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Organisierter Briefwahlbetrug – eine europäische Realität.

Eine Analyse anhand von Beispielen aus dem UK und aus Bayern

  • Authors: Birgit Schenk / Robert Müller-Török
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: E-Democracy
  • Collection: Conference Proceedings IRIS 2015
  • Citation: Birgit Schenk / Robert Müller-Török, Organisierter Briefwahlbetrug – eine europäische Realität., in: Jusletter IT 26 February 2015
Die deutschsprachige Literatur zu e-Democracy und generell zu Wahlen kennt Wahlbetrug und insbesondere organisierten Wahlbetrug nur aus anderen Kontinenten; in Kontinentaleuropa sind es in der Eigenwahrnehmung stets Einzelfälle, bspw. der Bürgermeister aus Unterrabnitz-Schwendgraben, der bei den letzten burgenländischen Landtagswahlen bundesweite Bekanntheit erreichte. Im UK hingegen gibt es seit über 10 Jahren eine Häufung von derartigen Fällen, meist innerhalb geschlossener Gemeinden, die auch zu einer entsprechenden Rechtsprechung, Polizeimaßnahmen und einer adäquaten wissenschaftlichen Aufarbeitung führte. In den letzten Wochen wurde der Fall einer – noch nicht strafrechtlich verurteilten – Lokalpolitikerin bekannt, der dazu führte, dass die Stadtrats- und Bürgermeisterwahl in Geiselhöring vom 16. März 2014 für ungültig erklärt wurde und nun im Februar 2015 wiederholt wird. Organisierter Wahlbetrug passt nicht zum Selbstbild von Österreich und Deutschland – es ist an der Zeit, einzusehen, dass Distanzwahlverfahren generell dieses Problem in sich tragen. Beim e-Voting ist es bekannt und wird diskutiert, bei der Briefwahl bislang nicht. Die hier aufgezeigten Mechanismen, insbesondere die im Fall Geiselhöring angewandten, haben unmittelbare Auswirkung auf unsere etablierten und für sicher angesehenen Briefwahlverfahren. Der Beitrag analysiert die tw. bereits bekannten Schwächen der Briefwahl und anderer Distanzwahlverfahren und belegt die mögliche Wirkung von organisiertem Wahlbetrug. Lösungsansätze werden aufgezeigt.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Betrugsmöglichkeiten bei Präsenzwahl im Wahllokal
  • 3. Betrugsmöglichkeiten bei der Distanzwahl anhand des Falles Geiselhöring
  • 4. Geeignete Maßnahmen zur Verhinderung von Briefwahlbetrug
  • 5. Schlussfolgerung

1.

Einleitung ^

[1]
Wahlbetrug ist ein Begriff, der in unseren etablierten westeuropäischen Demokratien im Selbstbild faktisch nicht vorkommt. Meistens wird er mit irgendwelchen außereuropäischen oder äußerst osteuropäischen Staaten assoziiert. Betätigt man einschlägige Suchmaschinen wie bspw. Google und gibt die Suchbegriffe «Wahlbetrug» und «Österreich» oder «Deutschland» ein, so sind die Treffer meistens Webseiten von Privatpersonen, die man gerne unter «Verschwörungstheoretiker» subsumiert1. Offiziell, d.h. in den Publikationen von Verwaltung und etablierter Politik kommt Wahlbetrug bei uns faktisch nicht vor2. Im Vereinigten Köngreich von Großbritannien und Nordirland (UK) ist es hingegen anders: Hier gibt es regelmäßig Publikationen zum Thema Wahlbetrug, jüngst den Report «Electoral fraud in the UK – Final report and recommendations» der Electoral High Commission, der im Januar 2014 veröffentlicht wurde3. Dahinter steht eine lange Tradition der kritischen Analyse der eigenen Wahlprozesse, u.a. der beeindruckende Bericht von Isobel White und Charley Coleman, der die gesamte Historie der versuchten und erfolgreichen Manipulationen bei der Briefwahl im UK aufarbeitet4. Der weiterführende Report über die Wahlbetrugsfälle zwischen 2010 und 2014 ist ebenso erschreckend5. Wie bereits erwähnt, eine derart systematische Aufarbeitung der Vorfälle in Deutschland bzw. Österreich ist uns nicht bekannt.

2.

Betrugsmöglichkeiten bei Präsenzwahl im Wahllokal ^

[2]
Wahlbetrug im Wahllokal bedeutet in erster Linie dass Personen wählen, die fälschlicherweise in das Wählerverzeichnis aufgenommen wurden oder dass die Wählerverzeichnisse inkonsistent sind, d.h. mehrfache Stimmabgabe in mehreren Wahllokalen möglich ist. Es müssen also folgende Bedingungen erfüllt sein:
  • Die Wählerverzeichnisse müssen Doubletten enthalten. Dies kann wenigstens für Deutschland nicht ausgeschlossen werden, da in Deutschland kein bundesweites abgestimmtes Wählerverzeichnis existiert. Ebenso wenig existiert ein bundesweit einheitliches Einwohnerregister. Versuche, ein sogenanntes Bundesmelderegister einzurichten, scheiterten bislang. Somit kann denklogisch nicht ausgeschlossen werden, dass in den ca. 5‘500 dezentralen Einwohnermelderegistern Doubletten existieren6. Dass die Volkszählung 2011 insgesamt 1,5 Millionen weniger ergab als bislang angenommen, ist ein starkes Indiz dafür, dass die Verzeichnisse Fehler beinhalten7. Auch in Österreich sind fehlerhafte Wählerverzeichnisse reale Phänomene, sie führten bspw. zur Aufhebung der ÖH-Wahl 2009 an der Universität Salzburg8.
  • Mangelhafte Kontrollen der Ausweise in den Wahllokalen. In den erwähnten Reports für das UK ist eine Ausweispflicht als ausdrückliche Empfehlung ausgesprochen (Electoral offences since 2010, a.a.O., S. 8), aus meiner eigenen Erfahrung in München seit 2009 muss ich leider sagen, dass mein Ausweis kein einziges Mal kontrolliert wurde. Diese persönliche Beobachtung deckt sich mit der Zeitungsberichterstattung.9
[3]

Allerdings ist diese Betrugsform aus einem einfachen Grund vernachlässigbar: Auf diesem Weg kann keine massive Verfälschung der Wahl erfolgen, einfach weil logistisch zu aufwändig. Hier in einem Wahlkreis 20 oder mehr falsche Wähler einzuschleusen, erscheint zu risikobehaftet für potenzielle Betrüger. Die Distanzwahl ist hier viel interessanter.

3.

Betrugsmöglichkeiten bei der Distanzwahl anhand des Falles Geiselhöring ^

[4]

Soweit man den offiziellen Quellen entnehmen kann10, «waren zum Zeitpunkt der Wahlen zahlreiche osteuropäische Unionsbürger in der Stadt Geiselhöring mit Hauptwohnsitz gemeldet, die bei den Kommunalwahlen mit abgestimmt haben». Hierbei handelte es sich der Presse nach um ca. 450 Erntehelfer, die zuerst mit Hauptwohnsitz angemeldet wurden und danach ihre Stimme per Briefwahl abgaben11. Weiters «Konkret haben an der Briefwahl 85 Personen teilgenommen, die für die Kommunalwahl im Landkreis Straubing-Bogen nicht stimm- und wahlberechtigt waren. Zudem haben 10 Personen nach eigenen Angaben nicht an der Wahl teilgenommen, obwohl für sie im Wahlscheinverzeichnis ein Abstimmungsvermerk enthalten ist»12.

[5]

Gemäß Bayerischem Wahlrecht ist das Wahlrecht nicht zwingend an den Hauptwohnsitz gebunden. Art. 1 des Gesetzes über die Wahl der Gemeinderäte, der Bürgermeister, der Kreistage und der Landräte (Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz – GLKrWG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. November 2006 bestimmt

«(1) Wahlberechtigt bei Gemeinde- und Landkreiswahlen sind alle Personen, die am Wahltag
  1. Unionsbürger sind,
  2. das 18. Lebensjahr vollendet haben,
  3. sich seit mindestens zwei Monaten im Wahlkreis mit dem Schwerpunkt ihrer Lebensbeziehungen aufhalten,
  4. nicht nach Art. 2 vom Wahlrecht ausgeschlossen sind.

[...]

(3) 1 Der Aufenthalt mit dem Schwerpunkt der Lebensbeziehungen wird dort vermutet, wo die Person gemeldet ist. 2 Ist eine Person in mehreren Gemeinden gemeldet, wird dieser Aufenthalt dort vermutet, wo sie mit der Hauptwohnung gemeldet ist. 3 Bei der Berechnung der Frist nach Abs. 1 Nr. 3 wird der Tag der Aufenthaltsnahme in die Frist einbezogen».

[6]
Paragraph 1 der Wahlordnung für die Gemeinde- und die Landkreiswahlen (Gemeinde- und Landkreiswahlordnung – GLKrWO) vom 7. November 2006 präzisiert dies:
«Der Schwerpunkt der Lebensbeziehungen Verheirateter, die nicht dauernd getrennt von ihrer Familie leben, ist regelmäßig die vorwiegend benutzte Wohnung der Familie; das gilt ebenso für eingetragene Lebenspartnerschaften und für Unverheiratete, die bei ihrer Familie wohnen. 2 Im Übrigen ist der Schwerpunkt der Lebensbeziehungen regelmäßig am Ort der Wohnung, von der aus eine Person ihrer Erwerbstätigkeit oder ihrer Ausbildung nachgeht.»
[7]
Womit die osteuropäischen Erntehelfer das Wahlrecht durchaus legal innegehabt haben könnten, eine Meldung mit Hauptwohnsitz ist u.E. nicht erforderlich, dass gem. leg. cit. diese Personen hier der Erwerbstätigkeit nachgehen ist bei Erntehelfern wohl unstrittig.
[8]
Im Gegensatz zum UK, wo häufig das mangelnde Meldewesen und daraus abgeleitet zwangsläufig fehleranfällige Wählerverzeichnisse als Hauptursache benannt werden, ist in Geiselhöring trotz eines funktionierenden Meldewesens dem Betrug Tür und Tor geöffnet: Hier ist nicht der Eintrag ins Wählerverzeichnis das Problem, sondern
  • dass es möglich war, Briefwahlunterlagen für diese Personen anzufordern,
  • diese ohne Mitwirkung der Wahlberechtigten auszufüllen
  • an die Wahlbehörde zurückzusenden
  • wo sie offenbar nach unzureichenden Prüfungen gewertet wurden13.
[9]
Wie wir den erwähnten Berichten aus dem UK entnehmen können, ist es nicht unüblich, dass Kandidaten mehrere Personen bei sich zuhause als Wähler registrieren. Ebenso ist es nicht unüblich, dass die betroffenen Personen nichts davon wissen, dass sie als Wähler registriert sind. Da es bei Distanzwahlverfahren wie der Briefwahl vergleichsweise einfach möglich ist, für Dritte Wahlunterlagen anzufordern, auszufüllen und diese unerkannt ins Wahlergebnis einfließen zu lassen, kann festgehalten werden, dass die Briefwahl für Wahlbetrug gegenüber der Präsenzwahl erheblich geeigneter ist.

4.

Geeignete Maßnahmen zur Verhinderung von Briefwahlbetrug ^

[10]
Aus unserer Sicht ergeben sich folgende Maßnahmen mit Rücksicht auf den deutschsprachigen Raum, d.h. unter der Annahme stehender Einwohnermelderegister:
  • Laufende Pflege der Einwohnermelderegister und Datenaustausch auf EU-Ebene; der Fall Giovanni di Lorenzo hat deutlich gezeigt, dass hier Handlungsbedarf besteht14
  • Harmonisierung der Anforderungen an Wahlberechtigte, bspw. eine dreimonatige Hauptwohnsitzmeldung als Voraussetzung für die Ausübung des Wahlrechts
  • Persönliche Anforderung der Briefwahlunterlagen, in jedem Fall mit Ausweispflicht und belastbarer Identitätsprüfung
  • Vorzugsweise sofortige Wahl bei Übergabe der Briefwahlunterlagen – dass es faktisch nicht möglich ist, erhaltene Briefwahlunterlagen dahingehend zu prüfen, ob die Unterschrift echt ist, haben Stein und Müller-Török nachgewiesen.15

5.

Schlussfolgerung ^

[11]
Uns ist klar, dass hier erheblicher Forschungsbedarf und politischer Diskussionsbedarf besteht. In Anbetracht der Tatsachen, dass Wahlbetrug auch in Österreich und Deutschland mittlerweile ein reales Phänomen ist und in Anbetracht immer knapperer Wahlergebnisse16 muss zuerst allgemein akzeptiert werden, dass unsere Demokratien, unsere Wahlsysteme hier ein Problem haben. Dieses Problem heißt Briefwahl.

 

Birgit Schenk, Professorin, Hochschule für Öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg, Reuteallee 36, 71634 Ludwigsburg, DE, schenk@hs-ludwigsburg.de

 

Robert Müller-Török, Professor, Hochschule für Öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg, Reuteallee 36, 71634 Ludwigsburg, DE, mueller-toeroek@hs-ludwigsburg.de

  1. 1 Beispielsweise https://volksbetrugpunktnet.wordpress.com/2013/09/24/erste-nachweise-fur-wahlbetrug-in-deutschland-bundestagswahl-2013-punktuell-manipuliert-immer-mehr-ungereimtheiten-medien-haben-offensichtlich-kein-interesse-an-einer-berichterstattung/, wobei volksbetrug.net ein auf wordpress.com außerhalb des EU-Rechtsraumes gehostetes Blog ist, welches kein Impressum angibt. Die Domain ist auf einen gewissen David Kowalski in Bern registriert, siehe http://www.tucowsdomains.com/whois (per 27. Dezember 2014).
  2. 2 Trotz langjähriger Befassung mit dem Thema und regelmäßigen Austausch mit der einschlägigen Scientific Community ist uns keine wissenschaftliche Arbeit zum Thema bekannt. Auch der Wahlabteilung des BMI ist kaum ein Fall von Wahlbetrug bekannt, der zu Verurteilungen geführt hätte.
  3. 3 Der gesamte Report ist unter http://www.electoralcommission.org.uk/__data/assets/pdf_file/0008/164609/Electoral-fraud-review-final-report.pdf erhältlich (per 27. Dezember 2014).
  4. 4 Postal voting and electoral fraud 2001–2009, Isobel White, SN/PC/3667 vom 14. März 2012, Library of the House of Commons, erhältlich unter http://www.parliament.uk/briefing-papers/SN03667/postal-voting-and-electoral-fraud-200109 (per 27. Dezember 2014).
  5. 5 Electoral offences since 2010, Isobel White, SN/PC/06255 vom 29. Juli 2014, Library of the House of Commons, erhältlich unter http://www.parliament.uk/briefing-papers/SN06255/electoral-offences-since-2010 (per 27. Dezember 2014).
  6. 6 Das Statistische Bundesamt verfügte per 2012 nicht einmal über eine gratis downloadbare Liste der Einwohnermeldeämter, vgl. hierzu den Dialog https://fragdenstaat.de/anfrage/liste-aller-einwohnermeldeamter/ (per 27. Dezember 2014).
  7. 7 Vgl. https://www.zensus2011.de/SharedDocs/Aktuelles/Pressemitteilung_des_Statistischen_Bundesamtes.html (per 27. Dezember 2014).
  8. 8 Vgl. http://www.heise.de/newsticker/meldung/E-Voting-Salzburger-OeH-Wahl-aufgehoben-910465.html (per 27. Dezember 2014).
  9. 9 Vgl. http://www.taz.de/!39929/ (per 27. Dezember 2014).
  10. 10 Siehe v.a. die offizielle Kommunikation des Landratsamtes unter http://www.landkreis-straubing-bogen.de/aktuelles.asp?naviid={95912A9D-1020-40D4-9230-CDACB6735023}&ORGID={037E2D29-958F-4E41-85A0-57B271E50413} (per 27. Dezember 2014).
  11. 11 Siehe http://www.sueddeutsche.de/bayern/wahlskandal-in-niederbayern-stimmvieh-auf-dem-spargelhof-1.2135161 (per 27. Dezember 2014).
  12. 12 Siehe Landratsamtsquelle, Fn. 11.
  13. 13 Darum empfiehlt die Association of Chief Police Officers gemeinsam mit der Electoral Commission dringend «mandatory checking of 100 % of all returned postal voting statements», siehe Analysis of cases of alleged electoral malpractice in 2010, S. 10 (downloadbar unter http://www.electoralcommission.org.uk/__data/assets/pdf_file/0013/109012/Integrity-report-FINAL-no-embargo.pdf, per 28. Dezember 2014).
  14. 14 Für eine Analyse siehe Hugo Müller-Vogg, «Das neue deutsche Zwei-Klassen-Wahlrecht», in Cicero – Magazin für Politische Kultur, 29. Mai 2014.
  15. 15 Siehe Robert Müller-Török und Robert Stein, «Die Europäische Bürgerinitiative aus Sicht nationaler Wahlbehörden: Probleme der Verifikation von Unterstützungserklärungen in der Praxis», in: VERWALTUNG UND MANAGEMENT, 5/2010.
  16. 16 Vgl. Robert Müller-Török, «Neue Anforderungen an Wahlbehörden und -systeme im Zeitalter knappster Mehrheiten, mehrfacher Staatsangehörigkeiten und Wohnsitze»; in: Tagungsband des 17. Internationalen Rechtsinformatik Symposions – IRIS 2014, ISBN 978-3-85403-302-8, 20.–22. Februar 2014, Salzburg.