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Politikwissenschaftliche Aspekte von Online-Wahlhilfen

Wie smartvote und ähnliche Webseiten das Wählen verändern

  • Author: Andreas Ladner
  • Category: Articles
  • Region: Switzerland
  • Field of law: E-Democracy, E-Government
  • Citation: Andreas Ladner, Politikwissenschaftliche Aspekte von Online-Wahlhilfen, in: Jusletter IT 25 May 2016
Voting Advice Applications (VAAs) point out to voters which parties and candidates are politically closest to them. Such websites have become increasingly popular in recent years, and studies show that they have an impact on elections and their outcome. From a political scientist perspective, these websites have impacton the very nature of democracy. New opportunities meet challenges. The article calls for transparency as far as the providers of these websites und their functioning is concerned, and implies, that their implications need a broader attention. Voters have to learn how to use the recommendations issued by VAAs. Only then can they lead to better voting. (ah)

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Online-Wahlhilfen und ihre Anbieter
  • 2. Wachsende Popularität
  • 3. Einfluss und Wirkungen
  • 4. Chancen und Risiken
  • 4.1. Umfassender und besserer Überblick über das Angebot
  • 4.2. «Demokratisierung» auf Seiten des Angebots
  • 4.3. Attraktive und zeitgemässe Auseinandersetzung mit Politik
  • 4.4. Issues gewinnen gegenüber Parteiprogrammen und anderen Entscheidungsgrundlagen an Bedeutung
  • 4.5. Parteien werden in Frage gestellt
  • 4.6. Ausgewogenheit, Gefahr der unrechtmässigen Beeinflussung und der Manipulation
  • 4.7. Wahlversprechen und das «freie» Mandat
  • 5. Ausblick und Handlungsbedarf

1.

Online-Wahlhilfen und ihre Anbieter1 ^

[1]
In der international vergleichenden Forschung werden Online-Wahlhilfen «Voting Advice Applications» (VAAs) genannt. Ziel dieser Webseiten ist es, den Wählenden aufzuzeigen, welche Partei ihren politischen Präferenzen am nächsten steht. Technisch basieren die Webseiten auf einer Datenbank, in der die zur Wahl stehenden politischen Parteien und Kandidierenden mit ihrem politischen Profil erfasst sind. Erstellt werden diese Profile aufgrund ihrer Einstellungen und Positionen zu allgemeinen politischen Problemen und zu konkreten politischen Sachfragen. Die Wählenden respektive die Benutzerinnen und Benutzer lassen sich, wenn sie auf eine solche Seite gehen, ebenfalls ein politisches Profil erstellen. Dazu nehmen sie zu denselben Fragen Stellung. Danach berechnet der Computer die Übereinstimmung zwischen ihrem Profil und den verschiedenen Profilen der Parteien und Kandidierenden und zeigt auf, wie gross die Gemeinsamkeiten sind. Der Benutzer, die Benutzerin erfährt, welche Parteien und welche Kandidierenden ihm bzw. ihr politisch am nächsten stehen. Wie man mit diesen Angaben umgeht, ist einem selbst überlassen. Naheliegend ist jedoch die Vorstellung, dass sich die Wählenden in der Regel von Parteien und Kandidierenden vertreten lassen möchten, die ihnen politisch möglichst ähnlich sind. Entsprechend kann die Liste mit den Übereinstimmungswerten auch als «Wahlempfehlungen» verstanden werden.
[2]

Die bekannteste Wahlhilfe-Plattform in der Schweiz ist www.smartvote.ch. Smartvote existiert bereits seit 2003. Bis Ende 2015 kam die Plattform schweizweit bei vier nationalen, ungefähr 45 kantonalen und 35 lokalen Wahlen zum Einsatz. Seit dem Wahljahr 2011 wird bei den nationalen Wahlen neben smartvote mit www.vimentis.ch eine ähnliche, aber deutlich weniger bekannte Webseite angeboten. Als Pionierland dieser Plattformen gelten die Niederlande, wo den Wählerinnen und Wählern mit dem «Stemwijzer» bereits 1989 eine erste solche Wahlhilfe – allerdings als Papierversion – angeboten wurde. Auf die Print-Version folgte 1998 die erste Online-Version. Mittlerweilen gibt es in den Niederlanden auch andere Wahlhilfen, so z.B. «Kieskompas». In Deutschland heisst das Pendant dazu «Wahl-O-Mat», das seit den Bundestagswahlen 2002 zum Einsatz kommt und auch bei den entsprechenden Wahlen 2005, 2009 und 2013 sowie bei zahlreichen Landtagswahlen und den Europawahlen 2004, 2009 und 2014 verwendet wurde. Die «Wahlkabine» ist ein Projekt in Österreich, welches grosse Ähnlichkeiten mit smartvote aufweist, die «Cabina Elettorale» ein italienisches. In Grossbritannien heisst die Plattform «Who-Do-I-Vote-For» und der «Doe De Stemtest» ist ein Produkt aus Belgien, welches 2003 erstmals eingesetzt wurde. Weitere solche Plattformen gibt oder gab es in Finnland, Luxemburg, Portugal sowie in Bulgarien, Kanada, Türkei oder im Irak.2 Nicht in allen Ländern habe diese Angebote dieselbe Institutionalisierung erfahren, in den Niederlanden, Deutschland und der Schweiz sind sie jedoch zu einer festen Begleiterscheinung der Wahlen geworden.

[3]

Charakteristisch für smartvote ist, dass die Plattform ganz besonders auf das relativ komplizierte Schweizer Wahlsysteme zugeschnitten ist, bei dem sich die Wählenden nicht nur für Parteien, sondern auch für die einzelnen Kandidierenden entscheiden können. Bei den Nationalratswahlen 2015 standen in der ganzen Schweiz 3'788 Kandidaten auf 422 Listen zur Auswahl. Im Kanton Zürich, dem grössten Wahlkreis, traten 873 Kandidaten auf 35 Listen zur Wahl an. Die Zürcher Wählenden konnten so eine Liste von 35 Namen mit Personen aus unterschiedlichen Parteien zusammenzustellen. Natürlich konnten sie auch eine vorgedruckte Parteiliste nehmen, sie einfach so einwerfen oder zuerst noch abändern, indem darauf Kandidierende aus anderen Parteien (Panaschieren) oder bestimmte Kandidierende doppelt (Kumulieren) aufgeführt wurden. Wollen die Wählenden all diese Wahlmöglichkeiten vollständig ausschöpfen, benötigen sie sehr weitreichende Informationen, nicht nur über die Parteien, sondern auch über die Kandidierenden. Smartvote erstellt deshalb nicht nur Parteiprofile, sondern auch Profile für jeden einzelnen Kandidaten. Ohne Computerunterstützung ist eine solche Informationsfülle nicht zu verarbeiten. Bei den Nationalratswahlen 2015 haben 84% der Kandidierenden ihr persönliches politisches Profil auf smartvote öffentlich gemacht.3

[4]
Ursprünglich entstanden sind die VAAs im universitären Umfeld in den Abteilungen der Politik-, Parteien- und Wahlforschung. Relativ schnell begannen sich auch staatliche Institutionen, vor allem aus dem Bereich der politischen Bildung, für solche Tools zu interessieren,4 und es sind mehr oder weniger enge Partnerschaften mit den Medien entstanden. Was die eigentliche Trägerschaft anbelangt, so ist dies im Falle des Wahl-O-Mats mit der Bundeszentrale für politische Bildung der Staat. Hinter smartvote steht der nicht-gewinnorientierte Verein Politools, und Kieskompas ist ein marktorientiertes Unternehmen.
[5]
Eine gewisse Nähe zur Wissenschaft und zur Forschung ist für die VAAs durchaus förderlich, da diese ihnen eine methodische und sachliche Legitimität gibt und sie auch bei der Weiterentwicklung von den Erkenntnissen der Forschung profitieren können. Das Projektteam, welches smartvote anbietet und betreut, setzt sich aus jungen Leuten zusammen, die von verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen (Zürich, Lausanne, Bern und Winterthur) kommen. Mit der Wissenschaft besteht eine enge Zusammenarbeit durch gemeinsame Forschungsprojekte.
[6]

Je nach Trägerschaft haben die verschiedenen VAAs auch unterschiedliche Geschäfts- und Finanzierungsmodelle. Sind sie nicht von einer staatlichen Institution finanziert, geschieht dies über die Medien oder allenfalls auch über Werbeeinnahmen. Die Finanzierung von smartvote setzt sich – gemäss eigenen Angaben – wie folgt zusammen: 30% werden durch Kandidierenden- und Parteienbeiträge gedeckt und etwa 30 % durch Einnahmen aus Medienpartnerschaften. Weitere 15% werden von Beiträgen, Spenden von Stiftungen, Sponsoren und Privatpersonen erbracht und rund 25% durch unentgeltliche Arbeit der Mitglieder des Projektteams. Ein durchschnittliches Jahresbudget von smartvote, welches die Begleitung mehrerer Wahlen umfasst, beläuft sich auf rund 320’000 Franken.

2.

Wachsende Popularität ^

[7]
Die Verbreitung der VAAs in den letzten Jahren ist beachtlich und ihre Bedeutung ist geradezu sprunghaft angestiegen.5 In einer grossen Zahl von Ländern werden sie von Millionen von Wählenden benutzt. Gemäss einer Umfrage von Walgrave et al.6 wurden vor ein paar Jahren bereits in mehr als drei Viertel der von ihnen untersuchten Länder internetbasierte Wahlhilfen angeboten.
[8]

Besonders gross ist ihre Popularität in den Niederlanden, wo gemäss den Ausführungen von Garzia7 Stemwijzer schon im Jahr 2006 rund 4.7 Millionen Wahlempfehlungen ausstellte, was rund 40% der niederländischen Wählerschaft entspricht. Der Deutsche «Wahl-O-Mat» startete 2002 mit 3.7 Millionen Nutzungen, bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag 2009 waren es 6.7 Millionen,8 das sind 12% der Wahlberechtigten. Bei der Bundestagswahl 2013 gehen die Betreiber von einer Nutzungsziffer von 13.3 Millionen aus.

[9]

Die Werte für smartvote in der Schweiz sind von 255’000 Wahlempfehlungen bei den nationalen Wahlen 2003 auf 963’000 Wahlempfehlungen bei den darauf folgenden Wahlen 2007 angestiegen. Bei den Wahlen 2015 wurden rund 1’340’000 Wahlempfehlungen ausgestellt, was rund der Hälfte der Wählenden und einem Viertel der Wahlberechtigten entsprechen würde. Bei diesen Werten gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass sich manche Leute mehrere Wahlempfehlungen ausstellen lassen. In wissenschaftlichen Studien wird für das Jahr 2007 von rund 300’000 bis 350’000 Benutzenden ausgegangen.9 Bei rund 2.37 Millionen Wählenden (Wahlbeteiligung 48.3%) wären das zwischen 12 und 15% der Teilnehmenden oder 5–7% der Wahlberechtigten. Eigene Berechnungen mit dem SELECTS-Datensatz für die Wahlen 2007 bestätigen diese Hochrechnungen, und weitere Auswertungen der SELECTS-Daten für die Wahlen 2011 zeigen, dass gegen 15% der Wählenden smartvote benutzt haben. Die neusten Zahlen für das Jahr 2015 belaufen sich auf 18.7% der Wählenden.

[10]

Bedenkt man, dass in vielen kleineren Kantonen die Wahlen weniger umstritten sind, respektive nur sehr wenig Kandidierende zur Wahl stehen, sodass smartvote einen geringeren Nutzen bringt, so sind die Zahlen erstaunlich hoch. Über 40% der ausgestellten Wahlempfehlungen entfallen auf die Kantone Zürich und Bern.10

[11]
Die Gründe für die zunehmende Popularität solcher Online-Wahlhilfen sind sicher zuerst einmal in der wachsenden Bedeutung und Verbreitung des Internets zu finden. In praktisch sämtlichen Lebensbereichen holt man sich Rat im Internet, da ist es nahe liegend, dass man sich dort auch über die zu wählenden Parteien und Kandidaten informiert. Deutlich gewachsen ist zudem der Bekanntheitsgrad der Wahlhilfen selbst. Die Medien gehen Partnerschaften mit den Anbietern dieser Plattformen ein. Häufig werden die Tools direkt in die Online-Plattformen der Medien integriert, um den Lesern so einen direkten Zugang zu ermöglichen. Auch die Berichterstattung über VAAs ist markant angestiegen. Dies hat mitunter damit zu tun, dass viele dieser Plattformen attraktive Visualisierungsformen anbieten, mit denen die unterschiedlichen politischen Positionierungen von Parteien und Kandidaten verdeutlicht werden können. Eine besondere Form von Unterstützung erhielt smartvote im Hinblick auf die Wahlen 2011. Am 4. Juli 2011 startete die Allgemeine Plakatgesellschaft AG (APG) eine schweizweite Plakatkampagne, welche die Wählenden zur Stimmabgabe motivieren sollte. Die Plakate forderten die Stimmberechtigten auf, smartvote zu besuchen und die Kandidierenden zu «entdecken», die am besten zu ihnen passen. Smartvote musste sich für diese Aktion lediglich an den Druckkosten beteiligen. Der um ein Vielfaches höhere Werbewert wurde von der APG getragen, die so ihre staatsbürgerliche Verantwortung publik machen wollte. Bei den Wahlen 2015 ist smartvote unter anderem mit dem Schweizer Radio und Fernsehen sämtlicher Landesteile, dem Tages-Anzeiger, der Berner Zeitung, der Neuen Luzerner Zeitung, der Südostschweiz, der Liberté und dem Nouvelliste eine Medienpartnerschaft eingegangen und konnte damit einen Teil seiner Aufwendungen decken.
[12]
Ein weiterer Grund für die wachsende Bedeutung dieser Tools ist, dass sich das Wahlverhalten geändert hat. Gemäss den Erkenntnissen der Wahlforschung reduzieren die Wählenden die Komplexität der Politik mit Hilfe von Cues and Shortcuts.11 Als alte und traditionelle Fingerzeige und Abkürzungen dieser Art galten in früheren Jahren die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, wie zum Beispiel der Arbeiterschaft oder der Katholiken, die mit einer – häufig über die Familien vermittelten – besonderen Nähe zu bestimmten politischen Parteien verbunden war. Seit den 1970er-Jahren haben die bis dazumal relativ stabilen sozialen Cleavages an Bedeutung verloren,12 was zu einem individuellerem Wahlverhalten geführt hat, welches sich stärker an politischen Präferenzen, am Leistungsausweis und am Erscheinungsbild von Kandidaten und Parteien orientiert.13 Mit dem Auflösen der Parteibindungen steigt auch der Anteil der Wechselwählenden. Die neuen Wahlplattformen nehmen diese Entwicklung direkt auf. Sie basieren auf der Idee, dass die Wählenden keine festen vorgefassten Parteibindungen haben, sondern bereit sind, ihren Wahlentscheid von einer systematischen Überprüfung der Übereinstimmung ihrer politischen Präferenzen mit denjenigen, der zur Wahl stehenden Parteien und Kandidierenden abhängig zu machen.

3.

Einfluss und Wirkungen ^

[13]
Mit der steigenden Bedeutung dieser Online-Wahlhilfen wird auch die Frage wichtig, in welchem Masse sie das Verhalten der Wählenden und letztlich den Ausgang der Wahlen beeinflussen. Hier lassen sich drei Bereiche der Beeinflussung unterscheiden:14 a) Der Einfluss auf die Art und Weise, wie die Wählenden sich Informationen über die Wahlen und die zu wählenden Parteien beschaffen und damit umgehen, b) die Auswirkungen auf die Teilnahme an Wahlen und schliesslich c) allfällige Auswirkungen auf den Wahlentscheid.
[14]

Effekte bezüglich der ersten Fragestellung, die als kognitive Effekte bezeichnet werden,15 wurden beispielsweise von Marschall und Schmidt mit Hilfe eines Surveys untersucht. Die Autoren kommen zum Schluss, dass gegen 60% der Befragten motiviert wurden, nach der Benutzung der Webseite noch mehr Informationen über die Wahlen zu suchen, und gegen 70% gaben an, dass sie mit Familienmitgliedern und Freunden über die Wahlempfehlungen sprechen würden.16 Auch für die Schweiz liegen vergleichbare Werte vor: Gegen 50% der Benutzenden gaben bei den Nationalratswahlen 2007 an, dass smartvote sie veranlasst habe, sich mehr Informationen über politische Fragen zu beschaffen, rund 55% haben sich – angeregt durch smartvote – noch zusätzlich über die Parteien und Kandidierenden informiert, und bei zwischen 60 und 70% hat die Benutzung zu weiteren Diskussionen über das Wahlangebot und über politische Probleme geführt.17 Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass solche Tools – zumindest bei den Benutzerinnen und Benutzern – das politische Interesse und das politische Wissen erhöhen, was aus demokratietheoretischer Perspektive eine wichtige Voraussetzung für die Wahrnehmung der politischen Rechte und einen korrekten Wahlentscheid ist.

[15]

Welche Auswirkungen haben VAAs auf die Wahlbeteiligung? Hat smartvote die Benutzerinnen und Benutzer angeregt, an den Wahlen teilzunehmen? Dies entspräche durchaus den Absichten der Betreiber von smartvote. Wenn man wiederum den Antworten aus den Befragungen glauben darf, so trifft dies zumindest für 15% der Befragten zu. Betrachtet man diejenigen, die 2003 nicht gewählt haben, aber bereits wählen durften, sind es sogar 41%, was darauf hindeutet, dass smartvote die Wahlbeteiligung vor allem bei den Jüngeren fördert. Da die Benutzenden von smartvote keinesfalls repräsentativ für die Gesamtheit der Wählenden sind, kann aus diesen Angaben nur geschlossen werden, dass smartvote Auswirkungen hat. Wie gross diese insgesamt sind, bleibt aufgrund solcher Befragungsdaten unklar. Vorsichtig geschätzte Hochrechnungen lassen vermuten, dass smartvote bei den Nationalratswahlen 2007 die Wahlbeteiligung zwischen 0.6 und einem Prozentpunkt gesteigert hat.18 Dass VAAs die Wahlbeteiligung fördern, konnte auch am Beispiel des Wahl-O-Mats nachgewiesen werden.19

[16]

Aus Sicht der Parteien und der Kandidierenden von grösstem Interesse ist schliesslich die Frage, ob solche Webseiten allenfalls Auswirkungen auf den Ausgang der Wahlen haben. Stützt man sich wiederum auf die Befragung der Benutzerinnen und Benutzer, so scheint es durchaus plausibel, dass die Benutzung der Webseite zu Stimmenverschiebungen führt.20 Rund 70% der Befragten geben an, dass smartvote sie in ihrem Wahlverhalten beeinflusst hat.21 Dieser Wert liegt deutlich höher als bei Studien aus Deutschland, Belgien22 und den Niederlanden. Besonders häufig beeinflusst wurden, so lässt sich weiter zeigen, die jüngeren Benutzerinnen und Benutzer, was nicht weiter erstaunt, da bei ihnen die Parteienbindungen in der Regel noch weniger ausgeprägt sind. Fragt man nach der Art und Weise der Beeinflussung, so geben rund 60% der Beeinflussten an, dass sie neu Kandidierende von anderen Listen auf ihrer Wahlliste aufgeführt hätten (Panaschieren), und nahezu 70% machen geltend, dass sie Parteien oder Kandidierende gewählt hätten, für die sie sonst nicht gestimmt hätten. Etwa ein Drittel der Beeinflussten hat aufgrund von smartvote bestimmte Kandidierende oder Parteien nicht mehr gewählt. Somit kann davon ausgegangen werden, dass smartvote gemäss den Benutzerinnen und Benutzer Auswirkungen auf ihr Wahlverhalten hatte, dabei wurde allerdings in der Regel nicht einfach die Wahlempfehlung übernommen. Lediglich 15% geben an, einfach die Liste der Kandidierenden mit den höchsten Übereinstimmungswerten auf die freie Wahlliste übertragen zu haben.

[17]
Wiederum stellt sich die Frage, wie repräsentativ die Antworten der Befragten sind und ob man den Antwortenden überhaupt Glauben schenken darf. Das Erbringen empirischer Evidenz, die auf klare Auswirkungen der VAAs auf das Wahlverhalten hindeutet, ist mit beachtlichen methodologischen Schwierigkeiten behaftet. Die Samples sind nicht repräsentativ, sodass keine Schlüsse auf die Gesamtheit der VAA-Benutzer oder gar der Stimmberechtigten gezogen werden können. Bei den Benutzenden solcher Webseiten handelt es sich um einen bestimmten – in der Regel stärker an der Politik oder an der Benutzung des Internets interessierten – Kreis der Wahlberechtigten, und auch bei den Antwortenden der verschiedenen Befragungen unter den Benutzenden, handelt es sich nicht um einen repräsentativen Ausschnitt sämtlicher Benutzerinnen und Benutzern. Methodisch haben wir es mit einer «doppelten Selbstselektionsverzerrung» zu tun.
[18]
Solche Verzerrungen sind vor allem dann von Bedeutung, wenn man etwas über das Ausmass der Auswirkungen der Tools auf den Wahlausgang sagen will. Aufgrund unserer Befragungen kann zwar davon ausgegangen werden, dass Auswirkungen vorhanden sind (schon wenn aufgrund von smartvote hundert Leute eine andere Partei wählen, kann das wahlentscheidend sein), über das genaue Ausmass der Auswirkungen ist es jedoch kaum möglich, genaue Angaben zu machen. Allfällige Verzerrungseffektive müssen mit komplizierten statistischen Modellen («Heckman selection models») kontrolliert werden.23 Hier zeigen die vorläufigen Ergebnisse, dass die Effekte durch Befragungen aufgrund der Selbst-Selektion der Teilnehmer zwar überschätzt werden, dass sie aber insgesamt bestehen bleiben.
[19]
Weitere methodische Probleme betreffen die Glaubwürdigkeit der Antworten und die Kausalität. Es könnte ja sein, dass die Befragten lediglich angeben, dass smartvote sie beeinflusst hat und dass dies nicht der Wahrheit entspricht. Dieses Problem gilt für sämtlichen Umfragen. Und auch wenn die Antwortenden nachweislich eine andere Partei gewählt haben, so kann – selbst wenn sie das geltend machen – nicht mit Sicherheit gefolgert werden, dass smartvote dafür verantwortlich war. Es könnte ja sein, dass sie ihr Wahlverhalten auch geändert hätten, wenn sie smartvote nicht benutzt hätten. Der einzige Weg hier zu verlässlicheren Angaben zu kommen, führt über kontrollierte Experimente. Joëlle Pianzola hat in ihrem Dissertationsprojekt ein solches Experiment durchgeführt und gleichzeitig mit anspruchsvollen statistischen Modellen die vermuteten Beziehungen nachgeprüft. Sie kommt zum Schluss, dass smartvote durchaus einen Einfluss auf die Parteipräferenzen, die Wahlabsicht und den Wahlentscheid hat.24 Bei den Nationalratswahlen 2011 liegt die Vermutung nahe, dass die Grünliberale Partei von smartvote profitiert hat.

4.

Chancen und Risiken ^

[20]
Welche Auswirkungen diese Webseiten auf demokratietheoretische Aspekte von Wahlen und Wählen haben, wurde bis anhin kaum thematisiert. Denkbare und teilweise auch nachweisbare Auswirkungen können sowohl positiver wie auch negativer Natur sein und betreffen alle beteiligten Akteure sowie und die von ihnen zu treffenden Entscheidungen.

4.1.

Umfassender und besserer Überblick über das Angebot ^

[21]

Positiv zu werten sind – zumindest auf den ersten Blick – die besseren Möglichkeiten, sich einen Überblick über das gesamte Angebot an Parteien und Kandidierende zu verschaffen. Je mehr Parteien und Kandidaten sich zur Wahl stellen und je differenzierter die Auswahlmöglichkeiten bei den Wahlen sind, desto wichtiger wird es, sich möglichst genaue Informationen über die Parteien und die Kandidierenden zu beschaffen und diese Informationen auch systematisch verarbeiten zu können. Kannte man früher im besten Fall die Parteiprogramme der wichtigsten Parteien und allfällige Unterschiede zwischen den bekanntesten Kandidaten, so hat man heute mit diesen Webseiten die Möglichkeit, sich ohne grossen Zusatzaufwand einen sehr detaillierten Überblick über das Gesamtaufgebot zu verschaffen. Mit etwas mehr als dreissig Fragen in der Kurzversion und über siebzig Fragen in der ausführlicheren Fassung werden von smartvote sowohl allgemeine politische Wertemuster wie auch die Einstellung zu konkreten politischen Sachfragen und Geschäften abgedeckt. Ohne das Wissen um die konkrete Haltung der Parteien und Kandidierenden in all diesen Punkten kann gar nicht ergebnisoffen und richtig ausgewählt werden.

[22]
Kritisch kann hier allenfalls angefügt werden, dass die Zahl der Fragen beschränkt ist und die Art der Fragen durch die Anbieter dieser Webseite vorgegeben ist. Tendenziell wird zudem versucht, Differenzen zwischen den verschiedenen Parteien und Kandidierenden hervortreten zu lassen, was nicht zwingend mit der Bedeutung der Unterschiede übereinstimmen muss. Nicht alle Parteien haben gleichermassen den Eindruck, dass sie ihre Anliegen bei smartvote besonders vorteilhaft vertreten können.

4.2.

«Demokratisierung» auf Seiten des Angebots ^

[23]

Während in einem traditionellen Wahlkampf die verfügbaren Ressourcen eine Rolle spielen und vor allem die grösseren Parteien und die bekannten oder aussichtsreichsten Kandidierenden sichtbar sind, diskriminiert smartvote nicht zwischen grossen und kleinen Parteien oder zwischen Spitzenkandidaten und «Listenfüllern». Alle haben die gleichen Aussichten, zuoberst auf die Liste der Wahlempfehlung zu kommen. Smartvote führt also auf der Seite des Angebots zu einer Demokratisierung, es fördert die Chancengleichheit unter den Parteien und unter den Kandidierenden und lässt Bekanntheitsgrad und Ressourcen in den Hintergrund treten.

[24]

Hier kann kritisch angemerkt werden, dass es für die Parteien nicht unbedingt erstrebenswert ist, dass sie nicht mehr selbst beeinflussen können, wer gewählt werden respektive die grössten Chancen auf eine Wahl haben soll. Die Gestaltung der Parteiliste ist parteiintern ein zentraler Prozess, bei dem wichtige Weichenstellungen vorgenommen werden. Hier entscheidet die Partei darüber, wer sie repräsentieren soll. Die Logik der Online-Wahlhilfen nimmt auf diese Vorselektion keine Rücksicht. Ausschlaggebend sind einzig und allein die Antworten der Kandidierenden zu den verschiedenen Fragen und nicht die Position auf der Parteiliste. Entsprechend erstaunt es auch nicht, dass die Kandidierenden auf den hinteren Listenplätzen smartvote attraktiver finden als die Spitzenkandidaten.

[25]
Weiter stellt sich aus Sicht der Wählenden die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, Leute auf den hintersten Listenplätze oder Kleinstparteien zu wählen. Es liegt bis zu einem gewissen Punkt auch in der Verantwortung einer Partei, eine Vorselektion der besten Kräfte vorzunehmen und Kleinstparteien haben beschränktere Möglichkeiten, gestaltend auf die Politik Einfluss zu nehmen, so dass die so abgegebenen Stimmen weniger bedeutungsvoll sind. Auf den hinteren Listenplätzen finden sich zudem häufig jüngere Kräfte oder teilweise sogar eigentliche «Listenfüller», die gar nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt für ein Mandat vorgesehen sind.

4.3.

Attraktive und zeitgemässe Auseinandersetzung mit Politik ^

[26]

Neue Informationstechnologien sind aus dem alltäglichen Leben nicht mehr wegzudenken. Sie machen Informationen zugänglicher und dienen als Entscheidungshilfen. Es wäre erstaunlich, wenn sie in der Politik und im Vorfeld von Wahlen keine Verwendung finden würden. Wie erwähnt zeigen Studien, dass sie das Interesse an Politik und die Auseinandersetzung mit Wahlen fördern und sogar einzelne Wahlberechtigte zur Teilnahme an Wahlen motivieren können. Mit attraktiven graphischen Darstellungsmöglichkeiten (z.B. smartspider-Grafiken) können auch politische Unterschiede besser sicht- und erfassbar gemacht werden.

[27]

An dieser Stelle kann kritisch angemerkt werden, dass vereinfachende Darstellungen von politischen Positionen und Unterschieden der gesamten Komplexität, die in den politischen Auseinandersetzungen steckt, nie ganz gerecht werden können. Die Politik kann nicht millimetergenau vermessen oder vollständig auf die Links-rechts-Achse oder auf ein Spiderdiagramm reduziert werden. Ohne solche Vereinfachungen aber ist eine inhaltliche Auseinandersetzung über politische Unterschiede in einem grösseren Rahmen kaum zu leisten.

4.4.

Issues gewinnen gegenüber Parteiprogrammen und anderen Entscheidungsgrundlagen an Bedeutung ^

[28]
VAAs basieren auf dem Prinzip des Issue-Votings. Es werden diejenigen Parteien und Kandidaten empfohlen, welche die grössten Übereinstimmungswerte bei möglichst vielen Sachfragen (Issues) aufweisen. Insgesamt geben die auf diesen Webseiten gestellten Fragen einen besseren Einblick in die von den Parteien und ihren Kandidierenden eingenommenen politischen Positionen. Parteiprogramme und Wahlplattformen sind demgegenüber häufiger vage oder allgemeiner, weil sie auf eine längere Zeit ausgerichtet sind oder versuchen, möglichst viele Leute anzusprechen.
[29]
Die Frage ist natürlich auch, ob es Sinn macht, jemanden zu wählen, der die genau gleichen politischen Präferenzen hat wie man selbst. Gerade in einem politischen System, wo die Lösungen häufig über Aushandlungsprozesse und Kompromisse zustande kommen, kann es strategisch sinnvoller sein, etwas extremere Positionen zu stärken. Nur so kann bewirkt werden, dass die Lösung dann dort zu liegen kommt, wo man sie eigentlich haben möchte.
[30]
Strategisches Wählen kann auch im Hinblick auf Koalitionsbildungen oder das Verhindern von Mehrheiten sinnvoller sein als die Wahl von Parteien und Kandidaten mit den grössten Übereinstimmungswerten, und man kann bewährte, wiederkandidierende Kräfte trotz gewissen inhaltlichen Differenzen gegenüber unbekannten neuen Kräften ohne Erfahrung bevorzugen. Und offen ist schliesslich auch die Frage, ob man sich vor allem an der politischen Nähe orientieren soll, oder ob es wichtiger ist, dass jemand auf derselben Seite in einer politischen Auseinandersetzung steht. Moderate Befürworter und moderate Gegner einer Vorlage können sich politisch näher stehen als sehr extreme und moderate Befürworter.

4.5.

Parteien werden in Frage gestellt ^

[31]
Issue-Voting heisst auch, dass die Parteizugehörigkeit der Kandidaten sekundär wird. Es wird in erster Linie auf die Übereinstimmungswerte geschaut, welcher Partei eine Kandidatin oder ein Kandidat angehört, ist unwichtig. Man mag eine entideologisierte und an Sachfragen orientierte Politik als erstrebenswert erachten, es gibt allerdings auch gute Gründe für die Existenz von politischen Parteien. Sie strukturieren die politischen Auseinandersetzungen und übernehmen gegenüber Einzelforderungen eine gewisse Puffer- und Ausgleichsfunktionen.
[32]
Mit den Online-Wahlhilfen kann es für die Parteien auch zunehmend schwierig werden, ihre Kandidaten auf ein gemeinsames Programm zu verpflichten: Die einzelnen Kandidaten erhalten dank VAAs die Möglichkeiten, sich mit von der Parteilinie abweichenden Positionsbezügen zu profilieren und so für Wähler aus anderen politischen Lagern attraktiv zu werden. Dies erhöht die parteiinterne Heterogenität.

4.6.

Ausgewogenheit, Gefahr der unrechtmässigen Beeinflussung und der Manipulation ^

[33]
Als Vorteil der Online-Wahlhilfen kann gesehen werden, dass nicht die Parteien darüber bestimmen, welche Themen und Vorlagen berücksichtigt werden. In ihren Wahlprogrammen haben die Parteien die Möglichkeit, Themen in den Vordergrund zu rücken, von denen sie sich Stimmengewinne erhoffen. Auf diesen Webseiten werden die Themen vorgegeben und alle Parteien müssen sich dazu äussern. Auswahl und Formulierung der Fragen sind allerdings nicht völlig wertneutral. Je nachdem wie die Fragen formuliert sind oder welche Fragen gestellt werden, kann die Wahlempfehlung unterschiedlich ausfallen. Die Anbieter von VAAs werden so zu einem einflussreichen Akteur: Setzt sich die Erkenntnis durch, dass VAAs einen Einfluss auf die Wahlentscheidung haben,25 so wird man sich zunehmend für das Funktionieren dieser Wahlwebseiten und für deren Anbieter und die von ihnen verfolgten Ziele interessieren. Es ist zu erwarten, dass auch versucht wird, auf die konkrete Gestaltung dieser Webseiten Einfluss zu nehmen.
[34]
Die Anbieter dieser Webseiten müssen deshalb aufpassen, dass sie sich nicht mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, durch die Auswahl der Fragen bestimmte Parteien zu bevorzugen. Auch ein Verdacht, dass von der Berechnung der Übereinstimmungswerte oder von der Darstellung der Ergebnisse gewisse Kreise systematisch profitieren, untergräbt das Vertrauen in diese Webseiten. Dem kann mit grösstmöglicher Transparenz was den Auswahlprozess, die eingesetzten Algorithmen und die Implikationen der verwendeten Darstellungsweisen anbelangt, entgegengetreten werden. Die «Lausanne Declaration on Voting Advice Application»26 formuliert die wichtigsten Anforderungen bezüglich Transparenz und den offenzulegenden Informationen.27

4.7.

Wahlversprechen und das «freie» Mandat ^

[35]

In demokratietheoretischer Hinsicht zentral ist letztlich auch die Frage, wie sich der Wahlakt und die Idee der politischen Repräsentation verändern werden. Während die Anhänger des klassischen, liberalen Repräsentationsmodell davon ausgehen, dass die Gewählten im Parlament frei nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden und nicht an eine Mandat gebunden sind,28 fordern die Vertreter eines basisdemokratischen, partizipativen Demokratiemodells, dass die Gewählten primär die Beschlüsse ihrer Wähler zu vertreten haben.29 Im ersten Fall nehmen die Gewählten als Treuhändler die Interessen ihre Wähler wahr, im zweiten Fall sind sie deren Delegierte. Jane Mansbridge30 spricht in diesem Zusammenhang von «promissory representation». Die Kandidierenden machen den Wählenden Versprechen, die sie dann im Parlament einhalten wollen. Den Wählenden bleibt die Möglichkeit vorbehalten, das Nicht-Einhalten von Versprechen durch Nichtwiederwahl zu sanktionieren. Voraussetzung dafür ist, dass einerseits Wahlversprechen klar und deutlich geäussert und festgehalten werden und dass andererseits das Einhalten der Versprechen auch überprüft werden kann.

[36]
Genau an dieser Stellen setzen auch die VAAs ein. Smartvote veranlasst die Kandidierenden ihre Positionen zu formulieren. Diese Positionsbezüge können von den Wählenden als konkrete Wahlversprechen aufgefasst werden. Daran schliesst sich die Erwartung an, dass sich die Kandidierenden – einmal gewählt – im Parlament an die geäusserten Versprechen halten. Ein systematisches Monitoring des Abstimmungsverhaltens der Parlamentarier – wie dies heute immer häufiger gemacht wird,31 kann das Nicht-Einhalten von «Wahlversprechen» offenlegen. Damit fördern VAAs – so die These – eine Entwicklung hin zum Delegiertenmodell, bei dem die Gewählten immer weniger die Möglichkeit haben, sich in der politischen Debatte von den besseren Argumenten überzeugen zu lassen und ihre Meinung zu ändern.

5.

Ausblick und Handlungsbedarf ^

[37]

Wie weit die erwähnten möglichen Chancen und Risiken der Online-Wahlhilfen Auswirkungen auf die Wahlen und damit auch auf das Funktionieren der repräsentativen Demokratie haben werden, steht natürlich in einem engen Zusammenhang mit der Verbreitung dieser Tools. Steigt ihre Popularität weiter an, so nimmt auch ihre Bedeutung zu und entsprechend stärker werden die zu erwartenden Auswirkungen.

[38]
Es ist etwa zu vermuten, dass mit der geplanten Einführung des «vote électronique» die Zahl der Benutzer noch einmal sprunghaft ansteigen wird. Begibt man sich zum Wählen ins Internet, dann wird man sich dort auch die notwendigen Informationen über das Wahlangebot beschaffen wollen. Sollte es einmal so weit kommen, dass man die mit einer VAA getroffene Wahlentscheidung respektive die Liste von Kandidatinnen und Kandidaten, denen man die Stimme geben will, direkt in den elektronischen Wahlzettel übertragen kann, dann wird bald die Mehrheit der Wählenden vor der Stimmabgabe eine solche Seite besuchen.32
[39]
Mit einer stärkeren Verbreitung stellt sich auch die Frage, ob diese Webseiten reguliert oder von Seiten des Staates kontrolliert werden sollen. Welche Fragen gestellt werden dürfen und wie die Ergebnisse dargestellt werden sollen, lässt sich kaum objektiv und wertefrei bestimmen und kann von einer staatlichen Stelle kaum verantwortet werden. Ausgewogenheit und zugänglich gegenüber sämtlichen ernsthaften Akteuren ist jedoch ein Qualitätsmerkmal für eine solche Webseite, sodass man eigentlich erwarten könnte, dass es hier über die Medien und die politische Öffentlichkeit zu einer Kontrolle und Qualitätsgarantie kommt. Sicher eingefordert werden sollte jedoch eine möglichst umfassende Transparenz was die Anbieter und was das Funktionieren der Webseite anbelangt.
[40]

Entscheidend ist letztlich vor allem, dass die Benutzenden sich bewusst werden, was VAAs leisten und was nicht. So wie man lernen muss, wie mit politischen Kampagnen und politischer Werbung umzugehen ist, oder welchen Stellenwert Parteiprogramme und Wahlplattformen und die Auftritte der Kandidierenden in der Öffentlichkeit haben, so muss man auch die abgegebenen Wahlempfehlungen zu lesen wissen. Eine möglichst breite und durchaus auch kritische Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen solcher Webseiten ist hierfür von zentraler Bedeutung. Wenn sich Anbieter und Benutzer dieser Webseiten den Chancen und Risiken bewusst sind, werden diese Tools ihren Beitrag zu einem besseren Wählen und besseren Wahlen leisten können.


 

Prof. Dr. Andreas Ladner ist ordentlicher Professor für Politische Institutionen und Schweizer Verwaltung am «Institut de hautes études en administration publique» (IDHEAP) der Universität Lausanne.

 

Vgl. auch: Andreas LadnerE-Voting – mögliche Vor- und Nachteile aus politikwissenschaftlicher Perspektive (Podcast), in: Jusletter IT 25. Mai 2016

  1. 1 Die Angaben zu den Wahlhilfewebseiten und zu smartvote sowie ein Teil der hier geäusserten Gedanken wurden bereits in zahlreichen Vorträgen und anderen Beiträgen zu dieser Thematik geäussert. Zu verweisen gilt es insbesondere auf Andreas Ladner (2012), Voting Advice Applications werden im Wahlkampf immer wichtiger. Es ist Zeit, dass wir uns darüber Gedanken machen, in: Béatrice Ziegler/Nicole Wälti (Hrsg.). Wahl-Probleme der Demokratie. Schriften zur Demokratieforschung Herausgegeben durch das Zentrum für Demokratie Aarau. Zürich: Schulthess. S. 91–110; Andreas Ladner (2014), Demokratie 3.0 hat durchaus Potential, die Frage ist, ob wir sie auch wollen, in: Alexander Balthasar/ Peter Bussjäger/Klaus Poier (Hrsg.). Herausforderung Demokratie. Wien: Jan Sramek Verlag KG. S. 141–159; Andreas Ladner/Joëlle Pianzola (2014), Voting Advice Applications, in: Mehdi Khosrow-Pour (Hrsg.). Encyclopedia of Information Science and Technology, Third Edition. Hershey, PA: Information Science Reference. S. 6427–6436; Andreas Ladner/Jan Fivaz (2012), Voting Advice Applications, in: Norbert Kersting (Hrsg.). Electronic Democracy. The World of Political Science – The development of the Discipline Book Series. Toronto: Barbara Budrich Publishers. S. 177–198.
  2. 2 Für einen umfassenderen Überblick über die international vergleichende Forschung vergleiche Lorella Cedroni/Diego Garzia (Hrsg.) (2010), Voting Advice Applications in Europe: The State of the Art, Napoli: Scriptaweb; Diego Garzia/Stefan Marschall (Hrsg.) (2014). Matching Voters with Parties and Candidates. Voting Advice Applications in a Comparative Perspective, Colchester: ECPR Press.
  3. 3 Vgl. https://smartvote.ch/15_ch_nr/statistics/candidate (alle Internetquellen zuletzt abgerufen am 5. April 2016).
  4. 4 Vgl.Jan Fivaz/Giorgio Nadig (2010), Impact of Voting Advice Applications (VAAs) on Voter Turnout and Their Potential Use for Civic Education, in: Policy & Internet, 2:4, S. 167–200.
  5. 5 Cedroni/Garzia 2010.
  6. 6 Stefaan Walgrave/Peter van Aelst/Michiel Nuytemans (2008). «Do the Vote Test»: The Electoral Effects of a Popular Vote Advice Application at the 2004 Belgian Elections, in: Acta Politica, S. 43, S. 50–70.
  7. 7 Diego Garzia (2010), The Effects of VAAs on Users' Voting Behaviour: An Overview, in: Lorella Cedroni/Diego Garzia (Hrsg.). Voting Advice Applications in Europe: The State of the Art, Napoli: Scriptaweb, S. 13–34.
  8. 8 Stefan Marschall/Martin Schultze (2011). The Impact of Voting Advice Applications on Electoral Behavior. The Case of the 2009 German Federal Election. Paper presented at the 6th ECPR General Conference in Reykjavik, 25–27 August 2011.
  9. 9 Andreas Ladner (2009), Elektronisch wählen – smart wählen, in: Adrian Vatter/Frédéric Varone/Fritz Sager (Hrsg.). Demokratie als Leidenschaft. Planung, Entscheidung und Vollzug in der schweizerischen Demokratie. Bern: Haupt. S. 205–224.
  10. 10 Vgl. https://smartvote.ch/15_ch_nr/statistics/voter.
  11. 11 Russell J. Dalton/Martin P. Wattenberg (1993), The Not So Simple Act of Voting, in: Ada W. Finifter (Hrsg.): Political Science. The State of the Discipline II. Washington: The American Political Science Association, S. 193–218, S. 193.
  12. 12 Mark N. Franklin/Thomas T. Mackie/Henry Valen (1992), Electoral Change: Responses to Evolving Social and Attitudinal Structures in Western Countries, Cambridge: Cambridge University Press.
  13. 13 Russel J. Dalton(1996), Political Cleavages, Issues and Electoral Change, in: Lawrence LeDuc/Richard G. Niemi/Pippa Norris (Hrsg.): Comparing Democracies: Elections and Voting in Global Perspective, Thousand Oaks: Sage Publications, S. 319–342, S. 346.
  14. 14 Garzia 2010, S. 23.
  15. 15 Garzia 2010, S. 23.
  16. 16 Stefan Marschall/Christian K. Schmidt (2010). The Impact of Voting Indicators: The Case of the German Wahl-O-Mat, in: Lorella Cedroni/Diego Garzia (Hrsg.). Voting Advice Applications in Europe: The State of the Art, Napoli: Scriptaweb. S. 65–90, S. 83.
  17. 17 Andreas Ladner/Joëlle Pianzola (2010), Do Voting Advice Applications Have an Effect on Electoral Participation and Voter Turnout? Evidence from the 2007 Swiss Federal Elections, in: Efthimios Tambouris, Anne Macintosh and Olivier Glassey (Hrsg.). Electronic Participation. Berlin, Heidelberg, New York: Springer. S. 211–224, S. 219.
  18. 18 Ladner/Pianzola 2010, S. 220.
  19. 19 Marschall/Schultze 2011.
  20. 20 Andreas Ladner/Gabriela Felder/Jan Fivaz (2010), More than toys? A first assessment of voting advice applications in Switzerland, in: Lorella Cedroni/Diego Garzia (Hrsg.). Voting Advice Applications in Europe: The State of the Art, Napoli: Scriptaweb. S. 91–123, S. 113 ff.
  21. 21 Andreas Ladner/Jan Fivaz/Joëlle Pianzola (2010). Impact of Voting Advice Applications on Voters' Decision-Making. Paper presented at the Conference «Internet, Politics, Policy 2010: An Impact Assessment», 16–17 September 2011 at the Oxford Internet Institute (OII), University of Oxford, S. 10 ff.
  22. 22 Walgrave et al. 2008.
  23. 23 Kristjan Vassil (2011). The Impact of VAAs on Vote Choice. Evidence from Switzerland. Paper presented at the 69th Midwest Political Science Association Annual Conference, Chicago, 31 March 2011–1 April 2011.
  24. 24 Joëlle Pianzola (2013). Mirror Me. The Effect of the Voting Advice Application smartvote on Voting Preferences and Behavior of Swiss Voters. Zürich: NCCR Democracy (Working Paper Series).
  25. 25 Vgl. Pianzola 2013.
  26. 26 Vgl. Garzia/Marschall 2014, S. 227 ff.
  27. 27 Smartvote erfüllt beispielsweise diese Deklaration, vgl. http://blog.smartvote.ch/?p=2318.
  28. 28 Vgl. dazu Edmund Burke (1854), Speech to the electors of Bristol, in: The Works of the Right Honourable Edmund Burke, vol. I. Henry G. Bohn, London; sowie John Stuart Mill (1882). Considerations on Representative Government. New York: Henry Holt & Co.
  29. 29 Vgl. z.B. Justin Fox/Kenneth W. Shotts (2009), Delegates or Trustees? A Theory of Political Accountability, in: The Journal of Politics, Vol. 71, No. 4, S. 1225–1237.
  30. 30 Jane Mansbridge (2003), Rethinking Representation, in: American Political Science Review, 97:4, S. 515–528.
  31. 31 Vgl. zum Beispiel smartmonitor.ch oder www.parlarating.ch.
  32. 32 Vgl. Ladner 2012.