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Mein rechtsphilosophisches Selbstverständnis

  • Author: Ilmar Tammelo
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Ilmar Tammelo, Mein rechtsphilosophisches Selbstverständnis , in: Jusletter IT 11 September 2014
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Einige Kollegen haben mich aufgefordert, meine rechtsphilosophischen Grundgedanken und Grundeinsteilungen darzulegen. Ich habe lange gezögert, dies zu tun, da ich nicht wußte, wie ich dies in angemessener Kürze fertigbringen könnte und wie ich den Kern meiner Rechtsphilosophie herausschälen sollte. Schließlich will ich dies doch versuchen – ich habe die Aufforderung meiner Kollegen als eine Herausforderung an mich selbst angenommen. Vielleicht kann ich dadurch, daß ich jetzt auf sie reagiere, meine eigenen Gedanken besser ordnen; vielleicht kann ich dadurch auch meine künftige Arbeit besser planen. Jedenfalls werde ich so auch für mich selbst das aussprechen und artikulieren können, was mir über mein rechtsphilosophische Anliegen nur z.T. bewußt war.
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Schon während meines Jurastudiums erregte in mir alles, was ich an philosophischer Literatur anschaffen konnte, reges Interesse. Kein Werk und kein Verfasser riß mich aber dermassen mit, daß ich von ihnen nicht einen Abstand zu nehmen vermocht hätte. Auch in späteren Jahren wurde ich niemandes Anhänger und ich schloss mich keiner philosophischen Schule an. Die Schulstreitigkeiten befremdeten mich sogar und erweckten in mir den Eindruck, daß in der Hitze ihres Kampfes manches, worauf es in der Philosophie am meisten ankam, verdunstete. Ich ging auch nicht daran, meine Gedanken in den Rahmen eines eigenen philosophischen Systems zu zwingen. Ich legte eher Wert darauf, ein ständiger Sucher zu bleiben, der in dieser Suche sich von seinen eigenen früheren Gedanken nicht dominieren läßt und der dementsprechend alles, was er auch zutiefst g1auben mag, doch in Schwebe läßt.
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Durch diese Einstellung und durch meine Bereitschaft von überall Anregungen zu empfangen und ungeahnte Einsichten zu finden, setzte ich mich dem Vorwurf des Eklektizismus aus. Den Speer dieses Vorwurfs versuchte ich von mir dadurch abzulenken, daß ich bemüht war, jedes Problem, das mich im Gebiet der Rechtsphilosophie beschäftigte, klar zu erfassen und scharf zu formulieren und seine Lösung geradlinig und folgerichtig herauszuarbeiten. In jener Arbeit, bei der ich Stütze oder Anregung von Lehrmeinungen verschiedenen Ursprungs erhielt, fand ich oft keine echten Konflikte, sondern eher eine grundsätzliche Komplementarität.
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Umfangreiche philosophische Werke erweckten in mir immer ein Unbehagen. So setzte ich es auch mir nicht zum Ziel, solch ein Werk jemals zu schreiben. In solchen Werken neigen die Gedanken dazu, verschwommen zu werden und im eigenen Gewebe verloren zu gehen. Sie ermüden den Leser und müssen den Verfasser selbst langweilen. So habe ich versucht, alle meine Arbeiten so kurz und bündig wie möglich zu gestalten. Die Auswahl der Thematik meiner rechtsphilosophischen Arbeit ist immer durch einen inneren Drang bedingt gewesen, den jeweiligen Problemen nachzugehen. Ich habe aufgehört weiterzuspinnen, wenn dieser Drang nachließ.
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Auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie habe ich mich hauptsächlich mit zwei Themenkreisen beschäftigt: dem der Rechtslogik und dem der Gerechtigkeit. Daneben habe ich auch, ausgehend von meinen Behandlungen der entsprechenden Probleme, mich mit rechts­ analytischen und rechtsethischen Fragen im allgemeinen befaßt. Meine Grundeinstellung in der Rechtslogik ist als eine des Formalismus und des Instrumentalismus zu beschreiben. Ich fasse die Logik als formales Werkzeug im Dienste des rechtlichen Denkens auf, das als solches unentbehrlich auch für die Juristen ist. Es gibt nichts, das die echte Logik für den Juristen wirklich ersetzen kann; in seiner Routinearbeit kommt er natürlich mit der Logik, die er implizite in seiner beruflichen Ausbildung an Hand der bewährten Denkmuster erlernt hat, ganz gut aus.
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In der Theorie der Gerechtigkeit gehe ich vom non-kognitivistischen Standpunkt der Wertphilosophie aus, wonach Werte nicht zu erkennen wohl aber zu ergründen sind und wonach die Werturteile nicht zu verifizieren wohl aber zu vindizieren sind. Auf dieser Grundlage halte ich es für möglich, eine vertretbare Konzeption des Naturrechts aufzubauen, die eine nützliche Rolle auch im heutigen rechtlichen und politischen Denken spielen kann. Ich lege Gewicht auf die Unterscheidung des formalen und des materialen Aspekts der Gerechtigkeit, von dem der erstere sich auf den Begriff, der letztere auf die Kriterien der Gerechtigkeit bezieht. Die Kriterien der Gerechtigkeit – die Grundsätze, wonach man beurteilt, ob ein Verhalten gerecht ist – sind nach den von der Argumentationstheorie aufgestellten Grundsätzen und Maßstäben in den konkreten Fällen anzuwenden.
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Obwohl ich allen rechtsphilosophischen Gedankenrichtungen Verständnis entgegenzubringen versuche, hege ich auch rechtsphilosophische Abneigungen. Gewisse abgedroschene bildliche Ausdrücke, die in der Rechtsphilosophie noch heute gang und gäbe sind, wie z.B. «die Überbrückung der Kluft zwischen Sein und Sollen», kommen mir schal vor; sie sind mir auch widrig, weil diese Armseligkeiten anscheinend verwendet werden, um ein verschwommenes Denken zu übertünchen. Den Streitigkeiten zwischen den Rechtspositivisten und Naturrechtlern stehe ich teils amüsiert teils irritiert gegenüber. Ich halte einen vernünftigen und ethisch hochstehenden Rechtspositivismus wie eine solche Naturrechtslehre für durchaus möglich und vertretbar. Sie haben ihre Vor- und Nachteile unter verschiedenen geschichtlichen Bedingungen. Was mich wirklich empört, ist die Unvernunft, der Polemik gegen die Rechtslogik als solche. Sie stammt aus Unkenntnis der modernen Logik und aus Unfähigkeit oder aus Mangel der Bereitschaft, eine genügende Bekanntschaft mit ihr zu machen. Da die Logik im Dienst des Rechts nichts anderes bedeutet, als verläßliche formale Mittel zur Verfügung zu stellen, damit auch der Jurist bewußt folgerichtig denken und formale Denkfehler vermeiden kann, sehe ich nicht ein, was an der Rechtslogik als solcher auszusetzen ist.
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Ich beschäftige mich immer mehr und mehr mit großen Problemen der Menschheit, besonders mit dem ihres Überlebens und dem ihrer menschenwürdigen Existenz. Ich bin überzeugt, daß die Rechtsphilosophie zu ihrer Lösung Erhebliches beitragen kann und soll. Sie kann dazu verhelfen, den normativen Aspekt der betreffenden Problemlösungen in ihrer Tiefe zu erforschen und zur Herausarbeitung der zeitgemäßen Prinzipien des heute und für die Zukunft seinsollenden Rechts beizutragen. So manches finde ich im herkömmlichen diesbezüglichen Gedankengut als verbesserungsbedürftig und sogar in seinem verkommenen Zustand gefährlich.
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Mich beunruhigt bei diesen Problemen unsere Unterlassungssünde, daß wir nämlich jetzt menschliche Maßnahmen, die noch möglich sind, nicht ergreifen – Maßnahmen, die unerläßlich sind, um die Gerechtigkeit bei der Zuteilung der materiellen Güter auch den kommenden Generationen widerfahren zu lassen. So zwingen wir sie, die von uns vererbten Probleme durch unmenschliche Maßnahmen zu lösen, sollte dann für diese Probleme überhaupt eine Lösung möglich sein. Mich beunruhigt auch der sowohl den bürgerlichen als auch den kommunistischen Ideologien zugrundeliegende Produktivismus, wonach das menschliche Wohl durch die Herstellung von mehr mehr materiellen Gütern zu erreichen ist. Ich glaube nicht, daß der materielle Fortschritt ein durchgehend transitiver Prozeß ist; er muß, wenn wir noch zügellos vorgehen, zu einem Regreß der künftigen Generationen führen. So befasse ich mich mit dem Gedanken eines allmählichen, möglichst wenig Leiden verursachenden Prozeß des Abbaues unserer heutigen Raubbau treibenden Zivilisation, so daß ein Gleichgewicht zwischen der Bevölkerungszahl auf dieser Erde und den für Konsumgüter bestimmten Naturvorräten erreicht werden kann. Ich teile die Auffassung, daß der Mensch das Niveau der Evolution erreicht hat, auf welchem er auch kosmische Verantwortung tragen soll und in diesem Sinne auch als kosmisches Wesen gilt, das dementsprechend rechtlich und sittlich denken und handeln soll.

 

Ilmar Tammelo, Vormals Professor für Rechtsphilosophie an der Universität Salzburg.Dieser Text von Ilmar Tammelo wurde von ihm in kopierter Form «publiziert»; zu Ehren Friedrich Lachmayers wird er aber nun einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ein herzliches Dankeschön gebührt Winfried Bauernfeind für die Zurverfügungstellung seiner Textkopie. Der Text wurde unverändert belassen; es wurden nur editorische Änderungen vorgenommen.