1.
Einleitende Gedanken zum EGMR und zur EMRK ^
Im Dezember 1952 ratifizierte die junge BRD die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) als vierter Staat nach Großbritannien (1951), Schweden und Norwegen (jeweils 1952), welche zum 3. September 1953 in Kraft trat. Im Jahr 1955 erkannte die BRD das Individualbeschwerderecht nach Art. 25 Abs. 1 EMRK a.F. und die Gerichtsbarkeit des Gerichtshof nach Art. 46 Abs. 1 EMRK a.F. an.1 Durch das Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 zum 1. November 1998, durch welche die Zweiteilung von Gerichtshof und EU-Kommission aufgehoben und das Gericht als ständiger Gerichtshof eingerichtet wurde2, kann als die bis dato größte Umgestaltung des Rechtsschutzes der EMRK angesehen werden. Bis zu dieser autonomen Ausgestaltung wurde die BRD 15-mal verurteilt.3 Unter diesen Urteilen ist vielleicht die Beschwerde von König4 hervorzuheben, in welcher der EGMR explizierte, dass er Rechtsbegriffe autonom interpretiert. Seit 1998 erhöhte sich die Intensität der Verurteilung der BRD auf etwa 12 jährlich.
Trotzdem blieben die EMRK und der EGMR für die weitere Entwicklung der bundesdeutschen Rechtsordnung relativ unbedeutend. Im Grund genommen kann man hierfür zwei große Begründungskategorien finden: normative Gründe und sprachliche Gründe. Zu den normativen Gründen zählt (das Schutzargument) die bundesdeutsche Sicht auf die Verfassung (Grundgesetz) und das BVerG, durch welche die Menschrechte bereits einen herausragenden Schutz genießen, sowie dass sich (das Ähnlichkeitsargument) die Bundesdeutsche Verfassung und die MRK hinsichtlich der Verbürgung der Grundrechte als Menschrechte nicht wesentlich unterscheiden. Der Rezeption der EGMR Rechtsprechung hinderlich gewesen sein dürfte aber überwiegend die Veröffentlichung der Urteile über lange Zeit hinweg in den Amtssprachen Englisch und Französisch. Ein wenig Abhilfe mag hier die durch das Bundesdeutsche Ministerium der Justiz geförderte Herausgabe einer Entscheidungssammlung in deutscher Sprache sein, die durch den Verlag N. P. Engel verlegt wird.5 Ferner publiziert das BMJ seit 2004 einen Jahresbericht über die EGMR-Rechtsprechung, welche Deutschland betrifft. Diese ist über die Internetpräsenz des BMJ abrufbar6. An die Sprache gebunden sind auch die Konventionen der Urteilsverkündigung, die von der deutschen Abfassungstradition offensichtlich abweichen, wenn die Urteile in französischer Sprache und mit französischem Tenor verkündet werden. Fragen der Form und des Tenors sind in einer Übersetzung, wenn wir Walter Benjamin folgen, nicht möglich, da jede Übersetzung eine Neuschöpfung darstellt.7 Wir möchten davon absehen, dies als dogmatisch zu bezeichnen, da es weniger um Dogmatik als um die jeweiligen Rechtssprache als (eigenständige) Technologie8 geht, welche durch die normative Brille der jeweiligen Verfassung (Normengerüst) die Dinge in Augenschein nimmt.9 Abschließend lässt sich sagen, dass es insgesamt ein Problem der Analogie der Symmetrie ist. Je ähnlicher (symmetrischer) Rechtsysteme und Rechtssprachen sind, desto einfacher ist es, Rechtsordnungen und auf ihnen basierende Entscheidungen zu übertragen bzw. zu rezipieren. Von einem (rechts-) pragmatischen Standpunkt aus ließe sich bemängeln, dass es der bundesdeutschen Tradition bisweilen an einer Differenzierungspraxis mangelt – sowohl in Praxis wie Lehre.
Trotz all dieser Vorbehalte und Probleme hat der EGMR in der BRD einen gewissen Einfluss durch Gesetzesänderungen und im Rechtsprechungsdialog gezeitigt.10 Der EGMR wurde erst 2004 durch das BVerfG und eine breite Öffentlichkeit nachhaltig durch die Verurteilung der BRD im Fall Görgülü wahrgenommen. Hierbei ging es um die Stärkung der Rechte nichtehelicher Väter.11 Worauf hin sich das BVerfG in einem Beschluss des Zweiten Senats vom Oktober 2004 zu dieser Einmischung von außen äußert.12 In diesem Beschluss wurde anerkannt, dass die EMRK wie sie der EGMR vertritt, zusammen mit dem einschlägigen Grundrecht zum Maßstab der Überprüfung vor dem Verfassungsgericht zählt. Daraufhin folgt ein Urteil des EGMR zur Sicherheitsverwahrung13 vom 17. Dezember 2009, das als ein weiterer Dialog dieser Institutionen angesehen werden kann. Dieses vielfach kritisierte Urteil erzwang die Fachgerichte einschl. des BGH und des BVerfG sich abermals mit der Wirkung und Einflussnahme des EGMR auseinanderzusetzen. In diesem institutionellen Dialog ist vielleicht noch das sog. Urteil Carolin I, das in Carolin II revidiert wurde, zu nennen, welches letztlich vom EGMR akzeptiert wurde.14
Ehe wir zu einer rechtsphilosophischen Analyse schreiten, stellt sich die Frage nach dem dialogischen Miteinander und der normativen Ko-Evolution der Institutionen und ihrer Grenzen. Was finden wir in der Praxis?
- Die Aufforderung des BVerfG nach der Berücksichtigung der Bewertungsmaßstäbe des EGMR durch eine analoge Rechtsnorm (der EMRK, die ähnlich den Menschenrechten in dem Grundgesetz ist).
- De facto wird das EGMR auch durch das BVerfG geprüft. Insofern steht es hierarchisch nicht unter dem EGMR, sondern mindestens nach dessen Selbstverständnis auf derselben Stufe. Insofern scheint es keine Hierarchie der Verfassungen zu geben. Nach dieser Auffassung sind alle Verfassungen gleich, auch die der Supranationalen Institutionen, die gewisse Rechte verbriefen. Es gibt keinen primus inter pares, der die Souveränität der nationalen Verfassung übersteigt. Aus diesem Grund ist die nationale Verfassung das Eingangs-Normengerüst, das alle von innen wie außen kommenden Norminterpretationen und ihre Maßstäbe zu prüfen hat. Maßstäbe als solche werden nur zur Prüfung anerkannt (sind dessen würdig), wenn es eine normative Symmetrie (oder Analogie) gibt.
- Damit wird der Gerichtshof entlastet und das föderale Prinzip und das Subsidiaritätsprinzip gestärkt.
- Aufgrund der Kassationsbefugnis steht das BVferG hierarchisch-sanktionierend über dem EGMR.
- Der jeweilige nationale Richter gilt als erster Garant der Menschenrechte. Das wiederum bindet ihn imperativ an eine starke Informationsholschuld, der dieser nur durch fortlaufende Weiterbildung und Auseinandersetzung sowie mentalen wie physischen Austausch gerecht werden können.
- Dem EGMR erwächst hieraus eine mehrfache Pflicht. Zunächst erscheint es begrüßenswert, dass es zwischen Verfassungen keine Hierarchie gibt und diese als gleichwertig angesehen werden. Der EGMR hat demnach die Aufgabe der Diffusion und der Perturbation. Er ist ein Sammelbecken des Austausches und der Innovation. Diese haben den Charakter Verkrustungen und Traditionen der jeweiligen nationalen Verfassungen und ihrer Interpretation zu hinterfragen. Damit das gelingen kann, muss der EGMR attraktiv für künftige wie aktuelle RichterInnen sein. Er muss Austausch- und Diskussionsforum sein und Dynamiken initiieren, indem er alternative Maßstäbe und Meinungen zu ähnlichen Strukturen in die Diskussion gibt. Seine Rolle ist mehr die des Initiators als die des Erzwingers. So und nur so behält er sich das kreative, anstoßende Potential bei, das einer hierarchischen Superposition nie inhärent sein kann.
2.
Ein kurzes Schlaglicht auf die IPBPR – Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte ^
Wenn der Menschenrechtskatalog im Grundgesetz (GG) der BRD der kleine Kreis ist, dann stellen die EMRK und der EGMR den mittleren Kreis und die IPBPR den großen, den Umkreis, dar. Je kleiner und spezifischer der Kreis umso näher am Individuum (den innersten Punkt, das Zentrum) sind die Garanten und ihre Repräsentanten der Menschrechte. IPBPR und EMRK sind Versuche auf internationaler Ebene bereits bestehende nationale Garantien verstärkt zu gewährleisten bzw. nationale Lücken zu schließen. Es sind Konstrukte des Minimalkonsens und der gegenseitigen Nivellierung, ein Weg einheitliche Normen – ein Minimalnormenkorsett – zu schaffen. Jedes der Vertragswerke hat ihren eigenen Kontext und ihre eigene Zugangsweise. Während die EMRK auf die europäischen Vertragsstaaten beschränkt ist, versucht die IPBPR individuelle Rechtsgarantien auf globaler Ebene zu etablieren. Beide Vertragswerke haben einen unterschiedlich hohen Grad an Heterogenität der Vertragsparteien zu bewältigen. Daraus ergeben sich vielfache Probleme bei ihrer Interpretation und Anwendung. Beiden Werken gemeinsam ist, dass sie eine völkerrechtliche Mindestsicherheit zu garantieren versuchen aber höhere nationale Standards nicht ausschließen wollen. Während in beiden Verträgen Vorbehalte zulässig sind, haben UN-MRA (Menschenrechtsausschuss) und EGMR versucht, diese Vorbehalte möglichst eng zu fassen. Während eine Aufkündigung des EMRK zulässig ist15, ist es die des IPBPR nicht. Beiden Werken hat die BRD (Art. 59 GG) zugestimmt und ihnen als Anwendungen Rang im Sinne eines Bundesgesetztes eingeräumt (Art. 20 Abs. 3 GG)16. Damit kann ein jedes Individuum, das seine Rechte verletzt sieht, diese (subjektiven) Rechte geltend machen. Das BVerfG hat den völkerrechtsfreundlichen Auslegungen Grenzen gezogen und so eine Nivellierung völkerrechtlicher Normen mit verfassungsrechtlichen Aussagen für nicht möglich erklärt.17 Dadurch hat sie der eigenen Verfassung und Souveränität einen Quasi-Bestands-, Lebens- und Wirkungsschutz eingeräumt und wird dem Gedanken der Unaufkündbarkeit der Grundrechte und der Verfassung als Einheit gerecht. Die Verfassung kann nur auf den in ihr beschriebenen Weg und durch Externe in seiner Geltung und Wirkung begrenzt bzw. modifiziert werden.
Pitamic, selbst dem Normativismus nicht abgeneigt, differenzierte zwischen Normclustern und Normen im weiten und engeren Sinne, um zu versuchen, die Widersprüche (formalen Antinomien des Rechts) aufzulösen. Es ging ihm um die Frage der Konsistenz des Systems trotz (scheinbarer) innerer Widersprüche. Die höchste Norm, der er folgt, war die Einheit des Rechtskorpus. Seiner Analyse und Auffassung nach haben nicht alle staatlichen Institutionen ein einheitliches Interpretationsgewicht (oder Interpretationsrecht) hinsichtlich des gesamten Korpus.23 Er folgt der Aristotelischen Idee, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Wie kann man also das Ganze, welches (hierarchisch) gegliedert ist, durch inkonsistente Teile zum Einsturz bringen? Diese Idee der Berechtigungskonzepte finden wir in ähnlicher Weise auch in der Logik in Form der Hierarchie starker Sprachen. Dort werden formale Sprachen wie ein Turm gebaut, so dass das hierarchisch höhere Systeme Aussagen über die niedrigeren fällen kann, aber nicht über sich selbst oder ihr gegenüber mächtigere Systeme. Interessant an dem Berechtigungskonzept Pitamic’s ist, dass er darüber hinausgeht, indem er weiter an der ontologischen Struktur der Leibniz’schen Erkenntnis arbeitet und diese ontisch im Rechtskorpus und Rechtssystem abbildet. Was er uns bietet, ist nicht ein reines Schalenmodell, sondern mehr eine Art Netzstruktur (Graph), in der es mehr oder weniger verbundene Elemente und Cluster gibt, die aber insgesamt eine Einheit bilden. Stellen Sie sich hierzu einfach alle Wege und Straßen im Bundesgebiet vor, oder alle Wälder, oder Städte und Dörfer. Einige dieser Elemente hängen zusammen, sind verbunden, weil sie direkte Nachbarn sind, oder es eine Beziehung gibt, in der diese zueinander stehen. Doch wenn nun Teile davon ausfallen, so muss nicht das ganze System gleich schwer betroffen sein. Sicher wiegen die Hauptstädte schwerer, da sie durch vielfältigere Straßen verbunden sind als irgendwelche Dörfer. In diesem Sinn verhält es sich auch mit dem Rechtskorpus. Dem Ganzen kann nicht beliebig Schaden zugefügt werden, nur weil gewisse Instanzen und Fragmente inkonsistent sind. Schaden ist möglich, aber nicht immer und durch alle Elemente.
Pitamic selbst weitet die normative Sicht auf den Staat und seine Institutionen als tatsächlicher Träger von Gewalt aus. Diese repräsentieren quasi die Natur einer gewissen Rechtsinstanz (in natura legis). Völkerrecht und ihr ähnliche Werke sieht er als weitere normative Quellen des Rechts an.24 Und hier greift auch seine Kritik an Kelsen, der eher ein Syntaktiker des Rechts war, während Pitamic wohl als ein Semantiker des Rechts verstanden werden kann, der Recht nicht als Zeichenspiel sieht, sondern Normen über ihren Inhalt, der an eine Form gebunden ist, versucht zu begründen.25
Reflektieren wir hier kurz, was das BVerfG nach der Görgülü-Entscheidung tat, so stellen wir fest, dass es der Auffassung Pitamic’s folgt und IPBPR und EMRK als normative Quellen ansieht, doch die Deutungshoheit über die Konstitution des Rechtskorpus in seiner Rolle sieht. Europäische wie internationale Rechtswerke werden als Quellen, nicht aber als zugehörig zum (nationalem) Rechtskorpus angesehen. Dem BVerfG fällt die Rolle des Elementes des Rechtskorpus zu, temporär außerhalb von ihm tätig zu werden, es sieht sich aber auch als Tor an, das entscheidet was für Interpretationsmaßstäbe angesetzt werden dürfen. Das BVerfG ist semantischer Türsteher an den Pforten des Rechtskorpus und ihr DIN-Institut, das über die Maßstäbe befindet. Es folgt somit mehr einer Auffassung des semantischen normativen Rechtspositivismus nach der Prägung von Pitamic als der syntaktisch, skeletthaften Prägung Kelsens. Auch wenn es den Anschein haben mag, dass beide sich in großen Teilen unterscheiden, oder der eine gar die Weiterentwicklung des anderen ist, so sind sie doch symmetrisch zueinander. Um in einem Bild zu sprechen, beide versuchen wie Leonardo in seinen Skizzen die Bewegung der Körper zu verstehen. Leonardo sezierte sie auf dem Zeichenbrett, nahm Kleidung, Haut, Harre, Muskeln und Fasern und letztlich auch die Knochen weg und reduzierte seine Modelle auf verbundene Gestänge. Kelsen nun trat an, das zu tun und verweilte bei den Gestängen. Pitamic versuchte sich wieder daran, diese Gestänge mit Fleisch, Sehnen und Haut zu behangen. Beiden aber ging es ähnlich wie Leonardo darum, die Bewegung, in ihrem Fall, die des Rechtskorpus, zu verstehen.
4.
Eine kurzer Ausblick auf eine andere Interpretation ^
4.1.
Charakteristik des Spiels ^
4.2.
Welche Bedeutung hat das nun? ^
5.
Literaturverzeichnis ^
Bengez, Rainhard & Philipps, Lothar, Symbolische Transformation als Rechtstechnologie: Eine erste begriffliche Abgrenzung. In: Schweighofer, Erich et. al. (Hrsg.), Transformation juristischer Sprachen. Tagungsband des 15. Internationalen Rechtsinformatik Symposions. IRIS 2012, Band 288, S. 323–332, OCG, Wien (2012).
Pavcnik, Marijan, An den Grenzen der reinen Rechtslehre. In: Pavcnik, Marijan (Hrsg.), Leonid Pitamic. Na robovih ciste teorije Prava. An den Grenzen der reinen Rechtslehre, Slowenische Akademie der Wissenschaft, Ljubljana, S. 153–173 (2009).
Philipps, Lothar, Endliche Rechtsbegriffe mit unendlichen Grenzen, Editions Weblaw, Bern (2012).
Rainhard Z. Bengez, Prof. in Mathematics, Legal Informatics & Legal Philosophy, Kansai University, Osaka, Japan & TU München, Germany, Faculty of Law & Faculty of Mathematics & MCTS – Munich Center for Technology in Society, German address: Arcisstr. 21, D80333 München, DE, bengez@web.de; bengez@tum.de; http://www.philosophyofdata.org; http://www.rechtstheorie.org
Lothar Philipps, Prof. emer. in Criminal Law, Legal Informatics & Legal Philosophy, LMU München, Germany, Faculty of Law, Arcisstr. 21, D80333 München, DE, loth@jura.uni-muenchen.de; http://www.rechtstheorie.org
- 1 Cf. Website des Europarats oder vgl. auch Schäfer, in Karpenstein et. al., EMRK, 1. Aufl. 2012, Art. 34 Rn. 2.
- 2 BGB II 1995, S. 578 & Art. 19 EMRK.
- 3 Cf. Website des EGMR unter «Survey of Activities 1959 – 1998».
- 4 EGMR (Plenary), Urteil vom 29. Juni 1978, König, Nr. 6232/73, EGMR-E 1, S. 278.
- 5 Diese Bände (EGMR-E) sind unentgeltlich abrufbar unter: http://eugrz.info – des Weiteren ist unter http://www.egmr.org/link.html ein wenig liebevoll gepflegtes Fundstellenverzeichnis für deutschsprachige Artikel, Entscheidungen des EGMR betreffend zu finden.
-
6
http://www.bmjv.de/DE/Ministerium/Abteilungen/OeffentlichesRecht/Menschenrechte/EuropaeischerGerichtshoffuer
Menschenrechte/Urteile/_node.html. - 7 Franz Kummer brachte bei einer ersten Durchsicht den berechtigten Einwand, dass diese Aussage so nicht haltbar sei, da es am Beispiel der Schweiz mit mehreren Amtssprachen solche Probleme nicht gebe. Die BeNeLux-Staaten dürften ein weiteres Beispiel sein, bzw. Israel, in dem Hebräisch und Arabisch Amtssprachen sind. Dieser Einwand ist also mehr als berechtigt. Dem steht die Erkenntnis gegenüber, die ein jeder Übersetzer macht, dass man ein Poem nicht vollständig übertragen kann. Das war eines der philosophischen Betätigungsfelder Walter Benjamins. Seine Erkenntnisse sind in den Sprachwissenschaften weitgehend akzeptiert. Da beide Positionen valide und berechtigt sind, scheint es, dass sie sich auf eine dritte, scheinbar verborgene Komponente beziehen. Wir identifizieren diese Komponente als Rechts- und Sozialkultur. Diese umfasst die Werte, Normen und Bewertungsmaßstäbe, welche sich eine Kulturgemeinschaft zu Eigen macht. Sprache, bzw. Schriftlichkeit, gesehen als Technologie, Konservierungs-, Austausch- und ein Denkmedium sind demnach nur Ausdruck der kulturellen Eigenheiten. Da die Rechtssprache(n) immer nur einen ausgezeichneten Teil des gesamten kulturellen Ausdrucksreichtums ausmachen, sie sich, anders gesagt, ihre jeweils spezifischen Geltungsbereiche erschließen und diese einer starken Interpretationsdynamik unterliegen, welche in mehreren Amtssprachen gezwungener Maßen parallel erfolgt, kann es nicht passieren, dass der Ausdrucksgegenstand in der einen Amtssprache vorhanden ist und in der anderen nicht. Ferner steht es der Rechtssprache fern, direkt Emotionen transportieren zu wollen. Rechtssprachen stellen somit weniger dimensionale Sprachen dar; quasi eine sprachliche Beschränkung. So mag es in der Schweiz möglich sein über Rechtsgüter in den Amtssprachen einvernehmlich zu diskutieren und zu werten. Dennoch ist es eine nicht lösbare Kunst ein deutschsprachiges Poem in seiner Ganzheit in die französische oder italienische Sprache zu übersetzen. Natürlich geht das nur solange gut, solange sich die Wertegemeinschaft im Großen und Ganzen auf die gleichen Werte und Maßstäbe berufen wird.
- 8 Cf. die Idee der Sprache als Rechtstechnologie, Bengez, Rainhard & Philipps, Lothar, Symbolische Transformation als Rechtstechnologie: Eine erste begriffliche Abgrenzung, IRIS 2012, Tagungsband, 323–332.
- 9 Ein Beispiel für diese wirre Situation, die sich aus dem Eigenleben der Übersetzung ergibt, ist die Zweiteilung und deren (fiktive) Aufheben der Strafe und Maßregel. Cf. Landau/Tresoret, DVBI 2012 1329 & 1332 und EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, M., Nr. 19359/04, NJW 2010, 2495 und BVerfGE 109, 133 & 167 ff.
- 10 Cf. beispielhaft neben anderen EGMR (Urteil) vom 2. September 2010, Nr. 46344/06, EuGRZ 2010, 700. In Rn. 64 ff. findet sich dort eine Auflistung der vorangegangenen Verurteilungen & zweites Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nicht-ehelicher Kinder, zur Änderung der Zivilprozessordnung und der AO vom 12. April 2011, BGBl I S. 615. & EGMR (GK), Urteil, vom 12. Februar 200, Guja, Nr. 14277/04, etc.
- 11 EGMR, Urteil vom 26. Februar 2004, Görgülü, Nr. 74969/01, NJW 2004, 3397.
- 12 BVerfGE 111, 307 & 315 ff. & 329 f.
- 13 EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, M., Nr. 19359/04, NJW 2010, 2495.
- 14 EGMR (GK), Urteil vom 7. Februar 2012, von Hannover (Nr. 2), Nrn. 40660/08 & 60641/08, NJW 2012, 1053.
- 15 Eine solche Aufkündigung wäre sicherlich nicht nur im europäischen Kontext mit hohen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Kosten verbunden, so dass diese Option als eher unrealistisch einzustufen ist.
- 16 Cf. Fußnote 9 und 10 zum Fall Görgülü.
- 17 Cf. BVerfGE 111, 307 (319) zu diesem Souveränitätsvorbehalt.
- 18 Beispielsweise Art. 27 IPBPR, der Minderheiten besonderen Schutz verleiht und anders als Art. 14 EMRK eine selbständige, bezugslose Geltungsnorm darstellt.
- 19 In Anlehnung an das gleichnamige Buch: Leonid Pitamic, An den Grenzen der reinen Rechtslehre, hrsg. von Marijan Pavcnik, Ljubljana, 2005, Slowenische Akademie der Wissenschaften, 2. Auflage 2009.
- 20 Pavcnik, 153.
- 21 Pavcnik, 155.
- 22 Pavcnik, 156.
- 23 Pavcnik, 158 f.
- 24 Pavcnik, 159 f.
- 25 Pavcnik, 168 f.
- 26 Vgl. für einige Beispiele Philipps, Lothar, Endliche Rechtsbegriffe mit unendlichen Grenzen, Editions Weblaw, Bern 2012.
- 27 Ein Begriff, den Dr. Günther Schefbeck bei den Münchener Rechtstheoriegesprächen 2012 prägte.