1.
Einleitung ^
2.
Kelsens Verständnis der Form und der Norm-Individuierung ^
«Erkennt man [...], daß die Jurisprudenz die Form und nur die Form zu erfassen hat, dann darf man konsequenterweise in die Rechtsbegriffe keine anderen als formale Elemente aufnehmen. Damit ist jene Richtung innerhalb der konstruktiven Jurisprudenz abgelehnt, die durch eine Verbindung von formalen und materiellen Elementen in den Rechtsbegriffen den ‹scholastischen› Formalismus der Jurisprudenz vermeiden zu können glaubt. Der einer rein formalen Methode immer wieder gemachte Vorwurf, daß sie ‹unbefriedigende› Resultate liefere, weil sie nicht das wirkliche Leben erfasse, das tatsächliche Rechtsleben unerklärt lasse, beruht auf einer völligen Verkennung des Wesens der Jurisprudenz, die eben die Wirklichkeit der Seinswelt nicht zu erfassen, das Leben nicht zu ‹erklären› hat. Die rein formalen Rechtsbegriffe als inhaltslose Formeln für wertlos erklären, hieße ebensoviel, wie die Begriffe der Geometrie verwerfen, weil sie lediglich die Formen der Körper erfassen, ohne über deren Inhalt etwas auszusagen. Und der Versuch, den hohlen Formeln der Rechtsbegriffe dadurch Leben und praktischen Wert einzuflößen, daß man neben den formalen auch substantielle Elemente in dieselben aufnimmt, sie auch etwas über den Inhalt der Rechtserscheinung aussagen läßt, m.a.W. das Zweckmoment in den Begriff einführt, bedeutete den analogen methodischen Fehler, der in einer Definition der Kugel gelegen wäre, die das Material berücksichtigt, das im konkreten Falle die Kugelform birgt. Mit Rücksicht auf ihren formalen Charakter aber kann die Jurisprudenz mit einem freilich nicht in allen Punkten zutreffenden Gleichnis als eine Geometrie der totalen Rechtserscheinung bezeichnet werden.»5
«Die Frage, ob der Rechtssatz als Imperativ oder als hypothetisches Urteil aufzufassen sei, ist die Frage nach der idealen Sprachform des Rechtssatzes oder auch nach dem Wesen des objektiven Rechtes. Der praktische Wortlaut, dessen sich die konkreten Rechtsordnungen bedienen, ist für die Entscheidung des Problems irrelevant. Der Rechtssatz muß aus dem Inhalt der Gesetze herauskonstruiert werden und die Bestandteile, die zu seiner Konstruktion nötig sind, finden sich häufig nicht einmal in demselben Gesetze, sondern müssen aus mehreren zusammengestellt werden.»6
«Was ist ein Gesetz? Was sind die Bestandteile eines Gesetzes? Gegenstand dieser Fragen, so gilt es zu beachten, ist das logische, das ideale, das intellektuelle Ganze, nicht das physische: das Recht und nicht das Gesetz. Eine Untersuchung des letztgenannten Gegenstandes bereitete weder besondere Schwierigkeiten noch führte sie weiter.»7
3.
«Doppelte Wirkungsmöglichkeit» und die «Doppelnorm» ^
«Ein Rechtssatz, der niemals ‹befolgt› wird, würde darum nicht aufhören, Rechtssatz zu sein. Die Rechtsnorm führt materiell noch ein anderes Leben als im Befolgtwerden. Sie wird ‹angewendet›, und zwar gerade in jenen Fällen, in denen sie nicht befolgt wird.»11
«Neben diesen an die Staatsorgane gerichteten Imperativen stehen nun die an die Untertanen gerichteten, das rechtmäßige Verhalten fordernden. Diese letzteren sind genau genommen vollkommen überflüssig, denn sie sagen dem Untertanen nichts anderes, als die ersteren».13
«[E]in Verhalten [ist] nur insofern Inhalt einer Rechtspflicht, als sein kontradiktorisches Gegenteil unter Zwangssanktion steht, das heißt: Bedingung eines Zwangaktes ist.»14
«[I]ch soll, bin verpflichtet, nicht zu stehlen, oder: ich soll, ich bin verpflichtet, ein empfangenes Darlehen zurückzuerstatten, bedeutet positiv rechtlich nichts anderes als: wenn ich stehle, soll ich bestraft werden, wenn ich ein empfangenes Darlehen nicht zurückerstatte, soll gegen mich Exekution geführt werden.»15
4.
Die hypothetisch formulierte Rechtsnorm als Ermächtigung ^
«Es gäbe allerdings eine Möglichkeit, den Begriff der Rechtspflicht – wenn schon nicht aufzulösen –, so doch auf den der Kompetenz zu basieren, jenen auf diesen zurückzuführen. Wenn man nämlich die Rechtspflicht eines Individuums zu einem bestimmten Verhalten immer nur dann als gegeben anerkennt, wenn im Fall des gegenteiligen Verhaltens ein anderes Individuum von der Rechtsordnung ermächtigt ist, gegen das erste eine Sanktion zu setzen; und wenn man die Ermächtigung zur Setzung der Sanktion als ‹Kompetenz› gelten läßt; dann beruhte die Rechtspflicht des einen auf der Sanktions-Kompetenz des anderen.»16
«Ein Individuum ist rechtlich zu dem Verhalten verpflichtet, das das Gegenteil dessen bildet, was als Bedingung der gegen das Individuum verhängten Sanktion ist.»21
«Das Organ der zweiten Norm mag von einer dritten Norm dazu verpflichtet sein, die von der zweiten Norm angeordnete Sanktion zu verhängen, und so weiter.»22
«Es muß eine letzte Norm in der Kette geben, so daß die von ihr angeordnete Sanktion keine Rechtspflicht in dem definierten Sinne ist. Wenn die Bedeutung dieser letzten Norm damit ausgedrückt wird, daß unter bestimmten Bedingungen eine Sanktion verhängt werden ‹soll›, dann fällt der Begriff des Sollens mit dem der Rechtspflicht nicht zusammen. Ein Organ, daß eine Sanktion verhängen ‹soll›, mag rechtlich dazu verpflichtet sein oder nicht.»23
«[Wenn] ein von der Rechtsordnung bestimmtes Unrecht begangen wird, [soll] eine von der Rechtsordnung bestimmte Unrechtsfolge eintreten [...]; wobei mit diesem ‹soll› sowohl der Fall, daß [zur] Vollziehung der Unrechtsfolge nur ermächtigt [...], als auch der Fall, daß sie geboten ist, gedeckt ist.»26
«Die Vollstreckung der Sanktion ist geboten, ist Inhalt einer Rechtspflicht, wenn ihre Unterlassung zur Bedingung einer Sanktion gemacht ist. Ist dies nicht der Fall, kann sie nur als ermächtigt, nicht auch als geboten gelten. Da dies kein endloser Regreß sein kann, kann die letzte Sanktion in dieser Reihe nur ermächtigt, nicht geboten sein.»27
5.
Schlussbemerkung ^
Stanley L. Paulson, Professor Emeritus an der Washington University in St. Louis, Department of Philosophy and School of Law, z. Zt. Gastprofessor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Hermann Kantorowicz-Institut für juristische Grundlagenforschung.
- 1 Vgl. Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911 [unten: HP], S. 237 et passim, wieder abgedruckt in: Hans Kelsen Werke, hrsg. v. Matthias Jestaedt, Tübingen 2007 ff. [unten: HKW mit Band-Nr. und Datum], Bd. 2 (2008), S. 353 et passim.
- 2 Vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl., Leipzig/Wien 1934, § 19 (S. 40 f.).
- 3 Vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960 [unten: RR 2], § 34(d) (S. 204-209), sowie Stanley L. Paulson, Läßt sich die Reine Rechtslehre transzendental begründen?, in: Rechtstheorie 20 (1990), S. 155-179.
- 4 Vgl. allgemein dazu Stanley L. Paulson, Der Normativismus Hans Kelsens, in: Juristen Zeitung 61 (2006), 529-536.
- 5 Kelsen, HP (Fn. 1), S. 92 f. (Hervorhebung und Anführungszeichen im Original), in: HKW 2 (2008) (Fn. 1), S. 186 f.
- 6 Kelsen, HP (Fn. 1), S. 237 (Hervorhebung im Original), in: HKW 2 (2008) (Fn. 1), S. 353.
- 7 Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (erstmals veröffentlicht 1789), hrsg. v. J.H. Burns/H.L.A. Hart, London 1970, S. 301 (Hervorhebung im Original) (aus dem nummerierten Absatz 2 in Benthams «Concluding Note», die als Anmerkung in früheren Ausgaben des Werkes veröffentlicht wurde).
- 8 Joseph Raz, The Concept of a Legal System, 2. Aufl., Oxford 1980, S. 71.
- 9 Kelsen, HP (Fn. 1), S. 237, in: HKW 2 (2008) (Fn. 1), S. 353.
- 10 Vgl. Kelsen, HP (Fn. 1), S. 36, 40, 42, 49 f., 53, 210-212, 236, et passim, in: HKW 2 (2008) (Fn. 1), S. 121, 125, 127, 136 f., 140, 322-325, 353, et passim.
- 11 Kelsen, HP (Fn. 1), S. 49-50 (Anführungszeichen und Hervorhebung im Original), in: HKW 2 (2008) (Fn. 1), S. 136 f.
- 12 Paul Bohannan, The Differing Realms of the Law, in: American Anthropologist 67 (1965), S. 33-42, bes. 34-37.
- 13 Kelsen, HP (Fn. 1), S. 234, in: HKW 2 (2008) (Fn. 1), S. 350.
- 14 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, § 10(d) (S. 51).
- 15 Hans Kelsen, Die Idee des Naturrechtes, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 7 (1928), S. 221-250 (226) (Hervorhebung im Original).
- 16 Hans Kelsen, Recht und Kompetenz, in: ders., Auseinandersetzungen zur Reinen Rechtslehre, hrsg. v. Kurt Ringhofer/Robert Walter, Wien 1987, S. 1-108 (75) (Anführungszeichen im Original) (diese Studie Kelsens läßt sich auf ein spät in den dreißiger Jahren geschriebenes Manuskript zurückführen).
- 17 Wesley Newcomb Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning and Other Legal Essays, New Haven, 1919. Zur Explikation des Hohfeldschen Schemas vgl. Manfred Moritz, Über Hohfelds System der juridischen Grundbegriffe, Lund/Kopenhagen 1960, bes. S. 85-110, zur Anwendung des Hohfeldschen Schemas vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 187-194, 211-219 et passim.
- 18 Hans Kelsen, General Theory of Law and State, übers. v. Anders Wedberg, Cambridge, Mass. 1945 [unten: GTLS], S. 67 (der deutschsprachige Originaltext ist leider verschollen).
- 19 Vgl. Kelsen, HP (Fn. 1), S. 234, in: HKW 2 (2008) (Fn. 1), S. 350.
- 20 In diesem Sinne etwa Karl Binding, Die Normen und ihre Übertretung, 2. Aufl., 4 Bde., Leipzig 1890-1919, an dem Kelsen allerdings eine scharfe Kritik übte, vgl. Kelsen, HP (Fn. 1), S. 270-299, in: HKW 2 (2008) (Fn. 1), S. 390-420.
- 21 Kelsen, GTLS (Fn. 18), S. 59.
- 22 Ebd.
- 23 Ebd. S. 59 f. (Anführungszeichen im Original).
- 24 H. L. A. Hart, The Concept of Law, 2. Aufl., Oxford 1994, S. 113 (Anführungszeichen im Original).
- 25 Ebd.
- 26 Kelsen, RR 2 (Fn. 3), § 18 (S. 82 f.) (Anführungszeichen im Original).
- 27 Ebd., § 5(a) (S. 26).
- 28 Vgl. ebd. § 4(d) (S. 15-16). Wenn diese «Funktionen» als Bedingungen der vollständigen Rechtsnorm betrachtet werden, dann sind auch sie Bestandteile der radikal rekonstruierten Rechtsnorm. Denn die Ermächtigung gilt als Verbindung zwischen den Vorder- und Hintergliedern der hypothetisch formulierten vollständigen Rechtsnorm. Vgl. ebd. § 6(d)(e) (S. 51-59) et passim sowie Adolf Julius Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Gesellschaft, Staat und Recht. Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre, hrsg. v. Alfred Verdross, Wien 1931, S. 252-294, bes. 274. An dieser Stelle führt Merkl eine vollständige Rechtsnorm ein, deren Formulierung dem Modell des Stufenbaus folgt.