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Zur Philosophie des Überlebens und zu Ilmar Tammelo

  • Author: Winfried Bauernfeind
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Winfried Bauernfeind, Zur Philosophie des Überlebens und zu Ilmar Tammelo, in: Jusletter IT 11 September 2014

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Zum Aufbau des Werks
[1]

Ilmar Tammelo (1917–1982) war ein gütiger Mensch. Einer der gütigsten, die ich kennen lernen durfte. Auf ihn trifft Spruch 49 aus dem zweiten Teil «Leben des Tao Te King» – frei übersetzt – zu:

Das Wesen der Nachgiebigkeit

Der Berufene hat kein Herz für sich.

Er macht der Menschen Herz zu seinem. Zu den Guten ist er gut.

Zu den Nicht-Guten auch.
[2]
Im Kommentar Richard Wilhelms heißt es dazu u.a.: Lao tse stellt das Ideal dar, dass jeder so zu behandeln ist, wie es seinem Wesen entspricht. Der Berufene hat kein Herz mit einer ein für allemal bestimmten Richtung der Handlungsweise.
[3]
Damit sind wir in den Zentralgedanken von Ilmar Tarnmelos Buch: «Zur Philosophie des Überlebens». Gerechtigkeit, Kommunikation und Eunomik, in Deutsch 1975 im Verlag Karl Alber, ISBN 3- 495- 47315- 7, erschienen und leider vergriffen.
[4]
Die Sprache ist klar und einprägsam. Großen Anteil hat daran Dr. Dorothea Mayer-Maly, damals Mitarbeiterin Tarnmelos in Salzburg, Institut für Rechtsphilosophie, Methodologie der Rechtswissenschaften und Allgemeine Staatslehre, dem er als Univ.-Professor vorstand.
[5]
Das Buch ist übervoll von Anregungen. Schon der Titel hat Doppelsinn. Überleben bedeutet primär: «Gerade noch davon gekommen sein», aber auch: «Ein gesteigertes Leben» (ähnlich Übermensch, Überzeugung) sogar Leben nach dem Tod. Bei Tammelo gewinnt es: Anreicherung mit Vernunft.

1.

Zum Aufbau des Werks ^

[6]
Es besteht aus Vorwort und drei Teilen (= 4)
[7]
Die Teile:

I. Selbstgespräche zur Metaphysik der Gerechtigkeit. Prolog, 3 Monologe, Epilog

II. Albigensische Begegnungen. Hingang, 3 Begegnungen, Abgang

III. Eunomische Versuche. Auftakt, 3 Versuche, Ausklang

[8]
Jeder Teil setzt sich also aus 5 Abhandlungen zusammen, ergibt mit Vorwort 16. (Die geraden Zahlen wurden als weiblich, die ungeraden als männlich eingeschätzt.)
[9]
Tammelo legt den Abhandlungen wechselnde Stimmungen zugrunde. Etwa mit Ionesco: «Auf der Erde zu sein, ist nicht annehmbar.»1 Andere Fassung: «Die Welt wie sie ist, ist unannehmbar.» Oder das Staunen über die Herrlichkeit der Welt. Die Stellungnahmen (Stimmungen) lassen sich auch mit der alten indischen Geschichte schildern, die Rilke in den Briefen an Benvenuta überliefert.
[10]
In Indien lebten einst drei Heilige. Sie waren sehr heilig. So hielt ihnen der Wind den Mantel, wenn sie sich im Fluß rituell wuschen. Als dies eines Tages wieder geschah, stürzte sich ein Adler herab und griff einen Fisch. Da schrie der eine: «Böser Vogel» und sein Mantel fiel zu Boden. Der zweite rief: «Armer Fisch» und sein Mantel glitt zur Erde.
[11]
Der Dritte aber sah lächelnd, wie Vogel und Fisch im Himmel verschwanden und sein Mantel blieb im Wind hängen.
[12]
Einige Ausführungen Tammelos seien herausgegriffen:
[13]
1. Sein formaler Begriff der Gerechtigkeit (S. 32), der im gesamten Buch eine Rolle spielt. Gerechtigkeit: «der positive, ethische soziale Wert, nach dessen Maßstab einer Person in normativ bilateralen Beziehungen das ihr Zukommende zugeteilt wird.» Bilaterale Beziehung wird in dem Sinn aufgefasst, dass einem verpflichteten Subjekt immer ein berechtigtes gegenübersteht. (S. 21) Als materiale Aspekte werden: Gleichheit, Gutes, Glück der größten Zahl, nach dem Verdienst, nach den Bedürfnissen, Minderung sinnlosen Elends u.a. in Erwägung gezogen. (Dies kann man vielleicht mit einem von Tammelo geliebten Wort: «gedeihen lassen» zusammenfassen.)
[14]
2. Kritisch: «Die Erfahrungsgrundlage dafür, dass etwas gut ist, ist das Erlebnis des Wohlbefindens» (S. 27).
[15]
Dazu ein wahres Geschehnis. In einem KZ wurde ein Mann zum Capa bestellt. Capas hatten als Gefangene eine Art Verantwortung für die Mithäftlinge ihrer Baracke. Beim Heimkommen nach Schwerstarbeit strauchelte einer davon aus Schwäche. Die begleitende SS verlangte vom Capa, dass er ihn deshalb mit der Peitsche schlage. Doch dieser erklärte, dass er keinen Menschen schlage und blieb trotz «Abmahnungen» und Drohungen dabei. Sie haben ihn niedergerissen und ertreten. Seine Handlung war gut, heroisch, aber hat mit Wohlbefinden nichts zu tun.
[16]
3. Die Unterscheidung zwischen Vindikation (= Nachweis der intersubjektiven Vertretbarkeit von Werturteilen: etwas ist gut, nicht gut, weder-noch-gut /= neutral) ist also Zuordnung von Attributen im Gegensatz zur Verifikation(= Nachweis der objektiven Haltbarkeit eines Urteils wahr/falsch) als Zuordnung von Eigenschaften. Vindikationen können logisch widersprechend sein, weil Attribute kein konstitutives Element eines Gegenstandes sind (S. 59 ff.)
[17]
4. Verifikation und Vindikation haben jede drei Formen von Argumentationsweisen, nämlich Deduktion (= logische Ableitung), Reduktion (= Verallgemeinerungen, Annahmen), Eduktion (= Entwicklung von Analogien). Bei der Vindikation kommt noch die von Tammelo eindringlich geschilderte Paraduktion als Gedankenarbeit für einsichtsvolle Zustimmung hinzu (S. 61- 71).
[18]
5. Aus dem Epilog: Begriff der Vernunft als Vernehmen, Hören; Intellectus; Ratio (von reri: etwas für etwas halten, denken, kalkulieren, S. 80 ff.). Daran schließen sich Fragen nach einem höchsten Wert. Tammelo hält nur konkurrierende, die einen Pyramidenstumpf bilden (etwa Wahrheit, Güte, Schönheit usw.), für sicher erkennbar. Den höchsten hält er mit Zweifeln für: liebevolle Sorge.
[19]
6. Die Begriffsentfaltung der Kommunikation (S. 97 ff.). Dies ist eine Zeichenlehre und später Sprachanalyse. Elemente: Kommunikanten (Kommunikatoren und Kommunikationsadressaten). Kommunikatum (= Botschaft). Kommunikationsverbindung (= Beziehung zwischen Kommunikator und Kommunikationsadressaten). Kommunikationsmittel, besonders Sprache. Kommunikationssituation (= Fakten und Faktoren, die bei Übertragung und Empfang des Kommunikatum eine Rolle spielen).
[20]
Bei der Sprache unterscheidet Tammelo (S. 101 ff.) scharf zwischen Signum (= physikalische Erscheinungen), Significatum (= geistige Inhalte), Designatum (= das, worauf sich die geistigen Inhalte beziehen).
[21]
7. Der dritte Teil des Buches ist Darlegen und Denken über die Positionen der Naturrechtslehren und des Rechtspositivismus. Grundthesen: Aus Tatsachenurteilen allein lassen sich logisch keine Werturteile ableiten, aus Seinsurteilen keine Sollensurteile (S. 219).
[22]
«Es ist sinnwidrig, Recht als wahr oder falsch zu begreifen» (S. 234). Hierin sehe ich ein Problem. Mit Sollsätzen kann man nämlich >lügen<; wenn man etwa einen Widerspruchsgeist mit etwas auffordert, damit er es bestimmt nicht tut. Man kann auch irren. Wenn z.B. ein Arzt verfügt: Nehmen sie dieses Medikament, das aber schadet. Man muß auch bedenken, daß Wertungen Tatsachen sind und Sein Sollen umgreift (worauf Lachmayer hingewiesen hat), weil es im Sein vor sich geht.
[23]
Tammelo (S. 210) vertritt entschieden einen konativistischen Standpunkt = Vernünftigkeit von Normen wird nicht in Tatsachen, sondern in der wohlbegründeten Beimessung von Werten gesucht.
[24]
8. Nach Erwägungen über ein futuristisches Naturrecht gestaltet Tammelo den «Ausklang»: Gerechtigkeit und Gelassenheit. Eine Überhöhung im Verständnis ähnlich der Musik. Er erlebt die Haltung, die Meister Eckhart als Gelassenheit preist. In ihr wird zwischen passivem und aktiven Aspekt der Gerechtigkeit gefühlt. Im passiven nimmt man alles in Gleichmut hin (vgl. indische Erzählung). Dann vermag man erst aktiv zu geben. Lachmayer hat betont, daß das «ius suum tribuens» geben und nicht nehmen festlegt. Aus der Gelassenheit folgt eine pax tranquilla.
[25]
Der «Ausklang» ist auch in anderer Weise wesentlich. Nach Lachmayer «brüllen» Häuptlinge und «singen» Schamanen.
[26]
Ilmar sang gut und tanzte gern.
[27]
Es gibt ein Gedicht von Wilhelm Busch (1832-1908), das mit Tarnmelos «Philosophie des Überlebens» in vielem übereinstimmt:

Bös und gut

Wie kam ich nur aus jenem Frieden

Ins Weltgetös?

Was einst vereint, hat sich geschieden,

Und das ist bös.

Nun bin ich nicht geneigt zum Geben,

Nun heißt es: Nimm!

Ja ich muß töten, um zu leben,

Und das ist schlimm.

Doch eine Sehnsucht blieb zurücke,

Die niemals ruht.

Sie zieht mich heim zum alten Glücke,

Und das ist gut.2


 

Winfried Bauernfeind, Hofrat der Finanzprokuratur i.R.

  1. 1 Eugene Ionesco: heute und gestern, gestern und heute, Tagebuch, Luchterhand 1969, S. 73 «Auf der Erde zu sein, ist nicht annehmbar.»
  2. 2 Wilhelm Busch aus «Schein und Sein».