1.
Der Mehrwert von Rechtssätzen: rationell und rational ^
Der Begriff des Rechtssatzes sollte grundsätzlich nicht mit folgenden Begriffen konfundiert werden: dem Begriff des (Gesetzes-)Texts bzw. Norm-Texts, mit dem die Norm ausgedrückt wird, weiters dem Begriff des Norm-Satzes, in dem über den Inhalt der Norm Auskunft gegeben wird (insbesondere in Gesetzesmaterialien, Lehre, Rechtsprechung), und der Norm selbst, d.i. der von der fallentscheidenden Stelle letztlich angenommenen Norminhalt (der freilich wieder in einen gesprochenen oder geschriebenen Text Ausdruck findet). Der Norm-Inhalt mag sich – etwa auf dem Boden der (lehre- bzw. judikaturgestützten) Anwendungspraxis – nicht mit dem bloßen Inhalt des Norm-Textes decken. Freilich bildet der Norm-Text die Grundlage für Reflexion und Kritik eines davon abweichend angenommenen Norm-Inhalts, zumal die Vollziehung der Norm wohl auf die bestmögliche Umsetzung des Inhalts des Norm-Textes abzielt5.
2.
Zum Inhalt des Rechtssatzes ^
Rechtssätze umfassen – wie erwähnt – als zentralen Aussagen einer Falllösungsentscheidung die «tragende Gründe» der Entscheidung7. Für Entscheidungen mit einer Mehrzahl zentraler Aussagen werden in der Regel mehrere Rechtssätze gebildet. Der Text eines Rechtssatzes folgt meist weitgehend der Entscheidungsformulierung. Bei einigen Gerichten enthalten sie aber auch zusätzliche Informationen, in denen auf andere (etwa gegenläufige) Rechtssprechung oder Literatur hingewiesen wird. Verfasst werden Rechtssätze entweder bei der entscheidenden Behörde8 oder im Rahmen der Präsentation bzw. Kommentierung einer Entscheidung in der Fachliteratur, wobei bei behördlich erstellten Rechtssätzen die Folgebereitschaft möglicherweise stärker ausgeprägt ist. Besonders wichtige Rechtssätze können als Leitsätze herausgehoben werden9, unter Leitsätzen bzw. Orientierungssätzen werden mitunter aber auch bloß knappe Charakterisierungen von Entscheidungsinhalten (etwa in einem Satz) verstanden10.
3.
Rechtssätze aus rechtsinformatischer Perspektive ^
4.
Rechtssatzfindung als kooperatives judizielles Geschehen ^
Neben dieser sachlichen und zeitlichen Einordnung in den Entscheidungsprozess bleibt noch eine weitere Zusammenarbeit mehrerer Stellen bezogen auf dasselbe Verfahren zu nennen, wobei keine instanzenartige Über- bzw. Unterordnung der Stellen besteht. Die Ergebnisse eines Zwischenverfahrens vor dem EuGH oder dem VfGH werden in einem Ausgangsverfahren jedenfalls zu berücksichtigen sein und gegebenenfalls auch im Rechtssatz reflektiert. Die Kooperation lässt sich insbesondere anhand der Institution der Vorlage an den EuGH beispielsweise veranschaulichen18: der EuGH trifft die ihm zukommende Entscheidung über die Fragen der Auslegung bzw. der Gültigkeit unionsrechtlicher Bestimmungen, die an ihn von einem nationalen Gericht herangetragen werden. Die vom EuGH getroffene Beurteilung ist für das vorlegende Gericht bindend und stellt insofern ein nicht änderbares Datum da. Dieses Datum wird in aller Regel im Entscheidungstext entsprechend repräsentiert und findet – gerade in der Form eines inhaltlichen Hinweises auf das Urteil des EuGH19 – Eingang in die Entscheidung des Vorlagegerichtes und deren Rechtssätze. Das Vorlagegericht entscheidet aber den Fall selbst einschließlich der Rechtsfragen des mitgliedstaatlichen Rechts sowie der sachverhaltsbezogenen Fragestellungen («Kooperation durch Arbeitsteilung»).
5.
Die Anwendung von Rechtssätzen ^
Die faktisch fundamentale Bedeutung der Rechtssätze24 für die Rechtsanwendung kommt allerdings darin zum Ausdruck, dass Gerichte trotz der überwiegenden Verneinung einer Bindung ihren Rechtssätzen folgen25 und zudem die Rechtssätze anderer (Höchst-)Gerichte berücksichtigen26. Es kommt zu einer «faktischen Bindung», die den Rechtssätzen und der sie erzeugenden Rechtsprechung eine «persuasive authority»27 zubilligen und die Rechtssätze im Ergebnis neben die generellen rechtlichen Normen treten lassen.
6.
Rechtssätze und Leitlinien ^
7.
Rechtssatz als Träger des Norminhalts – textuelle Kooperation zwischen Rechtssatz und Gesetz ^
Gesetze sind generelle Rechtsquellen. Als «abstrakt-generelle» Normen gelten sie für eine «Vielzahl von Fällen» und für eine «unbestimmte Zahl von Personen»34. Allgemein bzw. von generellem Charakter ist ihr Inhalt aber nur, wenn dieser für diese Fälle und Personen in gleicher Weise zum Tragen kommt. Damit korrespondiert (bei einem weiten Verständnis) das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz, das verletzt würde, wenn das Gesetz auf im Wesentlichen gleichgelagerte Fälle mit jeweils unterschiedlichem Inhalt angewendet wird.
Meinrad Handstanger, Hofrat des Verwaltungsgerichtshofs Wien, Honorarprofessor an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Verwaltungsgerichtshof, Judenplatz 11, 1014 Wien, AT, meinrad.handstanger@vwgh.gv.at
- 1 Die Tragweite der gerichtlichen Fallentscheidungen als «Richterrecht» strich im Rahmen der Reinen Rechtslehre v.a. Adolf Merkl (in Auseinandersetzung mit er Freirechtsschule) heraus, vgl. insbesondere Merkl, Gesetzesrecht und Richterrecht, abgedruckt in: Klecatsky/Marcic/Schambeck (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd II, 1968, 1615, und Merkl, Freirecht und Richterfreiheit, abgedruckt in: Klecatsky/Marcic/Schambeck (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd II, 1968, 1573.
- 2 «Entscheiden» ist damit jeder Falllösung durch jede (gerichtliche) Behörde inhärent. Differenziert dazu Albers, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, in: VVdStRL Bd 71, 2012, 258, 259 ff.
- 3 Dazu und zum Folgenden Handstanger, Rechtssätze und Judikaturlinien, in: Schweighofer (Hrsg.), Semantisches Web und Soziales Web im Recht, 2009, 263 ff.
- 4 Vgl. einführend Max Weber, Soziologische Grundbegriffe, 19815, 37 ff.
- 5 Vgl. etwa Handstanger, Zur Perspektive der Rechtsanwendung, in: Schweighofer et al. (Hrsg.), Komplexitätsgrenzen der Rechtsinformatik, 2008, 493, insbesondere 495 f., m.w.H.
- 6 Vgl. Rebhahn, Auf der Suche nach der ratio decidendi, in: Jabloner et al. (Hrsg.), Vom praktischen Wert der Methode. FS Heinz Mayer, 2011, 575, insbesondere 584 ff., zur Bedeutung der Vorjudikatur als abgekürztes Argument.
- 7 Dazu und zum Folgenden Handstanger, Rechtssätze und Judikaturlinien, in: Schweighofer (Hrsg.), Semantisches Web und Soziales Web im Recht, 2009, 263 ff.
- 8 Dort wiederum vom Entscheidungsorgan selbst oder einer spezialisierten Stelle (Evidenzbüro, vgl. § 17 VwGG).
- 9 Jabloner, Richterrecht als Rechtsquelle?, in: Jabloner et al. (Hrsg.), GS Robert Walter, 2013, 185, 191 (insbesondere FN 31 unter Hinweis auf § 74 OGH-Geo 2005).
- 10 So etwa die Praxis des Verfassungsgerichtshofes, wo dem eigentlichen Rechtssatz jeweils ein Leitsatz mit einer solchen Charakterisierung vorangestellt wird (vgl. z.B. den im RIS abrufbaren Rechtssatz samt Leitsatz zu VfGH 27. Juni 2014, G 47/2012 u a, betreffend die Vorratsdatenspeicherung).
- 11 Dazu und zum Folgenden Handstanger, Rechtssätze und Judikaturlinien, in: Schweighofer (Hrsg.), Semantisches Web und Soziales Web im Recht, 2009, 263 ff.
- 12 Vgl. etwa Handstanger, Zur Perspektive der Rechtsanwendung, in: Schweighofer et al. (Hrsg.), Komplexitätsgrenzen der Rechtsinformatik, 2008, 493, insbesondere 495 f. und 497 ff., m.w.H.
- 13 Vgl. etwa Handstanger, Relationen zwischen Rechtsquellen im Kontext der Rechtsanwendung, in: Schweighofer et al. (Hrsg.), Zeichen und Zauber des Rechts, FS Friedrich Lachmayer, 2014, 11, insbesondere 12 ff., m.w.H.; ohne konsistente Entscheidungskalküle würden sich Entscheidungen sprunghaft und unbeständig gestalten, den Eindruck von Widersprüchlichkeit und Inkonsistenz vermitteln und zudem nicht auf die Beachtung des maßgebenden gesetzlichen Kalküls hin überprüfbar sein.
- 14 Vgl. dazu Jabloner, Richterrecht als Rechtsquelle?, in: Jabloner et al. (Hrsg.), GS Robert Walter, 2013, 185, 189.
- 15 Rechtsinformation des Bundes in Österreich, beim Bundeskanzleramt etabliert.
- 16 So § 17 VwGG und § 13a VfGG.
- 17 Zum «Verbundcharakter» höchstrichterlicher Rechtsprechung vgl. Albers, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, in: VVdStRL Bd 71, 2012, 258, 287 ff.
- 18 Näher dazu Öhlinger/Potacs, EU-Recht und staatliches Recht, 20145, 174 ff.; Albers, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, in: VVdStRL Bd 71, 2012, 258, 266 ff., 279 ff. Rosas, The European court of Justice in Context: Forms and Patterns of Judicial Dialog, EJLS 2007, 1, 2.
- 19 Wiedergegeben wird in der Regel jedenfalls der Tenor des EuGH-Urteils.
- 20 Vgl. dazu Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 20137, Rz. 235 ff., wobei in Deutschland allerdings doch eine Inklination zur Einstufung des «Richterrechts» als Gewohnheitsrecht besteht.
- 21 Vgl. Jabloner, Richterrecht als Rechtsquelle?, in: Jabloner et al. (Hrsg.), GS Robert Walter, 2013, 185, 195.
- 22 Vgl. dazu wiederum Jabloner, Richterrecht als Rechtsquelle?, in: Jabloner et al. (Hrsg.), GS Robert Walter, 2013, 185, unter Hinweis insbesondere auf Walter, Die Gewohnheit als rechtserzeugender Tatbestand, ÖJZ 1963, 225, Walter, Das Bundesgesetz über den Obersten Gerichtshof, JBl 1969, 174, und Walter, Über einen Versuch zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Bindung des Obersten Gerichtshofes an seine Judikate, JBl 1970, 188.
- 23 Bezüglich des Erfordernisses, bei einer (gegebenenfalls noch näher qualifizierten) Abweichung von der bestehenden Judikatur (die naturgemäß in Rechtssätzen Niederschlag findet) im Wege eines verstärkten Senates zu entscheiden, vgl. etwa § 13 VwGG; bezüglich einer «quasi erga omnes»-Wirkung von Entscheidungen des EuGH vgl. etwa Schima in: Mayer/Stöger (Hrsg.), Kommentar zu EUV und AEUV, Art. 267 AEUV, Rz. 197 ff. (2012), und Schwarze in Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 20092, Art. 234 EGV, Rz. 64 ff. Vgl. ferner § 87 Abs. 2 VfGG.
- 24 Vgl. Rebhahn, Auf der Suche nach der ratio decidendi, in: Jabloner et al. (Hrsg.), Vom praktischen Wert der Methode. FS Heinz Mayer, 2011, 575, insbesondere 587; vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 20137, Rz. 235 ff.
- 25 Auch der VfGH sieht sich offenbar an seine bisherige Judikatur in neuen Fällen ohne diesbezügliche explizite Anordnung gebunden, vgl. Jabloner, Richterrecht als Rechtsquelle?, in: Jabloner et al. (Hrsg.), GS Robert Walter, 2013, 185, 189.
- 26 Die Rechtssätze sind offenbar die quantitative Hauptquelle der Rechtsanwendung, vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 20137, Rz. 235. Differenziert zum Folgenden etwa Schönberger, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, in: VVdStRL Bd 71, 2012, 298, 315 ff.
- 27 Im Ergebnis offenbar auch Clemens Jabloner, wenn er davon spricht, dass Rechtssätze war normative Akte verminderter Intensität ohne Befolgungsanspruch darstellen, aber mit einem verfahrensrechtlich sanktionierten Anspruch auf Befolgung und derart als eine «Art starker Empfehlung» auftreten, vgl. Jabloner, Richterrecht als Rechtsquelle?, in: Jabloner et al. (Hrsg.), GS Robert Walter, 2013, 185, 198.
- 28 Vgl. Mayer, Durchsetzung (Exekution) verfassungsgerichtlicher Erkenntnisse, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), Das verfassungsgerichtliche Verfahren in Steuersachen, 2010, 41, 47 ff. (im Kontext des «Kärntner Ortstafelstreites»). In diese Richtung schon Fasching, Zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Bindung des Obersten Gerichtshofes an seine Grundsatzentscheidungen, in Fasching et al. (Hrsg.), FS Hans Schima, 1969, 133. Auf Tessar, Der Stufenbau nach der rechtlichen Autorität und seine Bedeutung für die juristische Interpretation, 2010, kann im vorliegenden Zusammenhang nicht eingegangen werden.
- 29 Siehe näher Rebhahn, Auf der Suche nach der ratio decidendi, in: Jabloner et al. (Hrsg.), Vom praktischen Wert der Methode. FS Heinz Mayer, 2011, 575, insbesondere 587.
- 30 Damit ist es dann auch vorzuziehen, in der Begründung der neuen Fallentscheidung die einem Rechtssatz zu Grunde liegende Entscheidung selbst, nicht aber bloß den Rechtssatz (etwa mit einer Rechtssatznumer) zu zitieren.
- 31 Handstanger, Rechtssätze und Judikaturlinien, in: Schweighofer (Hrsg.), Semantisches Web und Soziales Web im Recht, 2009, 263 ff.
- 32 Vgl. wiederum Handstanger, Rechtssätze und Judikaturlinien, in: Schweighofer (Hrsg.), Semantisches Web und Soziales Web im Recht, 2009, 263 ff., sowie den Hinweis bei Jabloner, Richterrecht als Rechtsquelle?, in: Jabloner et al. (Hrsg.), GS Robert Walter, 2013, 185, 191 (FN 31).
- 33 OGH (vgl. § 502 ZPO) und VwGH (Art. 133 Abs. 4 B-VG) sind in diesem Sinn auf die Lösung grundsätzlicher Rechtsfragen ausgerichtet, der VfGH kann (dem vergleichbar) im Bescheidbeschwerdeverfahren die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn die Lösung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist oder die Beschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat (Art. 144 Abs. 2 B-VG).
- 34 Siehe Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 20137, Rz. 218; Kelsen, Reine Rechtslehre, 19602, 393 f.
- 35 Vgl. dazu die freilich für einem ganz anderen Zusammenhang entwickelten Überlegungen von Mitterer, Das Jenseits der Philosophie, 2011, etwa 58 ff., 76 f.; vgl. auch Mitterer, Die Flucht aus der Beliebigkeit, 2011, sowie dazu Riegler/Weber, Kritische Beiträge zu Josef Mitterers Non-Dualismus, 20112.
- 36 Die Entscheidungen der Gerichte und einer Reihe anderer Behörden sind samt Rechtssätzen im RIS abrufbar, weshalb Zugangsprobleme dieser Auseinandersetzung grundsätzlich nicht entgegenstehen.
- 37 AA offenbar Jabloner, Richterrecht als Rechtsquelle?, in: Jabloner et al. (Hrsg.), GS Robert Walter, 2013, 195.