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Normen und Werte

  • Author: Karl Garnitschnig
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Semiotics
  • Citation: Karl Garnitschnig, Normen und Werte, in: Jusletter IT 11 September 2014
Der öffentliche Gebrauch der Begriffe «Norm» und «Wert» sind sehr diffus. Es werden die beiden Begriffe dort verortet, wo sie hingehören. Der Normbegriff in die Rechtssphäre, der Wertbegriff in die Moralsphäre. Da aber auch diese Begriffe häufig nicht klar genug definiert werden, werden beide Sphären zueinander in Beziehung gesetzt.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Werte und Wertkonsens
  • 1.1. Sollen und Wollen – Rechts- und Moralsphäre
  • 1.2. Kriterien moralischen Handelns
  • 1.2.1. Wechselseitige Achtung und Anerkennung
  • 1.2.2. Autonomie
  • 1.2.3. Abwägen der Folgen – Person-, Situations- und Kontextmerkmale
  • 1.2.4. Betroffenheit
  • 1.2.5. Universalisierung
  • 1.2.6. Selbstverpflichtung
  • 1.2.7. Bewusstheit
  • 1.3. Einigung bei moralischen Handlungsentscheidungen
  • 2. Ethisch gut
  • 3. Der qualifiziert moralische Mensch
  • 4. Literatur

1.

Werte und Wertkonsens ^

[1]
Es kommt zu ungenauen Ableitungen, wenn man Normen, Überzeugungen oder Meinungen, also das, was man tun soll, mit Werten gleichsetzt und von «gesellschaftlichen Werten» spricht. Werte sind von Personen frei gewählt, werden von ihnen hoch geschätzt und die Personen handeln daher nach ihnen aus eigener Überzeugung (Rahts, Harmin, Simon 1976). Bei Gruppen schon kann man daher nur von Werten sprechen, insofern sie den Gruppenmitgliedern gemeinsam sind und es über sie einen realen Konsens gibt. Es ist immer wieder die Frage zu stellen, was Subjekt welcher Prädikate ist. Spricht man gar von «gesellschaftlichen Werten», dann kann Wert nur bedeuten, was wiederum von den Mitgliedern dieser Gesellschaft als gemeinsam gelebt oder ausgehandelt wird, also als gesellschaftlich anerkannter Wertkonsens. Was überhaupt noch als solcher gilt, steht in Frage. Dieser Konsens ist nicht in dem Sinn real, dass er faktisch durch die Individuen herbeigeführt ist, sondern wird angenommen, sofern die Geltung bestimmter Werte keinen Widerspruch erfährt. Er ist nicht faktisch herstellbar, sondern kann nur aus Erfahrungen, dass bestimmte Werte nicht in Frage gestellt werden, dass unterschiedliche Personen ihre Handlungsmotive gleich begründen usw. erschlossen werden.
[2]
Normen sind Ausdruck gesellschaftlicher Gepflogenheiten oder Setzungen, über die in der Regel in öffentlichen Gremien Einigung erreicht wurde und sind nicht als Werte zu deklarieren (Parsons 1973). Normen wären jene Übereinkünfte zwischen Personen, die von jedermann eingehalten werden sollten und die in der Regel mit einer Sanktion verbunden sind, wenn sie nicht befolgt werden. Solche können explizit mit einer Norm verbunden sein wie im Strafrecht oder mit Prestige- oder Gesichtsverlust verbunden sein. Entsprechend gibt es weiche und starke Sanktionen. Werte als von Individuen frei gewählt und hoch geschätzt, haben einen höheren Stellenwert als Normen. Werte und Normen, die für das Handeln von Menschen einer Gesellschaft von Bedeutung sind, bilden wesentlich das kulturelle System.

1.1.

Sollen und Wollen – Rechts- und Moralsphäre ^

[3]
Von Werten sprechen wir also erst dann, wenn das Subjekt sich selbst ein Gesetz gibt, es sich selbst verpflichtet, sich selbst zum Handeln bestimmt. Damit dies möglich ist, muss dahinter wohl – im Gegensatz zu allen Konzeptionen, die Moral als eine Modalität des Sollens beschreiben – ein Wollen stehen. Die Person lässt sich auf eine Situation ein und merkt, dass es in dieser Situation genau so zu handeln angebracht, richtig, angemessen wäre. Ein anderes Handeln stünde in Widerspruch mit der Person, sie stünde mit sich selbst in Widerspruch, wenn sie anders handelte.
[4]
Moralisches Handeln ist nicht an Normen gebunden, sondern an das Wollen der Person selbst. Der moralische Mensch handelt aus sich heraus gut. Wenn beobachtet werden kann, dass Personen in einem objektiven Sinn, in Relation zu Normen oder zu Maximen «amoralisch» handeln, dann kann das im moralischen Sinn nur heißen in Relation zu bestimmten Standards von Personen, die aus sich heraus moralisch handeln. Ein Sollen in der Moral hat nur insofern eine Bedeutung, als Personen selbstgewählte Handlungsmotive, deren Realisierung Schwierigkeiten mit sich bringt, sich selbst verpflichten ihnen zu folgen. Eine solche Person mag dann zu sich sagen: «Trotz der Schwierigkeiten weiß ich, dass ich aus mir heraus so und so handeln soll, diesen und diesen Motiven folgen soll.» Dieses Sollen beruht auf einer Selbstverpflichtung, der eine Person angesichts einer für sie zu schwierigen Situation nicht folgt. Dies könnte ihr wohl auch von anderen Personen gesagt werden, die von ihren Handlungsmotiven wissen. In der moralischen Sphäre wie auch in anderen Bereichen ist es oft der Fall, dass die Kompetenz höher ist als die Performanz (Döbert/Nunner-Winkler 1978).

1.2.

Kriterien moralischen Handelns ^

[5]
Natürlich braucht moralisches Handeln sowohl für eigene Entscheidungen als auch für das Gespräch zur Einigung über moralisches Handeln zwischen Personen Kriterien. Moralische Urteile betreffen direkt oder indirekt Menschen. Insofern sie Teil des Universums sind, hat ihr Handeln Folgen auf allen Ebenen
[6]
Ausgangspunkt allen Definierens ist eine unmittelbare Einsicht in das, was es zu definieren gilt. Denn wenn man zunächst noch keinen Begriff von etwas hat, und es ferner gilt, dass wir nur auf unser zu einem gegebenen Zeitpunkt während unserer Lebensgeschichte gebildetes Bewusstsein – hoffentlich belehrt durch das, was die Großen der Weltgeschichte schon gedacht und gelebt haben – zurück greifen können, bleibt uns nur der Rückgriff auf das, wie wir einen Begriff zum gegebenen Zeitpunkt unmittelbar verstehen. In der Entfaltung der Definition, wenn wir versuchen, die notwendigen und hinreichenden Merkmale des Begriffs zu finden, klären wir diese unmittelbare Einsicht auf. Sie kann sich in diesem Prozess auch verändern, weil eben diese Tätigkeit des Definierens Teil unserer Lebensgeschichte wird, im Besonderen dann, wenn wir diesen Prozess mit anderen durchlaufen. Trotzdem bleibt dieser unmittelbare Bezug auf sich selbst, dieses auf sich selbst Merken wesentlich für den Prozess des Definierens, denn er soll unsere Realität treffen.

1.2.1.

Wechselseitige Achtung und Anerkennung ^

[7]
Es dürfte wohl allgemein angenommen werden, dass nur dann von einem moralischen Urteil gesprochen werden kann, wenn die Folgen von moralischen Entscheidungen für alle anderen bedacht werden und wenn diese Folgen für die anderen auf ihr Wohl hin bedacht werden. Es mag zwar Situationen geben, in denen drastische Maßnahmen nötig sind, wie z. B. eine Operation, aber dies wäre geradezu ein Beispiel für die Begründung der gemachten Annahme, denn man wird eine Operation eben nur dann durchführen, wenn es keine andere Wahl gibt, das Wohl einer Person zu erreichen.
[8]
Es ist im Besonderen, wie schon Kant in seinem praktischen Imperativ hervorhebt, der andere – und wir dürfen hinzufügen – das andere niemals bloß als Mittel, sondern immer als Zweck zu sehen. Dies erfordert dem Menschen gegenüber die Einstellung von Anerkennung und Achtung. Alles als Zweck zu sehen, impliziert die Forderung, dass alles in seiner Einheit und wechselseitigen Abhängigkeit bzw. Vernetztheit gesehen werden muss, weil man sonst Gefahr läuft, auch den Menschen als Selbstzweck zu missachten.
[9]
Der Mensch als Mensch wird wohl nur dann als Selbstzweck gesehen und in unsere Handlungsentscheidungen einbezogen, wenn er als solcher anerkannt und geachtet wird. Die Achtung und Anerkennung des jeweils anderen ist die Bedingung dafür, dass der andere voll zu sich selbst kommen und sich selbst zur Darstellung bringen kann, was die Grundlage allen Glücks ist. Dies ist auch der Grund, warum Kant Ethik in der Beförderung der Glückseligkeit des anderen und der eigenen Vollkommenheit sieht (Kant 1997, S. 515). Denn wie sollte das Motiv der Beförderung der Glückseligkeit des anderen erfüllt werden können, wenn sich nicht jeder in Selbstreflexion und in der Prüfung seines Gewissens übt, wieweit er dem nahe ist, was er als für sich gut erkannt hat und wie weit er das Glück des anderen tatsächlich will. Wenn dies aber geschieht, dass jeder die Glückseligkeit des anderen will und auch befördern kann, dann sind alle glückselig. Der moralische Mensch hat daher auch den Willen, die Perspektive des anderen zu übernehmen, ihn verstehen zu wollen.

1.2.2.

Autonomie ^

[10]
Anerkennung und Achtung des anderen ist aber nicht möglich, wenn dies nicht jedes Individuum von sich aus umsetzt. Niemand kann für einen anderen Anerkennung und Achtung leisten, jeder muss es für sich selbst tun. Daher ist im Sinne eines moralischen Urteils jeder Mensch als Individuum aufgefordert, seine Entscheidungen selbst zu treffen. Eine übernommene Entscheidung wäre moralisch nicht ausreichend. Die Person folgt dann äußeren Normen. Ein moralisch handelnder Mensch will seine Entscheidung selbst treffen, will selbst die Verantwortung für seine Entscheidung übernehmen. Aber genau diese Übernahme von Verantwortung macht das Besondere des Menschseins aus. Deshalb darf auch ein Verbrecher, auch wenn sein Verhalten krankhaft ist, nicht aus der Verantwortung entlassen werden. Es kann mildernde Umstände geben, aber trotzdem bleibt die Verantwortung. Würde man ihn aus der Verantwortung entlassen, würde man ihm zugleich absprechen, autonom handeln zu können und damit zugleich ein wesentliches Prädikat seines Menschseins. Verantwortung schließt das Abwägen der Folgen des Handelns ein als auch Selbstverpflichtung. Unabhängig davon gibt es die Fälle von Realitätsverlust.

1.2.3.

Abwägen der Folgen – Person-, Situations- und Kontextmerkmale ^

[11]
Jedes Individuum kann je nach seiner intellektuellen Kapazität unterschiedlich viele Folgen als Merkmale von Personen, Situationen und dem Kontext zwischen beiden einbeziehen. In diesem Zusammenhang ist es für ein Konzept der Entwicklung des moralischen Urteils nötig, die intellektuelle Entwicklung zu verfolgen. Dazu gehört aber genauso eine affektiv-volitive Komponente, denn eine Person kann sich verweigern, bestimmte Person-, Situations- und Kontextmerkmale des eigenen Vorteils wegen einzubeziehen, obwohl sie kognitiv dazu in der Lage wäre. Dann erfüllt sie ein notwendiges Kriterium moralischen Handelns nicht.

1.2.4.

Betroffenheit ^

[12]
Die Person muss sich betreffen lassen und damit bereit sein, überhaupt alle möglichen Folgen zu beachten. Eine Person kann nämlich durchaus stärker auf ihren Vorteil bedacht sein und daher die in die Entscheidung einzubeziehenden Situations-, Person- und Kontextmerkmale zum eigenen Vorteil tendenziös auswählen. Es ist also auch eine Frage des Wollens und der emotionalen Betroffenheit, welche und wie viele Merkmale eine Person in die Entscheidung einbezieht.
[13]
Was wir aber daraus folgern müssen ist, dass moralisches Handeln prozesshaft zu denken ist. Es ist niemals abgeschlossen in dem Sinne, dass wir immer noch umfassender unsere komplexe Welt zu erfassen suchen können und wir uns weiterhin sensibilisieren und uns von allen Situationen betreffen lassen. Übrigens ist das ein Aspekt von Bildung, wie differenziert wir uns auf unsere Welt beziehen (vgl. Garnitschnig 2012)

1.2.5.

Universalisierung ^

[14]
Damit ein Urteil als moralisch bezeichnet werden kann, will die handelnde Person die Konsequenzen der Entscheidung bezogen auf prinzipiell alle Menschen, aber auch auf die Umwelt beachten. Denn wie wir gegenüber der Natur handeln, hat auch Folgen für den Menschen. Hans Jonas hat seine Ethik auf diesen Sachverhalt aufgebaut (Jonas 1985). Dieses Merkmal moralischen Urteilens hängt auch mit dem Merkmal wechselseitiger Achtung und Anerkennung zusammen, denn diese setzen die Bereitschaft voraus, Folgen des eigenen Handelns für andere Personen zu bedenken.
[15]
Deutlich wird aber die Konsequenz erst von der Negation des Postulats oder des Motivs. Das Motiv der Universalisierung nicht prinzipiell anzuerkennen würde dazu führen, Gruppenethiken einzuführen. Was für die eine Gruppe gilt, mag für eine andere nicht gelten. Dies ist eine Cosa Nostra-Ideologie, die wechselseitige Anerkennung und den Menschen als Zweck für sich selbst zu sehen und zu achten ablehnt.
[16]
Auch wenn es letztlich unmöglich ist, alle Konsequenzen zu beachten, und damit Urteile niemals universalisierbar sind (Baumann 1995, S. 25 f.), hält der moralische Mensch doch den Anspruch aufrecht. Wenn er also erkennt, dass seine Handlungen negative Konsequenzen zeitigen, ist er bereit, die Folgen dafür zu tragen bzw. sein Urteil zu revidieren. Man würde wieder in die Rationalität der Moderne zurückfallen, wollte man eine strikte Universalisierung fordern. Kritische Intellektualisten neigen dazu, die Postulate der Vernunft absolut einzufordern, um den Gedanken selbst zu destruieren. Da jede Situation einmalig ist, erfordert jede Situation eine einmalige Entscheidung.
[17]
Moraltheoretiker, die glauben, Moral auf allgemeingültigen Regeln aufbauen zu können, die für alle gelten, sind offensichtlich zum Scheitern verurteilt. Aber deshalb kann niemand wollen, dass es überhaupt keine Handlungsmotive gibt, die zwischenmenschliches Leben steuern. Da ferner klar geworden ist, dass es nicht gelingen wird, alle Menschen für die Annahme gemeinsamer Voraussetzungen zu begeistern, von denen ausgehend man Vorstellungen für ein gutes Zusammenleben entwickeln kann, wird man nicht umhin können, Menschen zu suchen, mit denen man zu einem gemeinsamen Verständnis kommen kann.
[18]
Universalisierung in Hinblick auf Personen setzt Perspektivenübernahme, prosoziales Verhalten, Verstehen, Einfühlen voraus. Im Sinne des Definitionsmerkmals «Selbstverantwortlichkeit für moralische Urteile» gibt und kann es kein bloß technisches Verfahren geben, nach dem universalisierte Aussagen «errechnet» werden könnten. Vielmehr bedarf die Anwendung jedes Kriteriums wieder einer Entscheidung, die auf mehreren Möglichkeiten fußt. Jede Entscheidung eröffnet wieder ein Feld von Entscheidungen, die wieder Entscheidungen fordern. Am Ende steht ein Komplex von Entscheidungen, der vom Individuum letztlich vom Sinn der Kriterien her entschieden werden muss.
[19]
In Hinblick auf die Situations- und Kontextmerkmale stellt sich die Frage, ob Personen bereit sind, alle Faktoren zu bedenken, die für eine moralische Entscheidung von Bedeutung sein könnten. Daher ist die Universalisierung immer auch ein projektiver Akt. D.h.: Jede einzelne Person sollte zugleich auch überlegen, welche Auswirkungen die Befolgung einer Handlungsmaxime hätte, wenn alle Menschen nach ihr handelten, was in Zeiten der Globalisierung nach und nach zur Selbstverständlichkeit werden sollte.

1.2.6.

Selbstverpflichtung ^

[20]
Wegen des Merkmals der Autonomie moralischen Handelns kann es keine Verpflichtung von außen geben. Moralische Regelsysteme werden in unserer heutigen pluralistischen Gesellschaft nicht nur nicht beachtet, sondern würden auch gegen die Verantwortung des einzelnen verstoßen. Sie könnten höchstens Anlass sein, sich mit ihnen auseinander zu setzen, nicht um sie als moralische Regel zur Grundlage seines Handelns zu machen, sondern als Grundlage für die eigene Prüfung. Außerdem ist jede Situation und jeder Mensch so einmalig, dass eine Regel niemals ohne eigene Überlegung anwendbar ist.
[21]
Heinz von Förster (1993) kommt mit Wittgenstein (1989) zur Erkenntnis, dass wir über Moral nichts aussagen können, und über die Analyse trivialer Maschinen zu der Aussage, dass wir nur unter der Bedingung Entscheidungen treffen, wenn es keine algorithmische Lösung für ein Problem gibt. Dann sind wir nämlich zur Entscheidung gezwungen. Was algorithmisch entscheidbar ist, nehmen uns triviale Maschinen ab.

1.2.7.

Bewusstheit ^

[22]
Die Spanne des Bewusstseins reicht von unbewusst bis überbewusst. Mit Bewusstheit ist das tatsächliche Gewahrsein seiner selbst in einer Entscheidungssituation gemeint. Wenn eine Person in ähnlichen Situationen immer wieder bewusst handelt und entscheidet, wird die Entscheidung ritualisiert, sie läuft mehr oder weniger automatisch ab. Dies nützt Individuen und auch Gruppen zur Entlastung. In diesem Sinne kann man Entscheidungen wohl auch unter moralischen Aspekten akzeptieren, aber es wäre moralisch nicht legitim, eine Handlung mit dem Hinweis zu rechtfertigen: Das hätte man schon immer so gemacht. Eine einmal bewusste Handlung kann immer wieder bewusst gemacht werden.
[23]

Aus diesen Erörterungen kann nun als Definition des moralischen Urteils bzw. als Moral formuliert werden:

    Moralisch sind jene Handlungsentscheidungen, die bewusst, autonom, unter Abwägung ihrer Folgen für potentiell alle Menschen unter dem Prinzip wechselseitiger Achtung und Anerkennung getroffen werden.

1.3.

Einigung bei moralischen Handlungsentscheidungen ^

[24]
Der Prozess der faktischen Einigung ist selbst von moralischer Bedeutung, weil sich dabei zeigt, inwiefern Personen bereit sind, die genannten Kriterien zu erfüllen, um Einigung erzielen zu können. Eine Bedingung für Einigung ist wohl, dass man sie will. Außerdem wird erst in einem solchen Einigungsprozess gegenseitige Anerkennung real. Auch sie ist nicht, ohne dass man sie will. Dabei könnte sich auch herausstellen, dass Gerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit modifiziert wird, weil diese von den Teilnehmern an einem moralischen Einigungsprozess auch in diesem Sinn modifiziert werden will, dass sie um des anderen willen auf manche Güter im weitesten Sinn verzichten, obwohl sie ihnen nach Gerechtigkeitsmaßstäben zustünden. Sie tun es um eines höheren Wertes willen. Einigungsprozesse auf der Basis wechselseitiger Anerkennung erfordern auch, dass man jenen eine Stimme zu geben hilft, die sich nicht oder nur schwer artikulieren können. Bedingung dafür wiederum ist Empathie, ein vorbehaltloses Verstehen-Wollen der anderen.

2.

Ethisch gut ^

[25]
Kann es einen Grundsatz geben, der für alle gilt und der zugleich Ethik grundlegen könnte? Versuche solcher Grundlegungen von Ethik, die von einem Grundsatz ausgehen, gibt es viele. Dies hat einen guten Grund. Wir dürfen annehmen, dass die, die eine einheitliche Ethik wollten, von einem positiven Motiv geleitet waren. Aber können nicht alle Versuche der Definition von «gut» oder gutem Handeln einen wahren Kern haben, nämlich dann, wenn sie den Merkmalen entsprechen, wie sie oben formuliert wurden? Das größtmögliche Glück – Eudaimonismus – oder der größtmögliche Nutzen – Utilitarismus, wenn sie jeweils für alle gemeint sind, nicht nur für eine ausgewählte Gruppe sondern universell, mit Beachtung der Folgen des Handelns usw., dann fallen diese Prädikate alle zusammen und «Gut» ist dann nicht mehr über ein bestimmtes Prädikat definiert, was nach George E. Moore (1970) einen naturalistischen Fehlschluss bedeuten würde, sondern über alle diese Prädikate und das Verdikt des naturalistischen Fehlschlusses wäre überwunden. Fasst man also jedes Prädikat von gut über die oben definierten Kriterien, dann werden sie universell auch in diesem Sinn, dass Glück und Nutzen wechselseitig definiert sind. Die Verabsolutierung der Prädikate hat möglicherweise ihren Grund in der Vorstellung der jeweiligen Vertreter einer Ethik, dass über dieses Prädikat am leichtesten und am rationellsten die Erfüllung der Kriterien möglich ist. Daraufhin könnten die Hauptvertreter dieser Ethiken untersucht werden.
[26]
Wenn dies gültig ist, dann ist der moralische Mensch Maßstab für soziales und rechtliches, aber auch für moralisches Handeln. Der moralische Mensch bestimmt insofern moralisches Handeln als er in wechselseitiger Anerkennung mit anderen Vorstellungen für ein gutes Zusammenleben entwickelt. Der moralische Mensch zeichnet sich also dadurch aus, dass er Moral von sich aus aktualisiert und will. Ein Sollen ist für ihn nur insofern von Bedeutung, als er möglicherweise an sich entdeckt, dass er noch nicht ganz bereit ist, das von ihm als gut Erkannte selbstverständlich zu tun. Diese Selbsteinsicht gehört geradezu zum moralischen Menschen. Er will – nach Kant (1997) – seine eigene Vollkommenheit. So gehört das Sollen zur Sphäre des Rechts, das Wollen aus eigenem Antrieb zur Sphäre der Moral.

3.

Der qualifiziert moralische Mensch ^

[27]
Der römische Dichter Ovid (43 v. Chr. – 18 n. Chr.) hat in seinen Metamorphosen die Menschen des goldenen Zeitalters so charakterisiert, dass sie aus eigenem Antrieb ohne Gesetz Treue und Recht pflegen. Solche Menschen brauchen für sich keine Rechtsnormen, weil sie diese ihrem Sinn nach ohnehin erfüllen. So ist der moralische Mensch der, der Maßstab für das Recht ist. Er braucht es nicht. Der moralische Mensch ist autonom und anerkennt die Autonomie anderer und entwickelt mit ihnen Vorstellungen eines guten Zusammenlebens, in das alle Menschen einbezogen sind und ist auch von sich aus bereit, mit anderen eine gerechte, demokratische Gesellschaft aufzubauen.
[28]
Er zeichnet sich dadurch aus, dass sein autonomes Handeln in wechselseitiger Anerkennung für ihn eine solche Selbstverständlichkeit geworden ist, dass er nicht mehr anders handeln wird. Er wird sich sensibel von Personen und ihrer Situation betreffen lassen und wird das als für sich befriedigend empfinden. Er wird aus voller Überzeugung und dem Gefühl der Freude nach seinen moralisch motivierten Entscheidungen handeln. Er wird ungefragt und selbstverständlich nach den moralischen Kriterien in völliger Übereinstimmung mit ihnen seine Handlungsentscheidungen treffen und dabei sich mit seinem Gewissen eins fühlen. Für manche mag eine derartige Charakterisierung idealistisch klingen, aber mit unserer Gesellschaft läge es sehr bald im Argen, gäbe es nicht immer wieder Menschen, die von sich aus gerecht und an das Wohl aller denkend handeln.
[29]
Es ist eine allgemein anerkannte These, dass eine Demokratie nicht lebensfähig ist, wenn wir nicht einen Mindestkonsens von übereinstimmenden Werten und Normen in unserer Gesellschaft annehmen, die von jedem oder zumindest von der überwiegenden Mehrheit von sich aus eingehalten werden. Einer der grundlegenden Konsenspunkte wäre die Gleichheit aller und dass Ordnungsstrukturen geschaffen werden, in denen tatsächlich alle die Möglichkeit haben, auf der Grundlage gleicher Voraussetzungen ihr Leben so zu gestalten, dass sie zur höchstmöglichen Ausbildung ihrer Potentiale kommen. Davon allerdings sind sowohl unser Recht als auch die staatlichen Ordnungsstrukturen noch weit entfernt. Dies wird wohl auch noch solange der Fall sein, als die Wirtschaft mehr vom Geist der Konkurrenz und des Wettbewerbs als der Brüderlichkeit und Solidarität getragen ist und Politiker sich mehr dem Ungeist der Wirtschaft verschreiben als an alle Bürger in gleicher Weise denken. Allerdings wird auch noch die Mehrheit der Bürger lernen müssen, was es heißt, gesellschaftliche Strukturen auf wechselseitiger Anerkennung aufzubauen und mit allen anderen Bürgern und auch den zukünftigen Generationen solidarisch leben zu wollen. Werden aber Grundrechte von Menschen nicht akzeptiert, neigen sie dazu, auch aggressiv ihre Rechte zu erkämpfen. Die zunehmende gesellschaftliche Instabilität, hervorgerufen durch die Ungleichheit in der Verteilung der Güter, wird schwer wieder herzustellen sein. Dies wird ohne größere Unruhen schwer möglich sein, weil die alte Ordnung die Tendenz hat, sich zu erhalten, und es schwer vorstellbar ist, dass ausreichend viele Politiker in kurzer Zeit auf das beschriebene Denken einschwenken und gerechtere Ordnungsstrukturen schaffen.
[30]
Unter diesen Gesichtspunkten wären wir alle gut beraten, wenn wir zumindest gedanklich eine formale Gleichheit aller anstrebten, um sie dann auch in der Gesinnung zu leben, die dann wieder auf die Einhaltung der Rechte zurück wirkt. Individuen, die sich selbst verpflichten, das Rechte und Gute zu tun, und damit bereit sind, Verantwortung für alle und auch für die zukünftigen Generationen zu tragen, und die ihre Entscheidungen unter Berücksichtigung möglichst vieler Person-, Situations- und Kontextmerkmale treffen, sind in Zeiten gefährdeter Ökosysteme (vgl. Jonas 1985) und instabiler sozialer Strukturen wieder gefragt. Der Mensch, der sich selbst zu einem solchen Tun verpflichtet, ist allein der, der unsere Zukunft zu sichern vermag.

4.

Literatur ^

Baumann, Zygmunt, Postmoderne Ethik, Hamburg, Hamburger Edition, 1995

Döbert, Rainer/Nunner-Winkler, Gertrud, Performanzbestimmende Aspekte des moralischen Bewusstseins, in: Portele, Gerhard (Hrsg.), Sozialisation und Moral. Neuere Ansätze zur moralischen Entwicklung und Erziehung, Weinheim und Basel, Beltz, 1978

Foerster, Heinz von, KybernEthik, Berlin, Merve, 1993

Garnitschnig, Karl, Bildung, Ausbildung, Einbildung. In: Kärntner Verwaltungsakademie (Hrsg.): Bildungsprotokolle. Bd. 20: 9. Klagenfurter Legistikgespräche. Klagenfurt: Eigenverlag, 2012, S. 86–95

Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1985 (= st 1085)

Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten. Band VIII der Werkausgabe in 12 Bänden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1997

Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart, Reclam, 1965, 6. Aufl.

Moore, George E.: Principia Ethica, Stuttgart, Reclam, 1970

Raths, Louis/Harmin, Merill/Simon, Sidney, Werte und Ziele. Methoden zur Sinnfindung im Unterricht, München, Pfeiffer, 1976

Wittgenstein, Ludwig, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Franfurt/M., Suhrkamp, 1989


 

Karl Garnitschnig, Ao. Univ.- Prof. i. R., Betreuung von Dissertationen an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien, Österreich.