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Nachdenken über Europa

  • Author: Marie-Theres Tinnefeld
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Semiotics
  • Citation: Marie-Theres Tinnefeld, Nachdenken über Europa, in: Jusletter IT 11 September 2014
Der europäischen Rechtskultur verdanken die EU-Mitgliedstaaten wesentliche Elemente der Aufklärung und menschenrechtsorientierte demokratische Verfassungen. Wächst in der supranationalen Union zusammen, was zusammengehört? Nationale Eigenheiten, vorurteilsbeladende Abgrenzungen, rechtskulturellen Prägungen der Mitgliedstaaten haben indessen harte Spuren hinterlassen, die einer friedenswirksamen Integration im Wege stehen. Vor diese Überlegungen stellt der Beitrag den wohlbekannten Mythos Europa.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Mythos Europa
  • 2. Wortursprung und kulturelle Bedeutung
  • 3. Geografische Grenzen und Rechtskultur
  • 4. Demokratische Rechtsgemeinschaft
  • 5. Schlussbemerkung
  • 6. Literatur

1.

Mythos Europa ^

[1]
Die Geschichte von Europa ist vielschichtig und reicht bis ins Altertum zurück. Der Mythos erinnert an die phönizische Königstochter Europa, die von Zeus auf einem weißen Stier nach Kreta entführt wurde und ihm dort drei Söhne gebar.1 Als symbolträchtiger für den Kontinent Europa sieht Oskar Negt jedoch drei merkwürdige Geschenke an, die Zeus Europa zum Abschied überreicht hat: einen immer treffenden Speer, Lailaps, den schnellsten Hund der Welt und Thalos, einen erzenen Riesen (Bronzemann), der alltäglich Eindringlinge auf der Insel verjagt – also Eingrenzungen und Ausgrenzungen vornimmt wie sie Europa bis heute beschäftigen.2
[2]
Zu den Instrumenten der inneren Eingrenzungen gehören in europäischen Staaten selbstlernende Kameras, die gleichsam wie neuronale Netze Erfahrungen sammeln und entscheiden sollen, welche Verhaltensweisen von Bürgern aus nationaler Sicht noch als «normal» zu bewerten sind und welche nicht. An ihren Außengrenzen plant die Europäische Union eine «intelligente» Überwachung mit Drohnen, um Eindringlinge, insbesondere (Boots)Flüchtlinge aus Afrika aufzuspüren. Dieses Projekt trägt bezeichnenderweise den Namen des Bronzemannes «Thalos». Die neue technische Strategie dient dazu, europäische Grenzen durchschaubar zu machen, um Fremde abzuweisen. Im Rückblick auf die Anfänge der Europäischen Einigung, die als Rettung aus der Not zweier Weltkriege und im Zeichen eines Wegs zum Frieden stand, erscheint diese Entwicklung ziemlich absurd.

2.

Wortursprung und kulturelle Bedeutung ^

[3]

Im Ursprung des Wortes Europa findet sich das griechische «euros». Dieses bedeutet sinngemäß «Weite» bzw. «Breite». Der Altertumsforscher Robert von Ranke-Graves hält zwei Deutungen des Begriffs Europa für möglich. Die erste entspricht der oben genannten Definition, allerdings mit einem symbolischen Bezug: Der Forscher führt aus: «Europa bedeutet ‹breitgesichtig›; es ist Synonym für den Vollmond und ein Beiname der Mondgöttinnen Demeter in Lebadeia und Astarte in Sidon.» Dann fährt er fort: «Wenn man das Wort jedoch nicht eur-ope, sondern eu-rope liest [...] kann es auch gut für die Weiden` – das heißt gut bewässert bedeuten.»3 Die europäische Landschaft als Menschheitstraum gleichsam ein bewässerter Garten Eden?

[4]
Für Mitteleuropäer spiegelt sich das blühende Europa im Deckengemälde des Venezianers Giambattista Tiepolo (1752/53) im Treppenhaus der Würzburger Residenz wieder. Auf 677 qm breitet es eine allegorische Darstellung der (damals bekannten) vier Kontinente stufenweise aus: Amerika, Afrika, Asien und Europa. Europa ruht, ihre Rechte mit einem Szepter auf den mythischen göttlichen Stier gestützt und mit der Weltkugel zu ihren Füßen, in der Mitte des Freskos. Beim Aufstieg im Treppenhaus entfalten sich die Erdallegorien mit Blick auf Europa als Höhepunkt des zivilisatorischen Fortschritts.4
[5]
Der Begriff Zivilisation erinnert an Frieden und Gerechtigkeit im Sinne eines Gebots der Gleichgewichtswahrung. Sie ist mit Europas besten Traditionen – bildlich gesprochen – mit der Fackel der Aufklärung («enlightenment», lumières) im 18. Jahrhundert verbunden. Die Fackel selbst ist ein uraltes Symbol, das im vielschichtigen Prometheus-Mythos verwurzelt ist.5 Die Sage berichtet, dass Prometheus Feuer vom Sonnenwagen des Zeus stahl und damit Menschen im Lichte des Lichts als erster Kultur, Wissen und Technik ermöglichte. Gefragt ist in der digitalen Weltgesellschaft von heute eine menschenbezogene Technikgestaltung, in der Rechtskulturen eine elementare Rolle spielen.
[6]
Es ist daher kein Zufall, dass die Aufklärung mit dem Recht und der Rechtskultur verbunden ist. Die französische Menschenrechtserklärung von 1789 ist der «universal wirkende» rechtskulturelle Beitrag Europas, der dann philosophisch aus dem Menschenwürde-Konzept von Immanuel Kant in Rechtstexten kristallisiert wurde.6 Dazu gehören die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 (mit ihrem Pakt 1966), die nach dem Grauen zweier Weltkriege als Teil eines universalen Wertesystems für das Zusammenleben aller Menschen formuliert wurde, sowie die Präambel der Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 und die Europäische Grundrechte-Charta (EGRC) von 2009, die die Achtung der Menschenwürde an die Spitze ihres Grundrechtskatalogs gestellt hat. Die Charta basiert auf dem Konzept der EMRK, wonach die Menschen- und Grundrechte auf einer jedem Menschen innenwohnenden Würde und nicht auf einem Recht auf Würde beruhen.7 In der Achtung eines Jeden Menschen liegt auch der Schlüssel für eine weltoffene Informationsgesellschaft im 21. Jahrhundert.

3.

Geografische Grenzen und Rechtskultur ^

[7]
Im Verlauf der Geschichte hat die Frage «Wie weit reicht Europa?» die Menschen über die Jahrhunderte hinweg geografisch und rechtlich beschäftigt. Der Rechtshistoriker Dieter Simon stellte die Frage nach der Ost-Westspaltung und beantwortete sie gleichsam wie das delphische Orakel: «So weit, wie wir wollen!.8 In der Präambel der EMRK ist die Rede von europäischen Staaten, die «vom gleichen Geist beseelt» sind. Die Türkei hat die Konvention unterschrieben. Sie gehört aber nicht in den gegenwärtigen Bezugsrahmen des Rechtsystems der Europäischen Union.
[8]
Der Zusammenschluss der bislang siebenundzwanzig nationalen Staaten in der Union ist im rechtskulturellen und menschlichen Sinn ein schwieriger Prozess. Er ist auf Integration der Mitgliedstaaten angelegt und liefert das Hoffnungspotenzial für einen «ewigen Frieden». Abzulesen ist der Prozess etwa bei Kant. Der Philosoph meint, dass das Problem, eine staatliche Friedensordnung zu organisieren «selbst für ein Volk von Teufeln auflösbar [sei] (wenn sie nur Verstand haben)».9 Mit anderen Worten der Staat ist auf die Beteiligung des urteilsfähigen Citoyen angewiesen. Das Ergebnis einer solchen Organisation wäre eine demokratisch legitimierte Machtfülle wie sie die supranationale Union zwar anstrebt, aber noch nicht erreicht hat.
[9]
Die Union mit ihren Institutionen bietet einen sozialen Raum mit einem großen rechtskulturellen Reichtum und neue Informationsfreiheiten für ihre Bürger, wie es sie zuvor nie gegeben hat. Welche Auswirkungen die Schuldenkrise sowie die zunehmende Ungleichheit und Ungerechtigkeit auf Unionsbürger und ihr nationales Gefühl hat, ist allerdings noch nicht zu übersehen. Die Krise kann nicht nur dem Grad der europäischen Integration neue Grenzen nach innen ziehen und «Nationalstaatsorthodoxien» den Weg bahnen. Wer heutzutage von Europa spricht, muss auch nach elastischen Außen-Grenzen einer Union fragen, die zumindest halboffen und nicht als Festung konzipiert wurde. So jedenfalls steht es im Unionsvertrag, der auf eine menschenorientierte, zivile Politik angelegt ist, in der etwa Drohnen als Grenzwärter im Schatten des Bronzemannes Thalos keinen Platz haben.

4.

Demokratische Rechtsgemeinschaft ^

[10]
Die weitere Entwicklung der supranationalen Union kann nur in den Bahnen einer anwachsenden menschenrechtsorientierten Kultur verlaufen, die auf den politisch mündigen Citoyen angewiesen ist. Zu den Fundamenten der europäischen Rechtskultur gehören die Rechte auf Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit, die im Recht auf Privatheit/Datenschutz ihren Gegenpart und ihre Ergänzung finden. In ihrer Zusammenschau bilden sie die Basis eines jeden Bürgers, die ihn befähigt, als mündiger Bürger am demokratischen Geschehen in Europa teilzunehmen.
[11]

Das Bundesverfassungsgericht hat die Bedeutung der Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit für den demokratischen Prozess 1966 beredt skizziert: «[...] Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muss er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben.» 10 Das höchste deutsche Gericht hat 1983 den Wert der informationellen Privatheit/Datenschutz aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Kontext der Menschenwürde abgeleitet und gefordert, dass der Einzelne grundsätzlich über ihn betreffende Informationen selbst bestimmen soll.11

[12]
Es geht dabei einerseits um die Durchleuchtung von Arkanpraktiken in der Union und ihren Mitgliedstaaten, die durch das Recht des Bürgers auf Information (freedom of information) durchbrochen werden kann. Andererseits geht es um das Recht des Einzelnen auf Schutz seiner Informationen gegenüber informationsmächtigen staatlichen und privaten Einrichtungen. Dazu gehört sein Recht, Auskunft über die Informationen zu verlangen, die sowohl von nationalen als auch von supranationalen Institutionen zu seiner Person gesammelt und verwendet werden, in der Regel in digitalisierter Form. Die stichwortartig angedeuteten Zusammenhänge können hier zwar nicht weiter vertieft werden. Die Wege zu einem vereinten demokratischen Europa, können aber mit Sicherheit nicht ohne eine angemessene, menschengerechte Informationsordnung realisiert werden.

5.

Schlussbemerkung ^

[13]
Bilder von Europa gibt es viele. Schon der alte Mythos spricht von Gewalt und Grenzsetzungen gegenüber Eindringlingen. In der Geschichte Europas hat es oft, vor allem aber im zweiten Weltkrieg, maßlose Gewalt und Zerstörungen gegeben, die eine extreme Zersplitterung des europäischen Verfassungsrechts zur Folge hatte, mit teilweise monströsen Menschenrechtsverletzungen. Sie waren ein Bruch mit der zivilen europäischen Rechtskultur dar, die etwa mit dem Bild des Friedens des Venezianers Tiepolo oder mit Texten der Aufklärung eng verbunden sind.
[14]
Im zwanzigsten Jahrhundert hat der Friedensprozess der europäischen Integration begonnen, mit dem Ziel der politischen Friedenssicherung auf der Basis von universalen Menschenrechten. Der Druck durch die europäische Wirtschaftkrise lässt bei Bürgern in betroffenen Nationalstaaten Angst und Nationalstaatsorthodoxien aufkommen, die zu Ausgrenzungen Fremder führen. Die weitere zivile Entwicklung Europas ist nicht zuletzt abhängig von der Anerkennung des Anderen, auch der Migranten. Die Vorstellung von Drohnen, die im Zeichen des Bronzemannes Thalos, Fremde informationstechnisch erfassen sollen, zeugt von Zynismus und Frevelei. Und das bedeutet, dass der Union aus Sorge um den inneren und äußeren Frieden menschenrechtsorientierte Grenzen gesetzt werden müssen.
[15]

Die Union wird sich dann stabilisieren, wenn sie es mit den Freiheitsrechten der eigenen und fremden Bürger ernst meint. Zu den relevanten Freiheitsrechten gehören im digitalen Zeitalter «Informationsfreiheit und Datenschutz». Information ist die Voraussetzung von freier persönlicher Entfaltung demokratischer Teilhabe, und ohne Information gibt es keinen politisch mündigen Bürger. Eine umfassende Information des Bürgers kann die europäische Integration vorantreiben. Sie kann ihn auch befähigen, an bestimmten Punkten der Überwachung und Entwürdigung von Menschen zu reagieren und seinen Protest «So nicht weiter» auf die Fahnen der Union zu schreiben. So gesehen würde sich Europa einer zivilen, gut bewässerten Landschaft nähern, wie sie im Begriff eu-rope angelegt ist.

6.

Literatur ^

Hofmann, Hasso, Bilder des Friedens oder Vergessene Gerechtigkeit, Privatdrucksache der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Themen Bd. 64, 1997

Häberle, Peter. Europäische Rechtskultur, Suhrkamp Taschenbuch Band 2662, 1997

Negt, Oskar, Gesellschafts- Entwurf Europa, Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen, Steidl Verlag Göttingen in Zusammenarbeit mit dem ifa/Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart 2012

Immanuel Kant, Zum ewigen Friede – Ein philosophischer Entwurf (795) hg. Von Rudolf Malter, Stuttgart 1984

Von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Reinbek 1993

Simon, Dieter, Wie weit reicht Europa? In: Marie-Theres Tinnefeld/Lothar Philipps/Susanne Heil (Hrsg.) Informationsgesellschaft und Rechtskultur in Europa, Baden-Baden 1995, Seite 23-36

Marie-Theres Tinnefeld/Friedrich Lachmayer, Menschenwürde und Datenschutz, in: Erich Schweighofer et al. (Hrsg.), Tagungsband des 16. Internationalen Rechtsinformatik Symposions, Abstraktion und Applikation, österreichische Computer Gesellschaft 2013, S. 314-345


 

Marie-Theres Tinnefeld, Publizistin, Professorin für Datenschutz und Wirtschaftsrecht, Hochschule München.

  1. 1 Ovid, Metamorphosen, Buch 2, Vers 838-875 und Buch 6, Vers 103 ff.
  2. 2 Negt, Gesellschaftsentwurf Europa, 2012, S. 99 f.
  3. 3 Von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung 1993, S. 175 f.
  4. 4 Hoffmann. Bilder des Friedens oder Die vergessene Gerechtigkeit, 1997, 55 f.
  5. 5 Ovid, Metamorphosen, Buch 1, Vers 78 ff.
  6. 6 Häberle, Europäische Rechtskultur, 1997, S. 9 f.
  7. 7 Tinnefeld/Lachmayer, Menschenwürde und Datenschutz, in Schweighofer u.a. (Hrsg.), Iris 2013, 343 ff.
  8. 8 Simon, Wie weit reicht Europa?, in: Tinnefeld/Philipps/Heil (Hg.), Informationsgesellschaft und Rechtskultur in Europa, 1995, S. 23-36.
  9. 9 Kant, Zum ewigen Frieden Ein philosophischer Entwurf 1795, hg. von Malter, S. 31.
  10. 10 BVerfGE20, 162 (174 bf.) – Spiegel-Urteil.
  11. 11 GrundlegendBVerGE 65. 1 –Volkszählungsurteil.