Selbst wenn in der politischen Diskussion immer wieder Ansätze aufscheinen mögen, das Wahlrecht vom Institut der Staatsbürgerschaft zu lösen und auch Fremden mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland zuzuerkennen (Ausländerwahlrecht), so zeigt doch eine Analyse der zentralen menschenrechtlichen Bestimmungen (Art. 21 AEMR, Art. 25 IPBPR, Art. 3 1. ZP EMRK) ebenso wie jüngste rechtspolitische Entwicklungen auf nationaler1 wie EU-Ebene2, dass das vorherrschende Paradigma nach wie vor eine Koppelung von Staatsbürgerschaft und Wahlrecht ist.
Nun ist zwar Internet-Voting durchaus seit 20 Jahren ein Thema und seit einem Jahrzehnt existiert dazu die Empfehlung des Europarates Rec(2004)116. Auffällig ist, dass gleichwohl seit dieser Zeit Internet-Voting keineswegs einen Siegeszug angetreten hat: vielmehr ist mit Ausnahme von Estland und – mit großen Einschränkungen – der Schweiz die Entwicklung der letzten Jahre durch eine Kette von Fehlschlägen gekennzeichnet. Sieht man näher hin, dann zeigt sich jedoch, dass diese Fehlschläge nicht das Instrument Internetwahlen in seiner Substanz diskreditiert haben, sondern andere Faktoren dafür verantwortlich sind.
In Großbritannien wurde eVoting (neben Internet-Voting umfassend auch andere Formen von eVoting, etwa Kiosksysteme) nach einer Empfehlung der Electoral Commission7 eingestellt. Zuvor waren massive technische und organisatorische Mängel festgestellt worden.8 In Finnland endete der Internet-Voting-Pilot mit einer Aufhebung des diesbezüglichen Teils des Wahlergebnisses, nachdem 232 Stimmen «verschwanden».9 In Österreich wurde das Internet-Voting-Experiment bei den ÖH-Wahlen 2009 aufgrund technischer und rechtlicher Probleme 2011 vom VfGH10 aufgehoben.11 Ein Einsatz von Wahlmaschinen in Deutschland wurde vom Bundesverfassungsgericht 2009 aufgehoben.12
Klarerweise sind die bisher zum Einsatz gekommenen Systeme technisch einfacher zu implementieren19 als Verfahren, die die Anonymisierung der Stimme vor deren Einbringen in die elektronische Wahlurne bewerkstelligen, da letztere entweder auf komplexen mathematischen Verfahren (wie etwa homomorphe Verfahren) oder Token basieren. Hinzu kommt, dass bei der Implementierung der dabei verwendeten Verfahren i.d.R. nicht auf kryptographische Standardbibliotheken zurückgegriffen werden kann.
Nun hat schon Punkt 17 der Rec(2004)11 empfohlen:
The e-voting system shall guarantee that votes in the electronic ballot box and votes being counted are, and will remain, anonymous, and that it is not possible to reconstruct a link between the vote and the voter.
Die Rec(2004)11 ist also jedenfalls in diesem Punkt – selbstverständlich aber auch in anderen20 – überarbeitungsbedürftig. Eine zentrale Schwäche ist dabei Annex III.21 Dieser ist zwar im «Stile» eines Common Criteria22 Schutzprofils verfasst (vgl. etwa die Definition eines Target of Evaluation in Figure 2 oder die explizite Listung der «Threats», gegen die man sich zur Wehr setzen soll); allerdings ist damit noch nicht gesagt, ob dies tatsächlich den formalen Ansprüchen eines Schutzprofils entspricht und wenn ja, welcher Evaluierungsebene.23 Vor allem aber ist dieser schutzprofilartige Text nicht als solches zertifiziert und ermöglicht es daher nicht, konkrete Softwaresysteme gegen ein solches Schutzprofil zu prüfen und zertifizieren zu lassen. Dies ist eine strukturelle Schwäche von Rec(2004)11, die dieser an sich sehr hilfreichen und detailreichen Empfehlung viel von ihrer tatsächlichen Anwendbarkeit nimmt.
Alexander Balthasar, Leiter des Instituts für Staatsorganisation und Verwaltungsreform im Bundeskanzleramt, Privatdozent an der Karl-Franzens-Universität Graz, Ballhausplatz 1, 1010 Wien, AT, Alexander.balthasar@bka.gv.at; http://www.bka.gv.at/site/7764/default.aspx
Alexander Prosser, Professor, WU Wien, Department für Informationsverarbeitung und Prozessmanagement, Welthandelsplatz 1, 1020 Wien, AT, alexander.prosser@wu.ac.at; http://e-voting.at
- 1 Vgl. § 29 Abs. 1a des deutschen Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) i.d.F. dBGBl I 2014, 1714 (Entfall der Optionspflicht für bestimmte Fremde, mit der Wirkung vermehrter Doppelstaatsbürgerschaft).
- 2 Ausdrückliche Festschreibung in Art. 14 Abs. 2 EUV, dass sich das Europäische Parlament «aus Vertretern der … Unionsbürger» zusammensetzt, was dem früheren Befund des EuGH (in seinem Urteil vom 12. September 2006 [Große Kammer], C-145/04, Spanien v. VK, Rz 70 ff.), dass die Gewährung des Wahlrechts zum EP an nicht-Unionsbürger nicht rechtswidrig sei, wohl obsolet gemacht hat.
- 3 Urteil vom 7. Mai 2013, Nr. 19840/09, Shindler, und Urteil vom 15. März 2012 (Große Kammer), Nr. 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos.
- 4 Siehe Shindler, Rz 73.
- 5 Siehe Lindqvist, Rz 68 und davor.
-
6
https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?Ref=CM/Del/Dec%282004%29898/1.5b&Language=lanEnglish&Ver=original&Site=COE&
BackColorInternet=DBDCF2&BackColorIntranet=FDC864&BackColorLogged=FDC864. -
7
Electoral Commission, May 2007 electoral pilot schemes, Key issues and conclusions, Download: http://www.electoralcommission.org.uk/__data/assets/electoral_commission_pdf_file/0015/13218/
Keyfindingsandrecommendationssummarypaper_27191-20111__E__N__S__W__.pdf. -
8
Findings of the Open Rights Group Election Observation Mission in Scotland and England Download https://www.openrightsgroup.org/campaigns/e-voting/e-voting-2007/e-voting-main. Arctica Consulting, Technical Evaluation of Rushmoor Borough Council e-voting Pilot 2007, http://www.electoralcommission.org.uk/__data/assets/electoral_commission_pdf_file/
0019/16192/Actica_Rushmoor_27248-20137__E__N__S__W__.pdf. - 9 Antti Vähä-Sipilä, A Report on the Finnish E-Voting Pilot, Electronic Frontier Finland, https://www.verifiedvoting.org/wp-content/uploads/2014/09/Finland-2008-EFFI-Report.pdf und https://effi.org/blog/2009-04-09-EVoting-Supreme-Admin-Court.html.
- 10 VfSlg 19.592.
- 11 Vgl. Balthasar/Prosser, E-Voting in der «sonstigen Selbstverwaltung» – Anmerkungen zum Beschluss des VfGH vom 30. Juni 2011, B 1149, und zum Erkenntnis des VfGH vom 13. Dezember 2011, V 85–96 in: JRP 20 (2012) 47 ff.
-
12
Urteil 2 BvC 3/07, 2 BvC 4/07 vom 3. März 2009, http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2009/03/cs20090303_
2bvc000307.html. - 13 http://www.poureva.be/spip.php?article12&lang=fr.
- 14 http://www.pcworld.com/article/2159260/software-bug-disrupts-evote-count-in-belgian-election.html und http://www.vooreva.be/?lang=fr.
- 15 http://brf.be/nachrichten/regional/755205/.
- 16 http://brf.be/nachrichten/regional/757654/.
- 17 http://www.digitaljournal.com/news/politics/norway-end-e-voting-experiment/article/388041 und http://www.bbc.com/news/technology-28055678.
- 18 Vgl. dazu die Darstellung in Balthasar/Prosser, JRP 20 (2012), 74 f.
- 19 Anhand eines Mixers lässt sich dies einfach darstellen: man setze vor eine Liste von Stimmen jeweils eine Zufallszahl und sortiere die Liste nach dieser Zufallszahl – technisch einfachst zu implementieren, aber es lässt sich auf diese Art natürlich eine technisch abgesicherte Anonymisierung nicht erzielen (die ursprüngliche Liste der Stimmen konnte ja vor dem Mixen abgespeichert werden).
- 20 Man denke nur an den technischen Fortschritt in der Informationstechnik; so gab es 2004 noch nicht die App-basierten Smartphones im heutigen Ausmaß.
-
21
https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?Ref=CM%282004%29156&Language=lanEnglish&Ver=add&Site=COE&BackColorInternet=
DBDCF2&BackColorIntranet=FDC864&BackColorLogged=FDC864. - 22 ISO/IEC-Standard 15408, siehe https://www.commoncriteriaportal.org/.
- 23 Vgl. dazu http://www.commoncriteriaportal.org/files/ccfiles/CCPART3V3.1R4.pdf, Seite 31.
- 24 Siehe Shindler, Rz 57.