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Es ist an der Zeit – Das Internet braucht eine eigenständige Verfassung!

  • Authors: Kai Erenli / Maximilian Schubert
  • Category: Discussions
  • Region: Austria
  • Field of law: Data Protection, Data Security
  • Citation: Kai Erenli / Maximilian Schubert, Es ist an der Zeit – Das Internet braucht eine eigenständige Verfassung!, in: Jusletter IT 15 May 2014
Die Internetnutzerinnen und -nutzer (nennen wir sie in Folge «Netizens») haben bislang nur reagieren können, auf die Regeln, die ihnen Staaten, Konzerne oder Unternehmen vorgeschrieben haben. Diese Regeln unterliegen aber einem immer größer werdenden Vertrauensverlust, einzelne Versuche, die Grundrechte der Netizens einzuschränken, wurden mehr oder weniger erfolgreich bekämpft (so zum Beispiel die Richtline 2006/24/EG über die Vorratsspeicherung von Daten) Nun scheint es aber an der Zeit, selbst einen konstruktiven Vorschlag zu machen, welche Grundregeln zukünftig beachtet werden sollten. Der Beitrag versteht sich als Einladung zur Diskussion und nicht als abschließendes Werk, die Bill of Rights 2.0 soll dabei der Versuch einer zeitgemäßen Adaptierung bzw. Weiterentwicklung der originalen Bill of Rights darstellen.
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Das Internet ist inzwischen Teil unseres Lebens geworden. Wir verlassen uns auf die Informationen und Nachrichten, die wir tagtäglich von dort erhalten, wir verabreden uns über das Internet, wir kaufen ein und bilden uns über Erdteile hinweg mit Hilfe von eLearning-Tools weiter. Hin und wieder suchen wir auch nur ein wenig Zerstreuung und Spiele. Ein Großteil der wirtschaftlichen Wertschöpfung wird im Internet generiert, Verbrechen geplant und durchgeführt, kurz: alles was wir aus der analogen Welt bereits kennen, finden wir auch im weltweiten Netz. Das einzige Problem dabei ist, dass das Netz nicht an einer Landesgrenze halt macht, da das grundlegende technische Model auf diese Umstände keine Rücksicht nimmt. Diese Tatsache bringt nun regelmäßig nationale Gesetzgeber unter Druck, lässt es doch meist mit langwierigen Diskussionen und legistischem Aufwand verabschiedete Gesetze, welche den Umgang mit dem Internet und den Personen darin untereinander regeln sollen, in der Realität wie bestellt und nicht abgeholt aussehen.

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Dies bedeutet zwar noch lange nicht, dass das Internet, wie vielfach wahrgenommen, als rechtsfreier Raum existiert, es aber dennoch nach eigenen Regeln funktioniert, bei dem diejenigen Macht ausüben können, die einerseits die technische Kontrolle innehaben (Stichwort: Diensteabschaltung1) und andererseits die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen (Stichwort: Abmahnungswelle) zu ihren Gunsten nutzen können. Dies allein wäre schon Grund genug nach einem eigenen grundlegenden Regularium für das allumfassende Netz zu rufen, käme nicht noch der größte Vertrauensverlust seit der Bankenkrise dazu: der Fall Snowden und die damit verbundene Aufdeckung der vielfachen Verletzung des höchstpersönlichen Bereichs (Stichwort: Persönlichkeits- und Grundrechte) auch unbescholtener Weltbürgerinnen und Weltenbürger. Dieser Beitrag soll einen Ansatz zur Diskussion für eine Bill of Rights 2.0 für das Internet liefern und mögliche Inhalte dieser «Verfassung» skizzieren.

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Das Prinzip der gegenseitigen Kontrolle über die Macht («checks & balances»), welches bereits von Machiavelli beschrieben wurde und das in der Zeit der Aufklärung im Jahre 1748 von Montesquieu neu aufgegriffen worden ist, mündete 1787 schließlich in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Verfassung war der Startschuss, eine aufgeklärte Gesellschaft (langsam) zu etablieren und diente nicht nur der gegenseitige Kontrolle der Macht, sondern auch zur Aufrechterhaltung der Demokratie. Was für die analoge Welt funktionierte und funktioniert, sollte auch für digitale eine geeignete Hilfestellung bieten können. Für das Internet gibt es, abgesehen von einigen Vorschlägen, wie Barlows wütend-launiger Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace2 oder Jarvis «Grundrechtscharta für das Netz»3, weder eine Verfassung, noch einen einheitlichen Gesetzestext (lassen wir die vielfachen Harmonierungsmaßnahmen auch auf völkerrechtlicher Ebene mal außer Acht). Bislang schien dies auch nicht wirklich nötig zu sein, auch wenn es laufend Herausforderungen zu bewältigen gab. Mittlerweile jedoch hat das Internet eine dermaßen große wirtschaftliche und politische Bedeutung erreicht, dass verschiedenste Akteure mit allen Mitteln versuchen, das Internet nach ihren eigenen Vorstellungen beherrschen, kontrollieren und lenken zu können.

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Die Diskussionen, die in diesem Kontext geführt werden, sind teilweise angeregt, vielfach aufgeheizt und leider auch immer öfters sehr unsachlich. Als z.B. der Industriezweig, der mit der Verwertung von immatieralgüterrechtlich geschützten Werken, wie Musik, Büchern oder Filmen sein Geld verdient, entdeckte, dass Internetnutzerinnen und -nutzer geschützte Werke konsumierten, ohne dass sie oder die werkschaffenden KünstlerInnen dafür Geld erhielten, entwickelten sie eine breite Palette von Gegenstrategien. Einige davon schienen kreativ, einige sachlich durchdacht, einige aber zu weitreichend, da durch die angedachten Maßnahmen zur Rechtsdurchsetzung allzu sehr in den höchstpersönlichen Lebensbereich der Nutzerinnen und Nutzer eingegriffen werden sollte. Das dann damit verbundene Schreckensbild aus Orwells «1984» wurde diesbezüglich fast schon hyperinflationär benutzt und verhinderte eine sachliche Diskussion nicht nur mittelfristig.

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Schaut man sich die frühe Geschichte der Informationsgesellschaft an, so kann man einige Analogien feststellen. Nachdem Gutenberg den Buchdruck eingeführt und den Siegeszug der Informationsverbreitung eingeläutet hatte, dauerte es nicht mehr lange, bis das «Copyright» eingeführt wurde. Die grundsätzliche Idee des «Copyrights» sah vor, nur vom König ausgewählten Personen ein «Kopierrecht» einzuräumen, was damit einer Zensur gleichkam. Es war ein langwieriger Prozess, das «Kopierrecht» zu dem Urheberrecht zu machen, wie wir es heute kennen. Momentan scheint sich dieser Entwicklungsprozess allerdings zu reversieren.

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Die Internetwirtschaft, die bis dato weitgehend frei und unbestreitbar exorbitant erfolgreich damit war, das Internet nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen zu gestalten und weiterzuentwickeln, sieht sich zunehmend mit der Forderung konfrontiert, das Internet nach sozialen Gesichtspunkten (z.B. Recht auf Zugang zum Internet als Grundbedürfnis) zu gestalten. Die Verantwortung für ein Medium, welches nach Ansicht der meisten Nutzerinnen und Nutzer wohl gleichbedeutend ist mit den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens, ruht somit nicht in den Händen demokratisch gewählter Respräsentatinnen und Repräsentanten, sondern in den Händen von marktwirtschaftlichen Konzernen.
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Sofern die Gesetzgebung (im Sinne des «civil law») als zu starr und zu schwerfällig versagt, den Herausforderungen schnell wechselnder Sachverhalte zu entsprechen, geht diese Aufgabe (im Sinne des «case law») auf Gerichte über. Doch selbst diese strauchelt damit, althergebrachte, teilweise auf Grundsätzen des römischen Rechts basierende Prinzipien angemessen auf die Inhalte der digitalen Welt anzuwenden. Allzu groß ist die Verlockung einer schnellen Analogie. Doch die wenigsten Grundsätze eignen sich für eine simple Analogie. Vielmehr gilt es, das Recht des Cyberspace mit Bedacht schrittweise zu entwickeln. Wie zaghaft und behutsam dieser Prozess von statten geht, zeigt sich in der Rechtsprechung der Höchstgerichte. Während nationalstaatliche Parlamente nur allzu gerne, getrieben von populistischen Forderungen, auf Überwachung und rigide Rechtsdurchsetzung setzen, liegt es an den Höchstgerichten, mit behutsamen Schritten die Rahmenbedingungen für eine Rechtsordnung im Internet zu schaffen.
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Als weitere Beispiele mögen die Diskussionen um ACTA4, TTIP5, die Vorratsdatenspeicherung sowie der Versuch einzelner Regierungen, die Nutzung von Informationsdiensten sowie sozialen Medien einzuschränken und Inhalte zu zensurieren, angeführt werden. Aus diesem Grund scheint die Zeit gekommen zu sein, ein neues allgemeingültiges Regelwerk für das Internet zu schaffen, welches die Interessen der unterschiedlichen Stakeholder miteinbezieht.
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Die Autoren sind dabei nicht so naiv, an ein verbindliches Werk zu glauben, welches globale Anerkennung finden sollte. Vielmehr sollten die darin aufgeführten Artikel der Entwicklung von anerkannten Leitsätzen und Standards dienen, an denen einzelne Ideen und Vorschläge gemessen werden können. Sie soll nicht nur den «rights holders», also Nutzerinnen und Nutzern, Rechte einräumen, sondern gleichzeitig auch Gesetzgebern, den «duty bearers», Verpflichtungen auferlegen.
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Die Bill of Rights 2.0 soll die elementaren Interessen der Netizen (Internetnutzerinnen und -nutzer) berücksichtigen und eine klare Signalwirkung für die zukünftige (Internet-) Gesetzgebung haben. Die Rechte und Pflichten der Netizen in der Bill of Rights 2.0 orientieren sich dabei an der originalen Fassung der Bill of Rights6, da diese sehr überzeugend bewiesen hat, dass die darin aufgeführten Grundsätze eine solide Basis für das Miteinander in einer demokratischen Gesellschaft bieten können. So wie jedem Gesetzesvorschlag eine Prüfung vorangestellt ist, ob z.B. ein legislativer Akt finanzielle Auswirkungen oder Auswirkungen auf Beschäftigung und den Wirtschaftsstandort haben kann, soll in Hinkunft jeder legislative Akt und jeder Urteilsentwurf an diesen Vorgaben gemessen werden.

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Ein Entwurf einer «Bill of Rights 2.0» wird nachfolgend vorgestellt:

Art. 1: Jeder Mensch hat das Recht auf freien Zugang zum Netz.

    Der Zugang zum Internet ist fast schon zum elementaren Grundbedürfnis geworden. Der Zugang zu Information und der Austausch entsprechen dem Recht auf Meinungs-, Presse- sowie Versammlungsfreiheit.

Art. 2: Jeder Mensch hat das Recht auf freie Netizenship.

    Da die Landesgrenzen, wie beschrieben, im Netz nicht existent sind, werden die Nutzer als «Netizens» zusammengefasst. Deren Netizenship darf aber an keine Bedingungen geknüpft sein.

Art. 3: Jeder Netizen hat das gleiche, unveräußerliche Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

    In diesem Zusammenhang besteht das Recht, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese kund zu tun. Eine Einschränkung dieser Rechte muss analog zu den außerhalb des Netzes gemachten Regeln vorgenommen werden (z.B. die Einschränkung der Grundrechte im Rahmen des Strafvollzugs).

Art. 4: Jeder Netizen hat das Recht auf Anonymität.

    Dieses Recht ist sehr umstritten, agieren doch auch viele Menschen unrechtmäßig im Netz. Vielfach wird der Schutz der Anonymität als Grund dafür gesehen, dass eine Verfolgung entsprechender Handlungen erschwert wird. Allerdings führt die Aufhebung der Anonymität unweigerlich zur Zensur in Staaten, in denen Meinungsfreiheit unerwünscht ist. Hier ist ganz klar auf einen Interessensausgleich zu achten, der den unbescholtenen Bürger nicht unter Generalverdacht stellt, aber gleichzeitig eine effektive Rechtsdurchsetzung sowie einen angemessenen Interessensausgleichs zwischen allen Netizens (z.B. Rücksicht auf besondere Schutzbedürftigkeit) darstellt.

Art. 5: Jeder Netizen hat das Recht auf Wahrung und Schutz der eigenen Identität und seiner Privatsphäre.

    Dazu gehört insbesondere der Schutz vor willkürlicher Überwachung, Festnahme und Beschlagnahmung.

Art. 6: Jeder Netizen hat das Recht auf Wahrung seiner Immaterialgüterrechte.

    Jeder Netizen räumt anderen Netizen das Recht ein, zur Verfügung gestellte Inhalte im Rahmen von «fair-use» i.S.d. § 107 des US-amerikanischen Copyright Act (17 U.S.C.) zu verwenden. Dieses Rechtsinstitut hat sich bewährt und es besteht die Möglichkeit auf langjährige Rechtsauslegung zurückzugreifen. Leider ist dieses Recht in Kontinentaleuropa nur rudimentär ausgeprägt7.

Art. 7: Jeder Netizen hat das unverzichtbare Recht auf Schutz seiner personenbezogenen Daten.

    Dieser Artikel soll den Netizen vor der unautorisierten Verwertung seiner Daten schützen, bzw. einen Mindeststandard an Schutz garantieren. Dazu gehört z.B. das Recht auf Auskunft der über ihn gespeicherten Daten.

Art. 8: Jeder Netizen hat das Recht auf Wahrung und Schutz seiner persönlichen Würde. 

    Auch dieser Artikel dient dem Schutz der Identität und jener Netizen, denen ein erhöhtes Schutzbedürfnis zukommt.

Art. 9: Kein Entzug der Netizenship ohne vorheriges ordentliches Gerichtsverfahren.

    Sollte der Zugang zum Netz gesperrt werden, so muss zumindest ein ordentliches Verfahren vor einem Gericht stattgefunden haben, um Willkür Einhalt gebieten zu können.

Art. 10: Keine Versagung oder Einschränkung von in der Bill of Rights 2.0 nicht aufgezählten Rechten der Netizens.

    Diese Klausel ist analog der originalen Bill of Rights darauf ausgelegt, dass die einzelnen Staaten natürlich keinen Eingriff in ihre Souveränität durch die Bill of Rights 2.0 hinnehmen müssen, sich aber dennoch an die Grundaussagen dieses Dokumentes halten müssen (wohl eher realistisch: sollen)8.

 

Mag. Dr. Kai Erenli LL.M (it-law), zPM,
leitet den Studiengang “Film-, TV- und Medienproduktion an der FH des bfi Wien”. Neben dem Studium der Rechtswissenschaften leitete er erfolgreich eine Werbeagentur und betreute diverse Projekte bei der Umsetzung. Er war wesentlich beim Aufbau einer im deutschsprachigen Raum führenden Ausbildungs-, Lern-, Weiterbildungs- und Informationsplattform beteiligt und beschäftigt sich seit 2003 intensiv mit den Rechtsfragen des IT-Rechts. Kai Erenli ist zertifizierter Projektmanager und publiziert seit 2007 regelmäßig zu juristischen und projektmanagementbezogenen Themen.

 

Mag. Dr. Maximilian Schubert LL.M.
Mit dem Internet bzw. dem IT-Recht beschäftigte sich Maximilian Schubert bereits während seines Studiums der Rechtswissenschaften in Graz, wo er zur rechtlichen Zulässigkeit von Keyword Advertising promovierte. Nach seiner Gerichtspraxis absolvierte er 2007 einen Master in Innovation Technology & The Law an der Universität Edinburgh. Nach Abschluss seines Masters war er bei der OMV Deutschland GmbH im Behörden-Management tätig, bevor er 2010 als Jurist zur ISPA wechselte. Bereits während des Studiums publizierte er Beiträge zu IT-Recht in deutsch- und englischsprachigen Fachzeitschriften und hielt zahlreiche Vorträge zu dem Thema seiner Dissertation. Seit März 2011 unterrichtet Maximilian Schubert nebenberuflich als Lektor an der FH des BFI Wien.

  1. 1 http://www.heise.de/newsticker/meldung/Aegypten-blockiert-Twitter-und-Facebook-1177706.html.
  2. 2 Barlow, A Declaration of the Independence of Cyberspace, https://projects.eff.org/~barlow/Declaration-Final.html.
  3. 3 Jarvis, A Bill of Rights for Cyberspace, http://buzzmachine.com/2010/03/27/a-bill-of-rights-in-cyberspace/.
  4. 4 Siehe bspw.: https://www.eff.org/issues/acta, http://www.ustr.gov/acta.
  5. 5 http://ec.europa.eu/trade/policy/in-focus/ttip/.
  6. 6 http://billofrightsinstitute.org/founding-documents/bill-of-rights/.
  7. 7 Siehe bspw.: Hugenholtz/Senftleben, Fair Use in Europe. In Search of Flexibilities, abrufbar unter: http://www.ivir.nl/publications/hugenholtz/Fair%20Use%20Report%20PUB.pdf.
  8. 8 Siehe: http://www.britannica.com/EBchecked/topic/587611/Tenth-Amendment.