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Rechtsmärchen in Österreich und Japan

  • Author: Koresuke Yamauchi
  • Category: Articles
  • Region: Japan
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Koresuke Yamauchi, Rechtsmärchen in Österreich und Japan, in: Jusletter IT 11 September 2014
In den letzten Jahren zieht der Begriff «Rechtskultur» immer stärkere Aufmerksamkeit auf sich, weil er als Faktor jedem Staat bei seinen Gesetzgebungsaktivitäten immer wichtiger wird. Hier ist und soll anhand einer Rechtsvergleichung von Märchen in Österreich und Japan die Rechtskulturen beider Staaten ermittelt werden. Dadurch lassen sich einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Staaten finden.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Rechtskultur
  • 3. «Drei Rosen»
  • 3.1. Märchen in Österreich
  • 3.2. Rechtskultur
  • 4. «Der unter die volle Blüte eines Kirschbaums geführte alte Mann»
  • 4.1. Märchen in Japan
  • 4.2. Rechtskultur
  • 5. Vergleich über Rechtskultur als «soziale Grammatik»
  • 6. Ausblick
  • 7. Literatur

1.

Einleitung ^

[1]
Eine wichtige Aufgabe der Rechtsvergleichung als ein Fach der erdumspannenden Rechtswissenschaft ist es, einen geographisch eigenen und spezifischen Handlungsstil der Bevölkerung in einem bestimmten Rechtskreis klarzumachen. Dieser Stil kann als «soziale Grammatik (social grammer)» oder «Rechtskultur» bezeichnet werden. Die Klärung bereichert den Kulturaustausch zwischen verschiedenen Ländern so, dass man möglichen Gegensätzen z.B. zwischen den Menschenrechten eines Individuums (z.B. Erlangung von Nahrungsmitteln, Aufrechterhaltung des Friedens) auf der einen Seite und der Koexistenz bzw. Fortdauer einer Korporation (z.B. Umweltschutz, Handel) auf der anderen Seite ausweichen kann.
[2]
Zur Unterstreichung der glänzenden Verdienste von Friedrich Lachmayer im Rechtsaustausch zwischen Japan und Österreich sollen hier Rechtsmärchen zwischen beiden Ländern behandelt werden, weil Rechtsbewusstsein bzw. Handlungsstil insbesondere in Märchen verkörpert sein können. Auf dieser Basis kann dann der Versuch gemacht werden, den Handlungsstil beider Bevölkerungen offenzulegen.

2.

Rechtskultur ^

[3]
Doch zunächst zum Begriff «Rechtskultur». Was der Begriff bedeutet, ist noch immer strittig. Er wird einerseits oft ohne Definition benutzt. Er ist andererseits als «Wertanschauung» bzw. «Stellungnahme gegen irgendein sogenanntes Rechtliches» gebräuchlich. Nach der Erläuterung von Masaji Chiba (japanischer Rechtssoziologe) steht der Begriff für eine «in einer menschlichen Welt in Form des Rechts erscheinende wesentliche Gesamtkultur». Aber mit dieser Erläuterung ist nichts geklärt, weil sowohl «Recht» als auch «Kultur» nicht definiert sind.
[4]
Bekanntlich ist die Definition eines Fachbegriffs in den Rechts- und Sozialwissenschaften davon abhängig, was man wem durch den Begriff zeigen will. Ein Zweck der «Rechtsvergleichung» ist die Erlangung eines Mittels, durch das man ein interkulturelles Gespräch in verschiedener Hinsicht befördern kann.
[5]
Vor diesem Hintergrund kann «Rechtskultur» als der Handlungsstil einer Bevölkerung und ihre soziale Grammatik verstanden werden. Es ist leicht zu vermuten, dass man diesen Stil in kulturellen Aktivitäten im engeren Sinne, also der Dichtung, der Malerei, der Musik usw. entdecken kann. Man findet immer einen speziellen Handlungsstil der Bevölkerung im Hintergrund ihrer nationalen Gesetze. Welcher Stil lässt im Rechtsmärchen in Österreich und in Japan erkennen?

3.

«Drei Rosen» ^

[6]
Zuerst soll ein österreichisches Märchen vorgestellt werden.

3.1.

Märchen in Österreich ^

[7]
In alter Zeit wohnte ein Gärtner mit drei Söhnen in einer kleinen Stadt Österreichs. Der jüngste Sohn Hans wurde «Dummkopf» genannt.
[8]
In einem beißenden Winter war die Prinzessin auf eine Rose begierig, obwohl Rosen in der Zeit eigentlich nicht blühen. Jeder, der ihr eine Rose als Geschenk geben könne, durfte der Prinzessin einen Heiratsantrag machen. Die drei Söhne hatten unter diesen Bedingungen den Wunsch, um die Hand der Frau anzuhalten, denn es gab drei wunderschöne Rosen im Garten des Vaters.
[9]
Der älteste Sohn, der die schönste Rose von seinem Vater erwarb, fuhr nach dem Palast ab, in dem die Prinzessin wohnte. Auf dem Weg dorthin musste jeder Reisende einen Wald durchqueren, der aus dichtbelaubten Bäumen bestand. Der älteste Sohn bekam Hunger im Wald und aß unter einem Baum zu Mittag. In diesem Augenblick tauchte ein Zwerg auf. Er fragte ihn, wohin er gehen wollte. Der Älteste antwortete, dass ihn das nichts angehe. Der Zwerg bat ihn dann, ihm ein Brotstückchen zu schenken, was der Älteste aber ablehnte. Der Zwerg fragte ihn weiter, was er denn so sorgfältig in seinen Armen trage. Gerade als er antwortete, dass er nichts trage, verschwand der Zwerg. Der Älteste kam nach langer Reise am Palast an. Er gab einem Wächter die Kiste, in der er die Rose aufbewahrt hatte. Der Wächter fand jedoch nichts in der Kiste, so dass der älteste Sohn den Palast nicht betreten durfte. Er kam ohne Erfolg von der Reise zurück und hatte sich lächerlich gemacht.
[10]
Der zweite Sohn wollte ebenfalls die Prinzessin freien. Er ging mit der ihm von seinem Vater geschenkten, zweiten Rose zum Palast. Auch er aß unter einem Baum zu Mittag, wie sein älterer Bruder. Wieder tauchte der Zwerg auf. Dieser fragte ihn, ob er ein Brotstückchen haben könne. Auch der zweite Sohn wies diesen Wunsch zurück. Der Zwerg fragte ihn nunmehr, was er so vorsichtig trage. Der Zweite antwortete, dass der Inhalt der Kiste eine «unbedeutende Sache» sei. Der Zwerg fragte weiter, ob der Inhalt der Kiste eine «unbedeutende Sache» im wörtlichen Sinne sei oder nicht. Der Zweite antwortete darauf, dass er nur die Wahrheit sage. Schon war der Zwerg nicht mehr da. Als der zweite Sohn dem Wächter die Kiste gab, befand sich nur eine «unbedeutende Sache» in der Kiste. Die Prinzessin ärgerte sich über den augenscheinlichen Betrug. Der Wächter warf ihn vor die Tür hinaus.
[11]
Hans bat seinen Vater um die letzte Rose, um sie der Prinzessin weiterzugeben. Beide Brüder aber behaupteten steif und fest, dass auch Hans keinen Erfolg haben werde. Auch Hans bekam Hunger im Wald wie seine beiden Brüder und nahm unter einem Baum ein Mittagessen zu sich. Der Zwerg tauchte das dritte Mal auf und fragte ihn, wohin er gehen wolle und was er so sorgfältig verwahrt mitbringe. Hans erläuterte ihm genau, ausführlich und ruhig, dass er zum Palast gehe, um der Prinzessin seinen Heiratsantrag zu machen. Der Zwerg bat ihn daraufhin um ein Brotstückchen und Hans gab ihm die Hälfte seines Brotes. Der Zwerg fragte Hans, was er in der Kiste mit sich trage. Hans antwortete, dass es eine Rose sei, die der Prinzessin geschenkt werden solle. Der Zwerg stellte dann persönlich fest, dass Hans eine Rose in der Kiste mit sich führte.
[12]
Als Hans zum Palast kam, war die Tür geschlossen. Sie öffnete sich aber automatisch wegen des wohlriechenden Rosenduftes. Als Hans der Prinzessin die Rose überreicht hatte, begeisterte sie sich für die Rose, wies seinen Heiratsantrag aber zurück, weil sie gegen seine bäuerliche Kleidung eine unüberwindliche Abneigung empfand. Die Prinzessin schlug Hans etwas anderes vor. Sie wolle einen Heiratsantrag annehmen, wenn Hans innerhalb dreier Nächte das Wasser im vor dem Palast liegenden Sumpf bis zur Neige austrinke. Hans bemühte sich zwar, hatte aber keinen Erfolg. Er war ratlos.
[13]
Da trat der Zwerg wieder auf und fragte, worin Hans so große Schwierigkeiten sehe. Er händigte Hans eine Flöte aus und gab den Ratschlag, auf der Flöte zu blasen, dann werde sich das Sumpfwasser mühelos und sofort entleeren. Sobald Hans die Flöte blies, kamen zahllose Tiere zum Sumpf und tranken das Wasser mit einem Male zur Neige aus. Nachdem alle Tiere wieder verschwunden waren, kam die Prinzessin und wunderte sich. Ungeachtet seiner Leistung brach die Prinzessin ihr Versprechen und machte ihm den Vorschlag, dass sie seinen Heiratsantrag annehmen werde, wenn Hans eine Rose, die im Paradies blühe, und eine Steinkohle, die in der Hölle liege, herbringen könne.
[14]
Wieder erschien der Zwerg und fragte ihn, welche Schwierigkeiten Hans diesmal habe. Der Zwerg gab ihm einen Hinweis. Aufgrund dieses Hinweises ging Hans weiter und wurde Zeuge eines Streites zwischen einem Engel und einem Teufel über das Rauben der Seele eines Rechtsanwalts. Hans nahm dem Engel die Seele des Rechtsanwalts weg und gab diese dem Teufel. Der Teufel bedankte sich mit der Steinkohle. Der Engel aber gab Hans die Rose für das Schlichten der Auseinandersetzung zwischen den beiden. Hans überreichte der Prinzessin Rose und Steinkohle. Endlich nahm die Prinzessin seinen Heiratsantrag an.
[15]
Sein Vater freute sich darüber sehr. Seine Brüder aber waren auf den Erfolg von Hans eifersüchtig. Sie versuchten, Hans zu töten. Nach dem Tod seines Vaters und seiner Brüder führten Hans und die Prinzessin ein glückliches und angenehmes Leben.

3.2.

Rechtskultur ^

[16]
Die Prinzessin gab ihren Werbern jeweils zu erfüllende Aufgaben. Das Geschenk einer Rose im Winter war die erste Barriere. Das Austrocknen des Sumpfwassers war das zweite Hindernis. Das Anbieten von Rose und Steinkohle war die letzte Aufgabe. Hans hat alle Aufgabe richtig erfüllt, aber seine Brüder hatten keinen Erfolg. Der Grund für ihr Versagen liegt in ihrer Unehrlichkeit. Wie konnte Hans die schwierigen Aufgaben lösen? Sein ernsthaftes Bemühen führte zur Hilfe durch den Zwerg.
  • Das Verhalten von Hans zeigt, dass Ehrlichkeit am längsten währt. Gott steht dem Ehrlichen bei. Demjenigen, der aufrichtig und ehrlich lebt, wird geholfen. Man darf nicht habgierig sein (wie seine Brüder).
  • Man muss immer versuchen, allein gute Resultate zu erzielen. Man darf die dafür erforderliche Mühe nicht scheuen. Man darf niemanden übermäßig nachahmen.
  • Eine Angelegenheit, die man schon wiederholt erfahren hat, erfährt man auch ein weiteres (drittes) Mal. Die Geschichte wiederholt sich.
[17]
Die erste Aufgabe, der Prinzessin eine Rose außerhalb der Saison zu schenken, ist selbstverständlich von Anfang an unmöglich zu erfüllen. Um die Aufgabe dennoch zu erfüllen, erhält der Kandidat eine zweite Chance. Der Zwerg fragte immer zuerst, ob er ein Brotstückchen erhalten könne, um den guten Willen des Kandidaten zu testen. Nur ein Kandidat, der guten Willen zeigt, erhält eine zweite Chance. Die zweite Frage lautet dann, was der Kandidat mit so großer Sorgfalt mit sich führe. Nur der, der darauf redlich antwortete, konnte der Prinzessin seine Rose schenken. Das bedeutet, dass jeder jeden immer freundlich und ehrlich behandeln muss. Hans ist immer diesem Grundsatz gefolgt, aber seine Brüder nicht, mit der Folge, dass ihre Pläne gescheitert sind. Darin kann man eine Rechtskultur erblicken.
[18]
Dass ein Kandidat die erste Aufgabe erfüllt, bedeutet noch kein Ende. Die egoistische Prinzessin gibt ihm zwei weitere Aufgaben. Die Prinzessin wollte auf den Heiratsantrag nur eingehen, wenn auch die zweite Aufgabe erfüllt sei, das Sumpfwasser innerhalb von drei Nächten auszutrinken. Trotzdem bricht sie ihr Versprechen und gibt dem Kandidaten eine dritte Aufgabe, eine Rose aus dem Paradies sowie eine Steinkohle aus der Hölle zu holen. Nur der die zweite Aufgabe erfüllende Kandidat erhält die Gelegenheit, auch zur dritten Aufgabe herangezogen zu werden. Nur der auch die dritte Aufgabe erfüllende Kandidat darf die Prinzessin heiraten, weil sie dem Kandidaten keine weitere Aufgabe mehr gibt.
[19]
Aus dem Märchen lässt sich die soziale Grammatik Österreichs folgern. Die Zahl «drei» bedeutet einerseits, dass es viele Beschränkungen und Hindernisse im gesellschaftlichen Leben gibt. Andererseits zeigt die «drei», dass man beim dritten Mal Glück hat. Die «Rose» ist ein Symbol von Schönheit und Liebe. Die Rose weist hier auf Heirat als Vollendung einer Liebe hin (Aphrodītē, Erōs). Alles in allem kann man in diesem Märchen folgende soziale Handlungsgrammatik («Rechtskultur») finden: Im Leben hat man immer ernsthaft zu sein. Nur ein Gutgläubiger kann unter dem Gottesschirm stehen. Befolgt man diese Grammatik (Regel) nicht, muss man einen Misserfolg als Züchtigungsmaßnahme hinnehmen.

4.

«Der unter die volle Blüte eines Kirschbaums geführte alte Mann» ^

[20]
Es gibt ein japanisches Märchen mit dem Titel «Hanasaka jiisan» oder «Hanasaka Jijii».

4.1.

Märchen in Japan ^

[21]
Vor alten Zeiten wohnte ein altes Ehepaar ohne Kinder in einem Ort. Um Nahrungsmittel kaufen zu können, sammelte der Ehemann jeden Tag Reisig in den Bergen und seine Frau wusch die Wäsche für andere. An einem bestimmten Tag fand sie während ihrer Arbeit einen riesigen Pfirsich im Fluss. Sie nahm ihn nach Hause mit. Als ihr Mann nach Hause zurückkam, hatte er Hunger. Sobald er aufgrund des Vorschlags seiner Frau den Pfirsich halbiert hatte, sprang ein junger lieblicher Hund unvermutet aus ihm heraus. Das Ehepaar freute sich darüber.
[22]
Bei irgendeiner Gelegenheit schlug der Hund dem Mann später vor, dass dieser ihn satteln solle. Der alte Mann lehnte diesen Vorschlag zunächst ab, weil das nach seinem Gefühl für den kleinen Hund zu schwer sei. Der Hund sagte jedoch wieder und wieder, dass es ihm nichts ausmache. Der alte Mann aber legte ihm den Sattel nur ungern auf. Dann sagte der Hund, dass er ihm auch den Strohsack auflegen dürfe. Wieder verweigerte der alte Mann dies zunächst, weil er den Hund bemitleidete. Aber weil der Alte damit zögerte, ihm den Strohsack aufzulegen, mahnte der Hund ihn immer wieder. Der alte Mann legte schließlich den Strohsack nur zaudernd auf den Hund. Der Hund forderte dann weiter, dass der alte Mann auch die Hacke ihm auferlege. Nach langem Zögern tat er indes auch dies. Schließlich sagte der den Sattel, den Strohsack und die Hacke auf dem Rücken tragende Hund dem alten Mann, dass dieser ihm folgen solle.
[23]
Der Hund führte den Alten ins Gebirge und forderte ihn auf ein Loch in die Erde zu bohren. Sobald der Alte ein Loch gebohrt hatte, fand er einen großen Haufen Geld. Rechtlich gesehen, könne der, der zuerst etwas gefunden habe, dieses auch an sich nehmen. Der Hund bat deshalb den Alten, dass Geld in den Strohsack zu stopfen, den Sack auf seinen Rücken zu legen und sich selber oben drauf zu setzen. Der Alte zögerte zunächst wieder, nahm aber dann doch den Rat des Hundes an.
[24]
Der alte Mann kam so nach Hause. Nachdem er mit seiner Frau zusammen das Geld gezählt hatte, besuchte eine knickerige alte Nachbarin das Ehepaar und bat um Kohlen für ihre Heizung. Die Menge Geld verblüffte die Nachbarin, weil das Ehepaar doch ständig arm gewesen war. Das Ehepaar erläuterte ihr also den Grund für den plötzlichen Reichtum Die Nachbarin bat daraufhin darum, ihr den Hund auszuleihen, was das nette Ehepaar auch tat.
[25]
Der Hund schlug dem Ehemann der Nachbarin ebenfalls vor, zuerst den Sattel, dann den Strohsack und letztlich die Hacke auf seinen Rücken zu legen. Dieser nahm den Vorschlag ohne Mitleid an. Der Ehemann setzte sich zudem auf den kleinen Hund. Der Hund brachte den Mann ins Gebirge. Dort sagte er ihm, dass er ein Loch in die Erde bohren solle. Sobald der Mann mit großer Freude ein Loch gebohrt hatte, fand er einen großen Haufen unangenehmer Dinge, einschließlich einer Riesenschlange, einem Tausendfüßler u.a. Der Mann fuhr aus der Haut. Er brachte den Hund um, begrub ihn an Ort und Stelle und steckte einen kleinen Weidenzweig auf dessen Grab.
[26]
Die knauserige Nachbarin wartete mit großer Erwartung auf ihren Mann. Als er ohne Hund und mit leeren Händen nach Hause kam, sank sie enttäuscht in die Knie. Das nette Ehepaar erwartete die Rückkehr ihres Hundes in Sorge. Der alte Mann besuchte seine Nachbarn und hörte die ganze Geschichte. Der über den Tod seines Hundes traurige Alte besuchte daraufhin das Grab des Hundes und fand eine wachsende Weide vor. Er schnitt einen großen Zweig der Weide ab und brachte ihn mit nach Hause. Aus dem Zweig stellte er als Andenken an den Hund eine Mühle her.
[27]
Als das nette Ehepaar mit der Mühle ein Pulver mahlte, kam eine Menge Geld heraus. Gerade zu diesem Zeitpunkt besuchte die knickerige Nachbarin wieder das Ehepaar, um Kohlen für die Heizung zu bitten. Die Nachbarin sah wieder das viele Geld und lieh sich die Mühle für den Tag aus. Sobald die Nachbarn zuhause mit der Mühle ein Pulver mahlte, türmte sich ein großer Haufen Pferdemist vor dem Mann auf und eine Menge Kuhmist vor seiner Frau. Daraufhin verbrannte das Nachbarsehepaar die Mühle in leidenschaftlicher Wut.
[28]
Der nette Ehepaar besuchte am nächsten Tag seine Nachbarn, um die Mühle zurückzuerhalten Er hörte zu seinem Erstaunen, dass die Nachbarn die Mühle verbrannt hatten. Da es auf die Mühle als das Andenken an den Hund nicht verzichten wollte, nahm es das ausgeglühte Holzstück sowie die verbliebene Asche mit nach Hause. Der Ehemann kletterte auf einen Baum in seinem Garten und zerstäubte die Asche auf alle Zweige. Plötzlich standen Kirsch- und Pflaumenbäume in voller Blüte. Ein japanischer Ritter (Samurai) ging vorüber und bewunderte die wunderschöne Blüte. Er gab dem alten Mann viel Geld als Belohnung.
[29]
Daraufhin borgte sich der Nachbar die restliche Asche. Diese gelangte, als ihr Mann sie zerstäubte, in die Augen des Ritters, der auf beiden Augen erblindete. Der Ritter beschimpfte entsprechend die Nachbarn: «Man darf niemanden übermäßig nachahmen.»

4.2.

Rechtskultur ^

[30]
Aus dem Märchen lässt sich die soziale Grammatik Japans ableiten. Im Märchen wird ein Vergleich zwischen dem gutmütigen Ehepaar und seinen knickerigen schamlosen Nachbarn skizziert. Ersteres hat jeweils Glück gehabt, Letzteres ist immer erfolglos. Der Vergleich enthält die folgenden Belehrungen:
  • Ehrlich währt am Längsten. Gott steht dem Ehrlichen bei. Demjenigen, der aufrichtig und ehrlich lebt, wird geholfen. Man darf nicht habgierig sein.
  • Man muss immer allein versuchen, gute Resultate zu erzielen. Man darf sich der Mühe nicht scheuen. Man darf niemanden übermäßig nachahmen.
  • Eine Angelegenheit, die man zum ersten und zweiten Mal wiederholt erfahren hat, erfährt man auch ein drittes Mal. Geschichte wiederholt sich.
  • Der erste und zweite Fehler sind noch hinnehmbar. Der dritte Fehler ist strafbar.
[31]
In Japan ist ein Hund ein Symbol der fruchtbaren und produktiven Aktivitäten. Ein Hund eskortiert die Götter. Im Großen und Ganzen bedeutet ein Hund eine positive Angelegenheit. Der Hund bedeutet eine Verkörperung eines Gottes. Dass das nette alte Ehepaar ohne Kinder den aus einem Pfirsich entsprungenen Hund hochschätzend gepflegt hat, ist für den Gott ein Geschenk. Der Gott hat dafür dem Ehepaar eine Menge Geld als Gegengabe gegeben. Eine Menge Geld garantiert ein reiches Leben. Darin ist der gleichwertige Austausch zwischen dem Gott und den Menschen zu sehen. Andererseits bedeuten Schlange, Tierexkremente u.a. umgekehrt eine negative Angelegenheit. Wer ein Unrecht begeht, muss Sühne leisten. Hier sieht man im gegenteiligen Sinn einen gleichwertigen Austausch zwischen dem Gott und den Menschen.
[32]
Einige Aspekte der Blumensprache sind rechtskulturell wichtig. Der Pfirsich zeigt Fruchtbarkeit. Die Kirschblüte bedeutet eine edle Tat, Hochherzigkeit, Reinheit, geistige Schönheit usw. Pflaumenbaum und -blüte bedeuten Ernsthaftigkeit, Noblesse und Würde. Die Weide zeigt Traurigkeit.
[33]
Ferner findet man im Märchen die Zahl «Drei». Der Hund hatte sowohl dem guten alten wie auch dem schlechten Mann jeweils dreimal vorgeschlagen, dass sie Sattel, Strohsack und Hacke auf ihm ablegen dürften. Der Helfer, der dem netten Ehemann geholfen hatte, war erstens der Hund, zweitens die Mühle und drittens die Asche. Diese drei haben dem schlechten Mann ebenfalls die jeweilige Sanktion eingetragen.

5.

Vergleich über Rechtskultur als «soziale Grammatik» ^

[34]
Welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede lassen sich nun im Vergleich der beiden Rechtsmärchen finden?
[35]
Einige Gemeinsamkeiten sind offenkundig. Von Bedeutung ist zuerst ein Leitfaden, nach dem man sich seinen Lebensunterhalt verdienen muss. Sowohl in Österreich als auch in Japan muss man nach dem Grundsatz von Treu und Glauben leben, der aus bona fides im römischen Recht stammt. Wer unter dem Grundsatz lebt, der kann ganz bestimmt Erfolg haben.
[36]
Zweitens sieht man in jedem Fall Gegenseitigkeit. Sie bedeutet einen Austausch. Gabe und Gegengabe bilden immer ein Paar. Dass die alte Frau einen Pfirsich gefunden hat, ist nur der Einstieg. Das Ehepaar hat einen Hund liebevoll aufgezogen. Gott gibt dem Ehepaar eine Belohnung, ein reiches Leben wegen seiner Warmherzigkeit. Dass das schlechte Ehepaar den Hund unwürdig behandelt hat, hat Gott dem Ehepaar mit Sanktionen vergolten. Auch hier ist die Gleichwertigkeit deutlich zu sehen.
[37]
Drittens spielt die Zahl «drei» in beiden Staaten eine große Rolle. Jeder hat eigentlich drei Chancen. Man muss einen netten Vorschlag von anderen Leuten anfangs verweigern. Erst nach einigen Verweigerungen darf man ihn mit Zögern annehmen. Die zurückhaltende Stellungnahme wird als vorteilhaft angesehen. Außerdem muss man mindestens zwei Fehler anderer Leute zunächst hinnehmen.
[38]
Ferner werden Blumen allegorisch benutzt. Die Rose bedeutet Liebe, Heirat und Glück; die Kirschblüte Reichtum und Glück. Die Weide spielt auf Kondolenz an.
[39]
Andernfalls sind sich auch einige Verschiedenheiten festzustellen.

6.

Ausblick ^

[40]
Was kann man aus diesen Beispielen der Vergleichung von Rechtsmärchen in verschiedenen Staaten an Erkenntnis gewinnen? Wozu studiert man Rechtsvergleichung? Es versteht sich, dass die Rechtsvergleichung einen großen Spielraum für unsere interkulturelle Kommunikation bereithält.
[41]
Einerseits können wir einige Gemeinsamkeiten zwischen zahlreichen Rechtskreisen erkennen. Unsere gemeinsamen Erfahrungen erzeugen bei uns ein gegenseitiges Verständnis, da man die Gründe für die abweichende Ansicht anderer kennt, obwohl man sich über eine andere Ansicht nicht positiv äußert. In diesem Sinne sind an erster Stelle Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Rechtssystemen zu untersuchen.
[42]
Bei einer angemessenen Hochachtung vor den diversen Kulturen muss man zugleich auf einige Verschiedenheiten der anderen Kultur Rücksicht nehmen. Die andere Kultur ist immer ein unentbehrlicher Nährboden für die Weiterentwicklung der eigenen Kultur. Konkurrenz auf den «Kulturmärkten» in verschiedenen Stufen führt sicher zum Wachstum jeder Kultur. Als ein Mittel dazu ist eine kulturelle Minorität zu respektieren.
[43]
Jeder nationale Gesetzgeber wird immer nach einem in seinem Heimatland gültigen Grundsatz tätig. Ob ein Grundsatz nach Ablauf einer gewissen Zeit immer noch angemessen ist, ist nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für alle Juristen (Praktiker und Wissenschaftler) immer wieder erneut nachzuweisen. Gerade die Rechtskultur hat auf solche Gesetzgebungsaktivitäten Einfluss ausgeübt. In der modernen globalen Gesellschaft treffen wir häufig auf ein fremdes Kulturgebiet und handeln mit einem weiteren Gesichtsfeld. Das Europäische Recht ist ein gutes Modell dafür, wie sich mehrere Rechtskulturen immer näherkommen.

7.

Literatur ^

[44]
Koresuke Yamauchi, Japanisches Recht im Vergleich, Schriftenreihe der Veröffentlichungen des japanischen Instituts für Rechtsvergleichung, Band 83, Tokio 2012, ISBN 978-4-8057-0582-7, 438 S.
[45]
Koresuke Yamauchi, Hikakuhō kenkyū (=Studien zur Rechtsvergleichung), Band 1: Hōhōron to hōbunka (=Methodenlehre der Rechtsvergleichung und Rechtskulturen), Schriftenreihe der Veröffentlichungen des japanischen Instituts für Rechtsvergleichung, Band 79, Tokio 2011, ISBN 978-4-8057-0578-0, 319 S.

 

Koresuke Yamauchi, Ordentlicher Professor, Juristische Fakultät, Chuo Universität Tokio, Dr. jur. (Chuo), Dr. h. c. (Münster), Hachioji/Tokio, Japan.