Deklaration und ein Aktionsprogramm wurden 1993 in Wien bei der Weltkonferenz der UN für Menschenrechte vorgestellt. Sie richtet an die Staaten den Anspruch, die Rechte von Personen zu schützen, die einer ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit oder einer indigenous population angehören. Bereits 1985 erfolgte im Anschluss an eine Lateinamerika Konferenz der UNESCO die «Deklaration von San Jose», die «Ethnozid» (die Zerstörung einer Kultur durch Behinderung einer Volksgruppe, nach eigener Art zu leben und sich zu entwickeln) verurteilte und als eine dem Genozid gleichwertige Verletzung des internationalen Rechts brandmarkte.
[42]
Es scheint, dass die Allgemeinen Menschenrechte einen großen Beitrag zur Befreiung Afrikas geleistet haben – nicht sosehr deswegen, weil sie in den einzelnen afrikanischen Ländern Beachtung gefunden hätten, sondern weil sie für politische Zwecke im Kampf um die De-Kolonialisierung Afrikas durch Mobilisierung der internationalen Gremien und damit auch der internationalen öffentlichen Meinung eingesetzt werden konnten.

2.

Menschenrechte und traditionelles afrikanisches Recht ^

[43]
In der westlichen Kultur war und ist die Meinung vorherrschend, dass die Allgemeinen Menschenrechte ein universales und daher kulturell-neutrales Wertesystem repräsentieren. Als vor mehr als vierzig Jahren die Dekolonisierung Afrikas begann, waren die europäischen Machthaber des Rechts überzeugt, dass die Menschenrechte ein überlegenes Wertesystem waren, und dass ein unaufhaltsamer Prozess der Inkulturation letztlich in der Verwestlichung aller Völker enden werde – oder zumindest die Menschenrechte vollinhaltlich und vorbehaltlos anerkannt würden.
[44]
Es zeigt sich jedoch immer wieder, dass sie – da ihr Ursprung in der westlichen Rechtskultur und Philosophie begründet ist – dem Wertesystem anderer Kulturen nicht völlig entsprechen. Die historisch bedingte grundlegende soziale Struktur des Westens ist eine hierarchische, in der die Autorität des Monarchen oder der Verfassung an der Spitze steht, der alle anderen Machtträger untergeordnet sind. Menschenrechte sichern die Freiheit des Individuums vom allumfassenden Machtanspruch dieser Autorität. Das isolierte Individuum wird durch Rechte gegenüber der Gruppe geschützt.
[45]
Der unqualifizierten Forderung nach Anwendung der Allgemeinen Menschenrechte mit der Implikation, dass Eingeborene zu dem einheitlichen nationalen Status assimiliert werden müssen, wurde daher mit der Gegenforderung geantwortet, dass der afrikanischen Kultur – als der Kultur des Aborigines, der Ureinwohner – ein besonderer Respekt gezollt werden müsse, da sie zugleich eingeboren, also «indigenous», sei und von der westlichen Kultur dominiert werde.
[46]
Betrachten wir daher zum besseren Verständnis die typische politische Struktur der traditionellen afrikanischen Gesellschaft vor der Kolonialisierung:

2.1.

Die traditionelle afrikanische Gesellschaft ^

[47]
Die Basisstruktur der afrikanischen Tradition ist die «fürsorgliche» einer Verwandtschaft, der kinship. Das traditionelle afrikanische Recht regelt daher vornehmlich die Beziehungen der Familie versus Familie. Die Individualinteressen werden dem Gemeinwohl der kinship, der Sippe, untergeordnet. Diese große und aufnahmebereite Sippe sorgte für alle Bedürfnisse des Individuums, materielle, soziale und emotionale. Da die Großfamilie im Mittelpunkt des sozialen Interesses stand, waren die Einzelnen in das gemeinsame Wohl Aller eingebunden. Das Bestehen auf Individualrechten wäre daher als unsozial angesehen worden. Im Gegenteil: eine hohe Kompromissbereitschaft wurde erwartet.
[48]
Zur Sippe gehörten ein Ehepaar und ihre Kinder, die unverheirateten Geschwister des Mannes und seine Eltern – und alle, die sich dem Clan anschließen wollten. Die Aufnahme unehelicher Kinder war völlig unproblematisch, da Kinder als Reichtum angesehen wurden. Eine «Ethik der Großmut» gegenüber allen Sippenmitgliedern sicherte Nahrung und Schutz für alle. Die Pflicht, für alle Familienmitglieder zu sorgen, ist auch heute noch das Herzstück des afrikanischen Sozialsystems. wie dies auch im Art 29 (1) der «African Charter on Human and People’s Rights» zum Ausdruck gebracht wird.
[49]
Die traditionelle afrikanische Kultur hat, ebenso wie andere Kulturen, ein soziales System entwickelt, um das menschliche Zusammenleben zu organisieren. Als Besonderheiten gegenüber dem westlichen Denken können angeführt werden, dass
  • die Entscheidungsfindung nicht durch Abstimmung und Mehrheitsentscheid, sondern durch meist sehr lange Palaver bis zum Konsens aller erfolgt;
  • die Konfliktlösung der Streitteile nicht durch ein streng geregeltes Gerichtsverfahren und ein autoritär gesprochenes Urteil erreicht wird, sondern durch Aufrollen der Streitproblematik in einem den Streitteilen gegenüber positiv eingestellten Umfeld, in dem auch emotionale Verletzungen angesprochen - und damit geheilt werden können.
  • die Güterverteilung vorrangig nicht nur durch Profitorientierung der «Mächtigen», sondern auch durch die Bedürfnisse der Stammesmitglieder bestimmt wird.
[50]
Ein weithin sichtbares Zeichen für das Funktionieren dieses sozialen Regelsystems auch in unserer Zeit wurde durch die Einrichtung und Tätigkeit der «Truth and Reconciliation Commission (TRC)» in Südafrika gesetzt, die einen wesentlichen Beitrag zur Aussöhnung und inneren Befriedung des Landes nach der Ära der Apartheid in relativ kurzer Zeit leistete. Archbishop Desmond Tutu verlangte wiederholt die Anwendung des Konzepts von Ubuntu im Sinne einer wiederherstellenden Gerechtigkeit anstelle der westlichen vergeltenden.

    «Diese afrikanischen Werte, die sich in Ubuntu/botho manifestieren, sind im Einklang mit den Werten der Verfassung im Allgemeinen und jenen der Bill of Rights im Besonderen.» (Mokgoro 1998: 10; Übers. H. Kerschbaum)

2.2.

Die moderne afrikanische Gesellschaft in Südafrika ^

[51]
Im heutigen Südafrika – und es spricht vieles für die Annahme, dass die Entwicklung in weiten Teilen Afrikas ähnlich verläuft – gibt es immer seltener intakte Großfamilien und Sippen. Die hohe Mobilität der Arbeitssuchenden und die Tendenz zur Verstädterung haben die alten Sozialstrukturen aufgebrochen. Das traditionelle afrikanische System des sozialen Schutzes der Großfamilie hat viel von seiner Funktionstüchtigkeit verloren:
[52]
Die (zahlreichen) unehelichen Kinder werden nicht mehr automatisch in die Sippe des Vaters aufgenommen. Häufig muss die alleinerziehende Mutter ohne Unterstützung des Kindesvaters oder dessen Familie für ihre Kinder sorgen. In der Praxis sieht es in Südafrika oft so aus, dass die junge Mutter ihr Kind in ihrer eigenen Familie belässt und allein auf Arbeitssuche in die Großstadt geht. Viele afrikanische Kinder werden daher von der (oft noch unter vierzigjährigen) mütterlichen Großmutter aufgezogen. Ihre Mutter sehen sie zumeist nur zu den großen (Weihnachts)Ferien, den außerehelichen Vater vielleicht nie.
[53]
Durch die hohe Mobilität der Arbeitnehmer/innen haben Frauen den Schutz der Familie verloren. Sie gingen aber auch der sozialen und geschlechtlichen Sicherheit verlustig. Wie man einer im Jahr 1997 häufig ausgestrahlten Informationssendung des südafrikanischen Fernsehens entnehmen konnte, geschah in Südafrika zu dieser Zeit alle 35 Sekunden (!) eine Vergewaltigung. Welches Leid und welche Unsicherheit dies für Frauen aller Altersklassen – vor allem in den schwarzen townships bedeutet – ist nur schwer vorstellbar. Es ist daher verständlich, wenn die schwarzen Frauen politisch immer aktiver werden und heute eine der treibenden Kräfte für die Einführung der Menschenrechte, besonders das Recht auf Chancengleichheit und Gleichheit der Geschlechter, sind. Es sind vor allem die schwarzen Frauen, die in den politischen Gremien gegen die mit patriarchaler Macht ausgestatteten traditionellen Stammeshäuptlinge auftreten.
[54]
Derzeit befinden wir uns, und nicht nur in Südafrika, in der Phase der Rückbesinnung auf die Tradition Afrikas, der «African Renaissance». Verschiedene Schriftsteller, Wissenschaftler und Politiker, wie die früheren Präsidenten von Sambia und Tansania, Nyerere und Kaunda, betonten, dass Afrika eine eigene Doktrin der Menschenrechte entwickelt hatte, die von den europäischen Kolonialstaaten wegen ihrer Überheblichkeit, sie (allein) hätten die wichtigsten und allgemein gültigen Werte der Menschheit gefunden und als schutzwürdig zusammengefasst, übersehen worden war. Afrikanische Schriftsteller argumentierten, dass in der traditionellen afrikanischen Gesellschaft vor der Kolonialisierung andere Ordnungsmechanismen funktionierten, die aber wegen ihres Andersseins nicht weniger wertvoll wären.
[55]
Denn das Fehlen abstrakter Normen zur Sicherung des Menschen bedeutet nach afrikanischer Auffassung noch nicht, dass der Einzelne schutzlos den Mächtigen ausgeliefert ist und auch nicht notwendigerweise die Vernachlässigung oder Respektlosigkeit gegenüber sozial schwächeren Familienmitgliedern. Es gibt ein anders gelebtes soziales Konzept. Der westlichen Doktrin der Menschen-Rechte könne somit das in Afrika eigenständig entwickelte Konzept der Menschen-Würde gegenübergestellt werden. Dennoch erfolgte 1981 eine Afrikanische Deklaration der Menschenrechte.

2.3.

African Charter on People’s and Human Rights ^

[56]
Sie geht von der historischen Tradition und den Werten der afrikanischen Zivilisation aus und sie beinhaltet in 62 Artikeln neben jenen Menschenrechten, die auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschrechte verankert sind, vor allem den afrikanischen Grundsatz des «Ubuntu», der auch Eingang in die neue Verfassung Südafrikas fand.
[57]
Die Pflichten des Individuums sind in den Artikeln 27 bis 29 ausführlich beschrieben und in Art. 29 sehr konkret formuliert:
[58]
«Den Einzelnen trifft auch die Pflicht
  1. die harmonische Entwicklung der Familie zu bewahren und für den Zusammenhalt und Respekt der Familie zu arbeiten; seine Eltern zu allen Zeiten zu respektieren und sie im Falle der Bedürftigkeit zu erhalten;
  2. seiner nationalen Gemeinschaft zu dienen indem er alle seine physischen und intellektuellen Fähigkeiten in ihren Dienst stellt;
  3. die Sicherheit des Staates, dessen Angehöriger er ist oder in dem er sich ständig aufhält, nicht zu gefährden;
  4. die soziale und nationale Solidarität zu bewahren und zu stärken, insbesondere, wenn die letztere gefährdet erscheint;
  5. die nationale Unabhängigkeit und die territoriale Unversehrtheit seines Landes zu bewahren und zu stärken und zu seiner Verteidigung gemäß dem Gesetz beizutragen;
  6. nach seinen besten Fähigkeiten und Kompetenz zu arbeiten und die Steuern zu bezahlen, die durch das Gesetz im Interesse der Gesellschaft auferlegt werden;
  7. die positiven afrikanischen kulturellen Werte zu bewahren und zu stärken in seinen Beziehungen zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft, im Geiste der Toleranz, des Dialoges und der Konsultation und ganz allgemein, zum moralischen Wohlbestehen der Gesellschaft seinen Beitrag zu leisten;
  8. nach seinen besten Kräften, zu allen Zeiten und auf allen Gebieten, die Förderung und das Erreichen der afrikanischen Einheit beizutragen.» (African Commission on Human and Peoples» Rights; Übers. H. Kerschbaum)
[59]
Zum besseren Vergleich soll hier Artikel 29 der Allgemeinen Menschenrechte zitiert werden:

    «Jedermann hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und vollständige Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist.

    In der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten soll jeder nur solchen Beschränkungen unterworfen werden, die durch das Gesetz bestimmt sind und alleine dem Zweck dienen, die Anerkennung und der Respekt der Rechte und Freiheiten anderer zu sichern und die Notwendigkeiten der Moral, öffentlichen Ordnung und allgemeine Wohlfahrt in einer demokratischen Gesellschaft.»

[60]
Auffallend ist also gegenüber den Allgemeinen Menschenrechten «europäischen» Ursprungs, dass dem Bewusstsein der afrikanischen Identität sehr viel Raum gegeben wird und die betonte Einbindung des Individuums in ein größeres «gesellschaftliches Ganzes». Vielleicht erleichtert das afrikanische Sprichwort: UMUNTU NGUMUNTU NGABANTU – erst eine Person macht eine Person zu einer Person – das Verständnis, indem es die Bedeutung und Würde einer Person für eine andere über das bloße Gewähren und Sichern von Rechten stellt.
[61]
Ebenso wie den «Allgemeinen Menschenrechten» unausgesprochen und vielleicht auch unreflektiert die Jahrhunderte alte politische und geistige Entwicklung Europas zugrunde liegt, steht auch hinter den Afrikanischen Menschenrechten das diesem Kontinent eigene geistige und soziale Erbe. Dieser große geistig-philosophisch-spirituelle Zusammenhang wird durch den Begriff «UBUNTU» tradiert.

2.4.

Ubuntu ^

[62]
Das Wort Ubuntu in der Präambel der südafrikanischen Verfassung signalisiert, dass, zum ersten Mal in der Rechtsgeschichte Südafrikas, die kulturelle Tradition Afrikas von ihrem Status der Subordination zu einem Status der Gleichberechtigung mit dem westlichen Rechtserbe gehoben wurde.
[63]
Es handelt sich bei diesem Begriff, der aus dem Sprachschatz der Zulus stammt, um ein afrikanisches Konzept, das den Afrikanern vor allem im südlichen Teil des Kontinents völlig vertraut ist und - wie viele andere - für westliche Ohren nicht einfach zu definieren ist. Nach den Ausführungen von Ngeyi Ruth Kanyongolo, Universität von Malawi, ist Ubuntu ein «Prinzip geteilter Verantwortung». Es ist der Ausdruck für das Prinzip der Solidarität, das der Essenz sozialer Sicherheit zugrunde liegt und es ist von größter Bedeutung im afrikanischen und besonders im südlich-afrikanischen Kontext.
[64]
Das Verfassungsgericht Südafrikas hat Ubuntu im Fall Makwanyane 1995 als ein Verfassungsprinzip erkannt:

    «Dieses Konzept ist von Bedeutung für die Werte, die wir verteidigen müssen. Es ist eine Kultur, die Gemeinschaftlichkeit und die Interdependenz der Mitglieder einer Gemeinschaft betont. Sie anerkennt den Status einer Person als den eines Menschen, der zu unbedingtem Respekt, Würde, Wertschätzung und Akzeptanz von den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft, der er angehört, berechtigt ist.» (Makwanyane, Justice Langa, para 224; Übers. H. Kerschbaum)

[65]
Einem Bericht des University at Buffalo Reporter vom Dezember 1997 zufolge verlangte die erste schwarze Frau, die an den südafrikanischen Verfassungsgerichtshof ernannt worden war, Yvonne Mokgoro, dass die Interpretation der neuen Verfassung in Anlehnung an die traditionelle Afrikanische soziale Philosophie des Ubuntu erfolgen solle. Es sei «eine Weltsicht, eine Lebensphilosophie, die die Werte der Persönlichkeit, der Menschlichkeit, der Moral, Ehrlichkeit und die Sorge um das allgemeine Wohl» beinhalte. Es sollte nicht als anti-individualistisch oder lediglich als soziale Ideologie gesehen werden, sondern vielmehr als «das Potenzial, menschlich zu sein.» Es kontrastiere die Werte des Apartheidregimes von Viktimisierung, Vergeltung und Ausgrenzung und sei mit der Todesstrafe unvereinbar.
[66]
Laut Yvonne Mokgoro schließt Ubuntu «die Schlüsselwerte von Gruppensolidarität, Mitgefühl, Respekt (ein. …) Sein Geist betont den Respekt für menschliche Würde, er markiert einen Wechsel von Konfrontation zu Versöhnung» (Makwanyane, Justice Mokgoro, para 308; Übers. H. Kerschbaum; cf. auch Mireku 2004)
[67]
Einige der grundlegenden Werte des Konzepts von Ubuntu stehen in Übereinstimmung mit den Menschenrechten, andere gehen darüber hinaus: die menschliche Würde, Respekt, Mitgefühl, Ehrlichkeit, Sorge um andere, das Einfügen in eine Gemeinschaft und der Aspekt von Heilung und Versöhnung.

3.

Schlussfolgerungen ^

[68]
Ubuntu, ein Begriff der durch die neue Verfassung auch der weißen Bevölkerung Südafrikas vertraut geworden ist, kann nicht nur eine zentrale Stellung in der südafrikanischen Jurisprudenz einnehmen, sondern einen Beitrag zur Belebung afrikanischer Werte in dem Prozess der «African Renaissance» und zur Verständigung aller Bevölkerungsteile in Südafrika erbringen. Das lebensfreundliche Konzept Ubuntu kann auch einen wertvollen Beitrag zu einer Gemeinschaftlichkeit in der – in gesellschaftlicher Hinsicht «atomisierten» – westlichen Welt zu ihrer Kohäsion leisten. Und damit auch zur Verschiebung der Betonung des Grundsatzes der Bestrafung als Sanktion für ein von der Gesellschaft missbilligtes Verhalten in Richtung Versöhnung und Heilung – wie dies auch dem Geist der Brüderlichkeit entspricht.
[69]
Versöhnung und Heilung sind nicht nur gesellschaftliche, sondern auch fundamentale spirituelle Werte, deren Bedeutung seit der Aufklärung im westlichen wissenschaftlichen Denken vernachlässigt wurde. So wurde beispielsweise der im Jahre 1948 noch in der Präambel der Deklaration der Menschenrechte ausdrücklich genannte «Geist der Brüderlichkeit», der als solcher ebenfalls ein vorrangiger spiritueller Wert ist, im wissenschaftlichen und politischen Diskurs häufig durch den engeren abstrakten Begriff der «Solidarität» verdrängt.
[70]
Spiritualität gehört zum Wesen des Menschen. Wird sie ausgeschlossen, wird damit ein wesentlicher Teil des Menschseins ausgeklammert. Für eine förderliche Entwicklung der gesamten Menschheit im Sinne des Anima Magna Prinzips «Alle sollen wohl bestehen können», wird es der Rückbesinnung auf Werte wie jene der Menschlichkeit, Versöhnung, Heilung und Brüderlichkeit bedürfen und der Einbeziehung der spirituellen Dimension, auch in die Umsetzung der Allgemeinen Menschenrechte.

4.

Literatur ^

African Commission on Human and Peoples’ Rights, African Charter on Human and Peoples Rights, 1981. Web: http://www.achpr.org/instruments/achpr/ [2013-03-18]

Bennett, Thomas, Human Rights and African Customary Law; Juta & Co Ltd.: Cape Town 1995

Draxler, Josef / Weiler, Hans, Freiheit und Recht; Österr. Bundesverlag: Wien 1964

Constitution of the Republic of South Africa Act 200 of 1993, Web: http://www.info.gov.za/documents/constitution/93cons.htm [2013-03-18]

Cunningham, Brent, «Ubuntu» urged for South Africa’s Constitution; University at Buffalo Reporter 29(15), 1997.http://www.buffalo.edu/ubreporter/archive/vol29/vol29n15/n10.html [2013-03-18]

Human Security Network, Understanding Human Rights; ETC: Graz 2003

Makwanyane = Constitutional Court of South Africa, S v Makwanyane and Another (Case No. CCT/3/94), 1995; Web: http://www.constitutionalcourt.org.za; full judgment: http://www.constitutionalcourt.org.za/Archimages/2353.PDF [2013-03-18]; cf. auch http://en.wikisource.org/wiki/S_v_Makwanyane_and_Another

Mireku, Obeng, Shutting Down the Death Factory in South Africa: The Normative Role of the Twin Rights of Human Dignity and Life, 2004. Web: http://www.biicl.org/files/2312_mireku_shutting_down_death_factory.pdf [2013-03-18]

Mokgoro, J.Y., Ubuntu and the law in South Africa; Seminarreport der Konrad Adenauerstiftung: Johannesburg 1997

Mokgoro, J.Y., Ubuntu and the law in South Africa. [Paper presented at First Colloquium on Constitutional Law, Potchefstroom, South Africa, 31 October]. P.E.R. 1998(1)1, 1998. Web: http://www.nwu.ac.za/sites/default/files/images/1998x1x_Mokgoro_art.pdf http://www.ajol.info/index.php/pelj/article/download/43567/27090 [2013-03-18]

Olivier M., Social Protection in the SADC Region: Opportunities and Challenges; Int. Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations 18/4, 377–402, 2004

Shutte, Augustine, Philosophy for Africa; UTC Press: Cape Town 1993

Verdross, Alfred, Völkerrecht; Springer Verlag: Wien 1995


 

Helga Kerschbaum, Juristin, Richterin in Zivilsachen i.R., lebte insgesamt mehr als dreieinhalb Jahre in Kapstadt, Autorin des Buches Kultur des Wohlwollens, hielt einige Referate im Rahmen des Seminars «Semiotik des Rechts» an der Universität Wien. Auch der folgende Beitrag wurde für diese Veranstaltung konzipiert.