Jusletter IT

«Inference to the Best Explanation» in Behauptungs-Netzwerken

  • Author: Hanna Maria Kreuzbauer
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Conference Proceedings IRIS 2016
  • Citation: Hanna Maria Kreuzbauer, «Inference to the Best Explanation» in Behauptungs-Netzwerken, in: Jusletter IT 25 February 2016
Die Autorin versucht in diesem Aufsatz, einen Weg aufzuzeigen, wie «Inference to the Best Explanation» (=IBE) in einem Netzwerk von Behauptungen abgebildet werden kann. Dazu wird zunächst ein simples, grafisches protologisches System aufgestellt und im Anschluss daran anhand eines Beispiels illustriert, wie sich IBE darin netzwerkartig abbilden lässt.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Vorbemerkung
  • 2. Ein simples, grafisches protologisches System
  • 2.1. Protologische Grundlagen
  • 2.2. Wahrscheinlichkeits- und Kohärenzgrade von WFF
  • 3. IBE in Behauptungs-Netzwerken
  • 3.1. IBE als Rationalitätsmethode
  • 3.2. Ein Beispiel: Der Mord an Lord Thomas Picton
  • 4. Zusammenfassung
  • 5. Literatur

1.

Vorbemerkung ^

[1]

In diesem Beitrag geht es um «Inference to the Best Explanation» (kurz: «IBE»), was so viel wie den Schluss auf die beste Erklärung (Details dazu siehe weiter unten) meint. In der einschlägigen Literatur1 werden solche und andere Fragen der formalen oder informellen Logik meist ausgehend von einzelnen Behauptungen oder linearen Behauptungssequenzen diskutiert, obwohl (nicht nur) IBE die Gegenüberstellung von alternativen Behauptungen bzw. Behauptungssequenzen, also Populationen von Behauptungen, voraussetzt. Da der Populationsbegriff jedoch definierte Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen bzw. Agenten nicht notwendig impliziert, benötigt man zusätzlich eine Struktur, wie sie zum Beispiel vom Begriff des Netzwerks umfasst wird. Ziel dieses Beitrags ist es daher, IBE in einem in einer Population von Behauptungen angenommenen Behauptungs-Netzwerk abzubilden. Der vorliegende Text ist dabei nicht abschließend, sondern als «1.0-Version» gedacht, an der im Rahmen weiterer Forschungen noch zu arbeiten ist. Außerdem geht es dabei weniger um die Diskussion der Eigenschaften dieser Zusammenhänge bzw. die Rechtfertigung oder Widerlegung einzelner Sätze darüber, sondern um die Illustration der Zusammenhänge in einem einheitlichen, grafischen System. Der Beitrag besteht deshalb aus zwei Hauptteilen: (1.) wird ein simples grafisches protologisches System vorgestellt, und (2.) wird anhand eines Beispiels gezeigt, wie sich IBE darin abbilden und diskutieren lässt.

2.

Ein simples, grafisches protologisches System ^

[2]
Im ersten Schritt ist ein einfaches «protologisches System»2 zu entwickeln, vorzugsweise in möglichst übersichtlicher grafischer Form. Leicht erkennbar orientieren wir uns dabei am etablierten und von jedermann in unzähligen Quellen einsehbaren Stand der Aussagenlogik.3

2.1.

Protologische Grundlagen ^

[3]
Ausgangspunkt ist ein Zeichenvorrat, der mächtig genug ist, eine beliebige Population von Behauptungen und deren Beziehungen als Netzwerkstruktur abzubilden. Die Netzwerkstruktur besteht aus:
  1. Knotenpunkten
  2. Kanten
  3. Operationsinformationen
[4]

@ Knotenpunkte: Als Knotenpunkte dienen wohlgeformte Formeln («well formed formulas», kurz: «WFF»), die gemäß dem etablierten Regeln der gegenwärtigen Aussagenlogik gebildet werden (also beispielsweise: «p», «q», «¬p», «p ∨ q», «p → q» etc.). Wir nehmen an, dass jede WFF als Behauptung aufzufassen ist und umgekehrt wird jede Behauptung im System als WFF abgebildet. Kursiv gesetzte WFF sind nur im Sinne einer Erwähnung zu sehen (man denke an Freges «Inhaltsstrich»), normal gesetzte WFF werden im Sinne eines formalen Korrespondenzparameters verstanden. Dazu sogleich weiter unten.

[5]

@ Kanten: Hier sind folgende vier Arten zu unterscheiden:

  1. Netzwerkbeziehungskanten: Durch verbundene Linien («––») gekennzeichnete Kanten zeigen an, dass mindestens zwei damit verbundene WFF miteinander in irgendeiner Beziehung stehen. Im einfachsten Fall bedeutet das lediglich die Zugehörigkeit zum selben Netzwerk. Durch Operationsinformationen können die Beziehungen beliebig definiert werden. Diese Kanten können auch Y-förmig verzweigt werden, um Beziehungen zwischen mehreren Elementen darzustellen.
  2. Formungskanten: Die mit «→» gekennzeichneten Kanten zeigen an, dass aus einer WFF im Wege einer Formungsoperation gemäß den etablierten Regeln der Aussagenlogik eine andere WFF geformt wird. Diese zugegebenermaßen vage Formulierung soll auch ausdrücken, dass dies hier nicht weiter vertieft werden soll, da es für das hier zu entwickelnde Gedankenmodell nicht wesentlich ist. Auch diese Pfeile können Y-förmig verzweigt werden und zwar genau dann, wenn aus mindestens zwei WFF eine einzige geformt oder eine solche zerlegt wird. Die Formungsart wird immer als Operationsinformation neben die Pfeile geschrieben.
  3. Schlusskanten: Mit «⇒» gekennzeichneten Kanten zeigen eine Folgerungsoperation an und entsprechen damit dem Zeichen «∴» (bzw. bei manchen Systemen auch «⇒», «⊢» oder «⊨»). Auch diese Pfeile können Y-förmig verzweigt werden.
  4. Verschiebekanten: Durch gestrichelte Linien («----») gezeichnete Kanten zeigen an, dass eine WFF in der Grafik aus rein optischen Gründen verschoben wird, damit sie visuell harmonischer mit anderen visuellen Elementen kombiniert werden kann. Auch hier ist Y-förmige Verzweigung möglich.
[6]
@ Operationsinformationen: In diesem System sind mehrere parametrische und variable Operationen möglich, die als von eingreifenden Beobachter_innen (mit unterschiedlichen Berechtigungsstufen) vollzogen gedacht werden. Das Wort «parametrisch» zeigt eine Operation an, die als für eine gegebene Diskurssequenz konstant verstanden wird, während sich «variabel» auf beliebig verwendbare Operationen bezieht. Mit Operationen können WFF weiter manipuliert werden. Auf der gegenwärtigen Stufe wurden bereits Formungs- und Folgerungsoperationen erwähnt. Ferner ist die parametrische Korrespondenzoperation zu nennen, eine WFF für eine Diskurssequenz konstant als mit einer außerhalb ihrer selbst liegenden Realität korrespondierend angenommen wird. Der Vollzug einer Operation wird durch eine Operationsinformation angezeigt. Bei Formungs- und Folgerungsoperationen wurde das bereits beschrieben, Korrespondenzoperationen werden durch den formalen Korrespondenzparameter «ver.» angezeigt. Als zusätzliche Operationsinformation werden WFF ab Vollzug der Korrespondenzoperation nicht mehr kursiv sondern normal gesetzt. Weiter unten werden wir noch Operationsinformationen über zwei sehr wichtige informelle variable Operationen einführen, nämlich die Zuweisung von Wahrscheinlichkeits- und Kohärenzgraden.
[7]
Bei dem allen kann es nicht darum gehen, einen kompletten (visualisierten) aussagenlogischen Kalkül auszuarbeiten, weshalb auch der Name «protologisches System» verwendet wird und weshalb auf alle dafür notwendigen Schritte, wie etwas die theoretische Fundierung von Syntax und Semantik, die Überprüfung von Vollständigkeit und Konsistenz etc. verzichtet werden muss. Allerdings ist in diesem Stadium auch kein Grund ersichtlich, warum sich das nicht zusätzlich ausbauen lassen sollte. Hier zur Illustration eine Grafik, die einige der genannten Elemente enthält:
[8]

Wie ersichtlich illustriert die Grafik 1 ein beliebiges Netzwerkbeispiel innerhalb unseres Systems, und Grafik 2 den Modus Ponens. Die Behauptungen «p» und «q» werden dabei zunächst in Form einer materiellen Implikation kombiniert und dann nochmals mit der Behauptung p. Dabei werden p → q und p via Korrespondenzoperation als korrespondierend angenommen (nicht aber natürlich q). Daraus darf man dann auf q schließen, d.h. als korrespondierend annehmen.

2.2.

Wahrscheinlichkeits- und Kohärenzgrade von WFF ^

[9]
Wenn unser System der Abbildung von IBE dienen soll, muss man zwei wichtig informelle Eigenschaften abbilden können4:
  • Wahrscheinlichkeitsgrade
  • Kohärenzgrade
[10]

@ Wahrscheinlichkeitsgrade: Es ist sinnvoll, WFF – und damit Behauptungen – unterschiedliche Wahrscheinlichkeitsgrade zuzuweisen, d.h. quantifizierte Grade der Wahrscheinlichkeit, mit der sie parametrisch korrespondieren (zu dem Begriff siehe oben). Aus welcher Quelle – auch hier gehen wir von einer eingreifenden bzw. zuordnenden Beobachter_in aus – diese Zuordnung stammt, ist dabei sekundär. In der juristischen Praxis beispielsweise wird trivialer Weise die Frage eine Rolle spielen, ob und wie Behauptungen belegt sind, was in der Praxis von einer Richter_in anhand kriminaltechnischer Belege bis hin zum allgemeinen Alltagswissen vorgenommen wird. Hier soll im Weiteren folgende Kategorisierung verwendet werden

  • Hoch unwahrscheinlich: ⊖⊖
  • Unwahrscheinlich: ⊖
  • Zu 50% wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich: ⊙
  • Wahrscheinlich: ⊕
  • Hoch wahrscheinlich: ⊕⊕
[11]

@ Kohärenzgrade: Auch die Kohärenz, also die Widerspruchsfreiheit zwischen zwei WFF, muss abgebildet werden können. Auch hier ist die Zuordnung – z.B. wieder durch eingreifende Beobachter_innen – variabel. Folgende Kohärenzgrade sollen unterschieden werden.

  • Sehr niedrige Kohärenz (= sehr hohe Inkohärenz): – –
  • Niedrige Kohärenz: –
  • Zu 50% kohärent bzw. inkohärent: 0
  • Kohärent: +
  • Sehr hohe Kohärenz: ++
[12]

Insgesamt gibt es folgende 25 Möglichkeiten der Kombination von Wahrscheinlichkeits- und Kohärenzgraden:


Kombinationsmöglichkeiten
Konsistenzstufen
– – 0 + ++




Wahrscheinlichkeitsstufen

⊖⊖ ⊖⊖– – ⊖⊖– ⊖⊖0 ⊖⊖+ ⊖⊖++
⊖– – ⊖– ⊖0 ⊖+ ⊖++
⊙– – ⊙– ⊙0 ⊙+ ⊙++
⊕– – ⊕– ⊕0 ⊕+ ⊕++
⊕⊕ ⊕⊕– – ⊕⊕– ⊕⊕0 ⊕⊕+ ⊕⊕++
[13]
Wenn eine WFF1 mit unbekanntem Wahrscheinlichkeitsgrad anhand andere WFF getestet werden soll, kann es sich um starke/mittlere (=neutrale)/schwache Kohärenz/Inkohärenz mit einer hoch/mittel (=neutral)/niedrig wahrscheinlichen/unwahrscheinlichen WFF handeln. Das liefert eine Unzahl an Kombinationen, die sich jedoch in folgende Fallgruppen zusammenfassen lassen:
  • Fallgruppe 1 starke positive Kohärenz») meint starke Kohärenz von WFF1 mit einer hoch wahrscheinlichen WFF0. Dabei ist zu beachten, dass WFF1 dadurch für die Gesamtbetrachtung dennoch nicht notwendig wahrscheinlicher wird, weil WFF0 dafür auch irrelevant sein kann, was auf dieser Stufe im System aber nicht abgebildet wird.5
  • Fallgruppe 2 starke Kontrakohärenz») bedeutet starke Inkohärenz von WFF1 mit einer hoch wahrscheinlichen WFF0: Sofern die WFF0 nicht völlig irrelevant ist, ist WFF1 damit als unwahrscheinlich anzunehmen und zu verwerfen. Man beachte, dass Fallgruppe 1 und 2 also nicht symmetrisch sind, sondern dass das «Falsifizierungspotential» starker Inkohärenz größer ist als das «Verifizierungspotential» starker Kohärenz.
  • Fallgruppe 3 Irrelevante Kohärenz») umfasst starke, mittlere oder schwache Kohärenz oder Inkohärenz von WFF1 mit einer mittel oder schwach wahrscheinlichen oder unwahrscheinlichen WFF0. In der Wirtschaft würde man das als «waste of money» bezeichnen, weil jede Kohärenz oder Inkohärenz mit mittel oder schwach wahrscheinlichen oder unwahrscheinlichen anderen WFF für die Gesamtbewertung irrelevant ist.
  • Fallgruppe 4 Insignifikanz») meint schwache oder mittlere Kohärenz oder Inkohärenz von WFF1 mit einer stark, mittel oder schwach wahrscheinlichen oder unwahrscheinlichen WFF0: Dies ist nicht signifikant und berechtigt zu praktisch keinen Schlüssen für die Gesamtbetrachtung.
[14]
Ein hinreichend mächtiges Behauptungsnetzwerk auf protologischer Basis ist damit skizziert.

3.

IBE in Behauptungs-Netzwerken ^

3.1.

IBE als Rationalitätsmethode ^

[15]
Im zweiten Schritt geht es um die Abbildung von IBE im eben aufgestellten System. IBE ist neben dem Bayes-Theorem (benannt nach Thomas Bayes, siehe dazu gleich weiter unten) die wahrscheinlich aussichtsreichste Kandidatin für die Stelle des führenden Qualitätskriteriums für die Behauptungen der Wissenschaften im 21. Jahrhundert und damit sozusagen die «rechtmäßige Erbin» des Falsifikationismus. Der Kontext – man verzeihe die holzschnittartigen Verkürzungen – ist dieser:
[16]
Die «Wissenschaft» der Antike bestand im Wesentlichen aus Mathematik, Philosophie (und etwas Medizin). Schon zu jener Zeit wurden jedoch Methoden entwickelt, kognitive und linguistische Prozesse rational zu gestalten. Dazu verfolgte man seit jeher verschiedene Ansätze: Testverfahren und Gütekriterien für Behauptungen, Formalisierung, Diskursregeln und insb. die wichtigste Methode der okzidentalen Tradition, nämlich die Euklidische Geometrie, das «Denken more geometrico». Im Mittelalter dominierte die Theologie, was den Traditionsstrang der Rationalität im okzidentalen Traditionskreis bis zur Wiederentdeckung der Schriften des Aristoteles unterbrach. Etwas später waren es die Naturwissenschaften, die sich im Zuge der großen europäischen Säkularisationswelle ab 1500 dem politischen aber auch weltanschaulichen Einfluss der Kirche – inklusive deren unterentwickelter Vorstellung von Rationalität – widersetzen konnten. Nun sprach Galileo Galilei vom Lesen im «in der Sprache der Mathematik geschriebenen» «Buch der Natur», und auch andere entdeckten die Mathematisierung – in Form des klassisch-antike «Denkens more geometrico» – als primäre Rationalitätsmethode. Freilich betraf dies in erster Linie die Physik jener Zeit, die empirisch und einigermaßen einfach und war, während es die ebenso empirischen aber mit komplexeren Phänomenen befassten «weicheren» Wissenschaften, also die Biologischen, Sozial- und Kultur-Wissenschaften, es ungleich schwerer hatten. Man denke etwa an die christlich motivierten Polemiken, denen sich noch Charles Darwin bei der Vorstellung seiner Evolutionstheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgesetzt sah. Da jeder Wissenschaftler dieser Zeit seine eigene, mit den anderen nur wenig abgestimmte Rationalitätsmethode besaß, war das alles auch noch wenig organisiert und systematisiert.
[17]

Auch die professionelle Reflexion über das Tun und Treiben der Wissenschaften – also die Wissenschaftstheorie, so wie wir sie heute kennen – kam erst relativ spät auf, und zwar im Grunde erst mit dem Positivismus des 19. Jahrhunderts. Dieser wiederum setzte – in eher unreflektierter Art und Weise – auf Verifikation (d.h. die Affirmation von Behauptungen) im Allgemeinen und Induktion (d.h. den «Schluss» vom Einzelfall auf ein allgemeines Prinzip) bei der Rechtfertigung von Prinzipien. Nicht unerwähnt darf man in diesem Zusammenhang aber auch die zur selben Zeit erfolgte «Entdeckung» des später noch anzusprechenden Schemas der Abduktion lassen, was jedoch zunächst ohne Einfluss blieb.

[18]
Karl R. Popper ersetzte Induktion und Verifikation durch sein Prinzip des Falsifikationismus, das folgender Grundidee folgt: In der (empirischen6) Wissenschaft benötigt man zwei Arten von deskriptiven Aussagen: (1) Behauptungen über nicht-beobachtete – darunter auch prinzipiell nicht beobachtbare – Phänomene und (2) Behauptungen über beobachtete Phänomene: (1): Behauptungen über beobachtete Phänomene spalten sich in (1a) Einzel-Behauptungen über nicht beobachtete Einzelereignisse und/oder hinter den empirischen Phänomenen steckenden Einzel-Phänomene und (1b) Allgemein-Behauptungen über allgemeine Prinzipien auf. All dies stellt man sich am besten als «Metadaten» vor und da man diese nur sozusagen hypothetisch annehmen kann, werden wir hier von «Hypothesen» sprechen. (2) Behauptungen über beobachtete Phänomene können mit Ausnahme des Bereichs der Quantenphysik eigentlich nur (2a) Einzel-Behauptungen sein, weil empirische (Makro-)Phänomene nur einzeln im durch die Raumzeit7 aufgespannten empirischen Universum existieren können. Wir werden hier von «Fakt-Behauptungen» sprechen, jedoch ergänzen, dass man üblicherweise toleranter ist und auch (2b) Allgemein-Behauptungen über beobachtete Phänomene akzeptiert. Fakt-Behauptungen müssen durch – im weitesten Sinne – empirische Messung gewonnen werden. Hypothesen (insb. die allgemeinen) darf man laut Karl R. Popper mehr oder weniger beliebig annehmen, sofern man sie an den Fakt-Behauptungen testet und konsequent verwirft, wenn sie die Tests nicht bestehen – also falsifiziert werden.
[19]
Der Falsifikationismus stellt einen wissenschaftstheoretischen Quantensprung dar, wurde insbesondere von Imre Lakatos weiter entwickelt und mehrfach heftig kritisiert – teils mit guten (man denke an Thomas S. Kuhn) und teils mit schlechten Argumenten (man denke an Paul Feyerabend). Einer seiner praktischen Hauptnachteile ist zweifellos, dass er in der Praxis schwer einzuhalten ist, weil er von den Wissenschaftler_innen verlangt, ihre eigenen – «sauer erarbeiteten» – Theorien anzugreifen. Wenn sich Prinzipien-Behauptungen und empirische Behauptungen widersprechen ist damit a priori ja nicht gesagt, welche der beiden daran schuld ist. Sehr oft sind es vermutlich die Prinzipien, deren – von Karl R. Popper geforderte – Aufgabe aber oft schwierig ist, weshalb Wissenschaftler_innen durchaus eher dazu geneigt sein könnten, sie nicht aufzugeben, sondern am Detail herumzubasteln oder aber die Fakt-Behauptungen für falsch zu halten.
[20]
Man suchte daher nach einer leichter umsetzbaren Rationalitätsmethode und in den letzten etwa zwanzig Jahren bot sich hier der Bayesianismus an, der mittlerweile in vielen – vor allem stark formalisierten – Wissenschaften erfolgreich verwendet wird. Auf das dabei verwandte und bereits erwähnte Bayes-Theorem («P(A|B) = [P(B|A) × P(A)]/P(B)») soll hier nicht weiter eingegangen werden. In der Formulierung: «P(H|F) = [P(F|H) × P(H)]/P(F)» («F» kennzeichnet dabei eine Fakt-Behauptung und «H» eine Hypothese) dient es zur Berechnung der bedingte Wahrscheinlichkeit einer Hypothese unter der Bedingung, dass die Fakt-Behauptung zutrifft. Gegen diese Formel spricht im Prinzip nichts – außer dass man auf der rechten Seite der Gleichung bereits über eine Menge numerischer Werte über die so genannten «a-priori-Wahrscheinlichkeiten» verfügen muss. Weniger formalisierte, also sozusagen «weichere», und am Einzelfall orientierte Wissenschaften, wie insb. die Kulturwissenschaften stehen dabei jedoch vor dem Problem, dies nicht einlösen zu können. Hier konnten sich daher Abduktion und insb. IBE ins Spiel bringen.
[21]

Abduktion wird oft durch die (deduktiv ungültige) Formel: «A → B, B ∴ A» abgebildet. Abduktion ist dabei allerdings lediglich ein inventives Schema, das als Heuristik zur Findung neuer Ideen dienen kann. Anders als etwa beim Modus Ponens oder Modus Tollens können die Prämissen alleine die Konklusion jedoch nicht äquivalent rechtfertigen8. Auch darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden.

[22]
Die IBE folgt einem anderen Weg. Es geht dabei nur um explikative, also erklärende Hypothesen9, deren genauere Eigenschaften hier aber unerheblich sind. Außerdem fasst man die Hypothese als eine von (prinzipiell unendlich) vielen Alternativhypothesen auf und testet diese auf Kohärenz mit Fakt-Behauptungen. Die Kernidee besagt, dass die erklärende Hypothese mit der größtmöglichen Kohärenz mit den Fakt-Behauptungen am wahrscheinlichsten mit der Realität korrespondiert, was bedeutet, dass alleine diesem Umstand der besten Kohärenz rechtfertigender Charakter zugesprochen wird. Das entspricht einer sehr starken Aussage.
[23]

Das 1965 von Gilbert H. Harman10 in die philosophische Diskussion eingeführte IBE-Schema hat den Vorteil, dass es im Gegensatz zum Bayes-Theorem auch in einem nicht völlig quantifizierten Setting betrieben werden kann, weil keine Zahlen notwendig sind, d.h. dass man Wahrscheinlichkeits- und Kohärenzgrade auch informell zuweisen kann und dennoch ein Ergebnis erhält. Im Gegensatz zum Abduktions-Schema ist der Rechtfertigungscharakter von IBE nicht a priori auszuschließen, in folgender schwachen Formulierung in der Tat sogar vorsichtig zu bejahen, was sich so formulieren lässt:

 

Theorem 1: Nach solidem und fairem Kohärenztestverfahren aller zum Zeitpunkt t verfügbaren erklärenden Hypothesen (H1 ... Hn) bezüglich einer Fragestellung anhand der die Fragestellung betreffenden verfügbaren Fakten-Behauptungen (F1 ... Fn) sowie der sich aus den Fundamentalsätzen des gegenwärtigen Standes der Wissenschaften ergebenden Behauptungen ist die Annahme der Korrespondenz der am wenigsten schlecht abschneidenden Hypothese/-n zum Zeitpunkt t rational nicht weniger gerechtfertigt, als die Annahme der Fakt-Behauptungen und wissenschaftlichen Fundamentalsätze selbst. 

[24]
Damit ist nicht gesagt, dass die rational gerechtfertigte Hypothese auch tatsächlich wahr ist bzw. korrespondiert. Es ist aber zu vermuten, dass sich mit dem Rückgriff auf solide und faire Testverfahren sowie die Fundamentalsätze des gegenwärtigen Standes der Wissenschaften eine Art «informelle Konservierung der Korrespondenz» erreichen lässt.

3.2.

Ein Beispiel: Der Mord an Lord Thomas Picton ^

[25]

Um IBE im Netzwerk zu zeigen, werden wir aus dem gerade skizzierten System nur bestimmte Teile heraus zeichnen und den Rest unbeachtet lassen. Hier interessieren nur die Folgerungen und die Beziehungen zwischen den WFF, nicht aber deren Formung. Wir nehmen zur Illustration folgenden Sachverhalt an:

 

Lord Thomas Picton (57), ehemaliger Offizier der Royal Army, wurde am 18. Juni 2015 um ziemlich genau fünf Uhr Abends im «Waterloozimmer» seines Landsitzes mit einem alten Militärsäbel erstochen. Lady Picton (40) befand sich nach ihrer Aussage zu diesem Zeitpunkt auf dem Rückweg von ihrem Anwalt in London, mit dem sie über ihre geplante Scheidung gesprochen hatte. Um 16:30 h wurde sie in ihrem Aston Martin ca. 200 Meilen von ihrem Haus entfernt von einer Radarfalle fotografiert. Butler James (56) inspizierte nach seinen Angaben gerade die Inneneinrichtung des großen Salons, als er von ferne ein Stöhnen und dann einen zu Boden fallen Körper hörte. Das Stubenmädchen, Miss Milchrest (28), gab an, sich zwischen halb fünf und sechs in ihrer Kammer befunden und mit ihrer Schwester über ihre Geldsorgen telefonierte zu haben, gesehen oder gehört hätte sie aber nichts. Wer war der/die Täter_in?
[26]
Aus Gründen der Vereinfachung nehmen wir an, dass die Polizei bereits herausgefunden hat, dass eine der drei Personen definitiv der/die Mörder_in sein muss. Damit reduzieren wir die bei IBE grundsätzlich offene Menge von Alternativhypothesen (ohne Auswirkung auf die hier aufgestellten Überlegungen) auf folgende drei Hypothesen:
  1. HLAD: Lady Picton ist die Mörderin
  2. HBUT: Butler James ist der Mörder
  3. HMIL: Miss Milchrest ist die Mörderin
[27]
In unserem protologischen System ergibt das folgende Grafik:
[28]

Die Grafik zeigt mehrere Anhaltspunkte für eine «Lösung» im Sinne einer IBE, und zwar:

  1. HLAD hat zweimal die höchste Kontrakohärenz-Bewertung, nämlich «⊕⊕– –». Damit ist diese Hypothese trotz einer aus dem Umstand der Scheidungsabsicht herrührenden Motivmöglichkeit auszuschließen.
  2. Weder HBUT noch HMIL haben ähnlich substanzielle Ausschließungsgründe, weshalb eine graduelle Beurteilung – sozusagen die Frage nach einem «Sieg nach Punkten» – durchzuführen ist. Dabei ist im Sinne des oben Gesagten primär auf die mit ⊕⊕ bewerteten Fakt-Behauptungen einzugehen, und dabei zeigt sich, dass HBUT hier die höhere Bewertung hat, nämlich insgesamt «++++++ 000» gegenüber «++ 00000». Da oben angenommen wurde, dass genau eine der drei Hypothesen zutrifft, stehen HBUT und HMIL nach dem Ausscheiden von HLAD in kontradiktorischem Gegensatz und man muss sich für eine der beiden entscheiden. Hierbei spricht mehr für HBUT. Das bedeutet, dass zum jetzigen Zeitpunkt die (im Rahmen der Maßstäbe des modernen Strafrechts natürlich nicht auseichende) beste Erklärung lautet: Butler James ist der Mörder.
[29]
Dem ist die narrative Ergänzung hinzuzufügen, dass es durchaus sein kann, dass ein ehemaliger Armeeangehöriger wie Lord Picton alte Armeesäbel als Dekorationsgegenstände im Haus verwendet, dass Butler James dazu Zugang hatte, dass er für seine Aussagen keine Belege hat und es also sein kann, dass er sich so einen alten Säbel von der Wand genommen und damit den Hausherrn erstochen hat. Dazu passt, dass er nur wenig jünger als Lord Picton ist und dass es nicht verwundern würde, wenn sich die beiden Männer schon von der Armee her kannten, und dass daraus ein bisher noch unbekanntes Motiv herrühren könnte. Dieser Narrativ geht natürlich offensichtlich über das durch IBE Gestützte hinaus, würde HBUT modulieren und wäre daher – nicht zuletzt um den Beweismaßstäben des modernen Strafrechts genügen zu können – Gegenstand des weiteren Beweisverfahrens.

4.

Zusammenfassung ^

[30]
Es wurde gezeigt, wie sich Behauptungen in einem durch ein protologisches System abgebildeten Behauptungs-Netzwerk so darstellen lassen, dass sich IBE einfach abbilden und für die Praxis verwenden lässt. Aus Gründen der einfachen Illustration wurden eine – den Grundsätzen von IBE eigentlich widersprechende – Beschränkung auf genau drei Hypothesen und ein – den Grundsätzen des modernen Strafverfahrens eigentlich widersprechender – niedrigerer Beweismaßstab gewählt. Das primäre Ziel weiterer Forschungsschritte müsste daher in Richtung Aufgabe dieser Beschränkung gehen, was allerdingst nicht weiter problematisch erscheint. Als zweiwichtigstes Ziel müsste man die Hypothesen ausdifferenzieren, also selbst als Behauptungs-Netzwerke auffassen, die etwa durch Folgerungsoperationen entstehen können. Damit könnte man Hypothesen-Varianten einführen und integrieren.11

5.

Literatur ^

Amaya, Amalia, Inference to the Best Legal Explanation. In: Kaptein, Hendrik/Prakken, Henry/Verheij, Bart (Eds.), Legal Evidence and Proof: Statistics, Stories, Aldershot, 2009.

Garfinkel, Alan, Forms of Explanation: Rethinking the Questions in Social Theory, New Haven et al., 1981.

Harman, Gilbert H., The Inference to the Best Explanation. In: Philosophical Review, Bd. 74 (1), 1965, 88–95.

Klärner, Holger, Der Schluss auf die beste Erklärung, Berlin/New York, 2003.

Klement, Kevin, Propositional Logic. In: Fieser, James/Dowden, Bradley (Eds.): Internet Encyclopedia of Philosophy, http://www.iep.utm.edu/prop-log/ (zugegriffen am 10. Januar 2016), 2016.

Kreuzbauer, Hanna Maria*, Ilmar Tammelos und Helmut Schreiners «Protologischer Kalkül». In: Schweighofer, Erich/Menzel, Thomas/Kreuzbauer, Hanna Maria (Eds.), IT in Recht und Staat: Aktuelle Fragestellungen der Rechtsinformatik, Wien, 2002, 285–296. [*Man beachte die Namensänderung]

Lipton, Peter, Inference to the Best Explanation, 2. Aufl., London/New York, 2004.

Mayes, Randolph, Theories of Explanation, In: Fieser, James/Dowden, Bradley (Eds.): Internet Encyclopedia of Philosophy, http://www.iep.utm.edu/explanat/ (zugegriffen am 10. Januar 2016), 2016.

Okasha, Samir, Van Fraassen’s Critique of Inference to the Best Explanation. In: Studies in History an Philosophy of Science, Bd. 31 (4), 2000, 691–710.

Tammelo, Ilmar/Schreiner, Helmut, Grundzüge und Grundverfahren der Rechtslogik, Bd. 1, Pullach bei München, 1974.

Tammelo, Ilmar/Schreiner, Helmut, Grundzüge und Grundverfahren der Rechtslogik, Bd. 2, Pullach bei München, 1977.

Timmer, Sjoerd T./ Meyer, John-Jules Ch./Prakken, Henry/Renooij, Silja/Verheij, Bart., Explaining Legal Bayesian Networks Using Support Graphs. In: Rotolo, Antonio (Ed.), JURIX 2015, Legal Knowledge and Information Systems, Amsterdam, 2015, 121– 130.

Van Fraassen, Bas, The Scientific Image, Oxford, 1980.

Van Fraassen, Bas, Laws an Symmetry, Oxford, 1989.

Vlek, Charlotte S./Prakken, Henry/Renooij, Silja/Verheij, Bart, Building Bayesian Networks for Legal Evidence with Narratives: A Case Study Evaluation, Artificial Intelligence an Law, Bd. 22, 2014, 375–421.

Vlek, Charlotte S./Prakken, Henry/Renooij, Silja/Verheij, Bart, Constructing and Understanding Bayesian Networks for Legal Evidence with Scenario Schemes. In: Sichelman, Ted/Atkinson, Katie (Eds.): Proceedings of the 15th International Conference on Artificial Intelligence and Law, ICAIL 2015, San Diego, CA, USA, June 8–12, 2015, 128–137.

Woodward, James, Scientific Explanation. In: Zalta, Edward N., Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stanford.edu/archives/win2014/entries/scientific-explanation/ (zugegriffen am 10. Januar 2016), 2014.

  1. 1 Für viele vgl. Harman 1965 (erste Darstellung), Van Fraassen 1989 (wichtigster kritischer Beitrag), Klärner 2003 (wichtigste deutschsprachige Abhandlung), Lipton 2004 (wichtigste Abhandlung überhaupt) sowie Amaya 2009 (wichtigster Beitrag zur Anwendung in den Rechtswissenschaften).
  2. 2 Vgl. Schreiner/Tammelo 1974 und 1977 sowie Kreuzbauer 2002.
  3. 3 Für viele vgl. Klement 2016.
  4. 4 Auf Quantifizierung wird in dieser Ausbaustufe verzichtet.
  5. 5 Man vergleiche dazu Bas van Fraassens (1989) analoges Argument vom «bad lot» (vgl. Okasha 2000, 694ff.).
  6. 6 Im Bereich von Werten und Normen ist es jedoch ähnlich.
  7. 7 Wie auch immer man diese beiden Dimensionen physikalisch versteht.
  8. 8 Das heißt genauso rechtfertigen, wie sie selbst gerechtfertigt sind. Man kann in diesem Fall auch vom Potential zur «Konservierung» von Korrespondenz bzw. Wahrheit sprechen.
  9. 9 Erklärungen (=«Explanation») kann man sich im Rahmen von IBE als Antwort auf eine Frage der Form: «Why this rather than that?» (Lipton 2004, 33, unter Verweis auf Alan Garfinkel 1981, 28–41 und Bas van Fraassen 1980, 126–129) bzw. wie Peter Lipton im Rahmen der Vorstellung seines so genannten «constrastive causal models» schreibt: «Why P rather than not-P?» (Lipton 2004, 49). Zum Begriff der wissenschaftlichen Erklärung allgemein vgl. Woodward 2014 und Mayes 2016.
  10. 10 Harman 1965.
  11. 11 Erst nach Fertigstellung des Beitrags wurde die Autorin außerdem auf die Existenz ähnlicher Ansätze im Bereich des Bayesianismus hingewiesen (vgl. dazu für viele Vlek/Prakken/Renooij/Verheij 2014 und 2015, sowie Timmer/Meyer/Prakken/Renooij/Verheij 2015). Um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Ansätzen zu analysieren sind weitere Forschungen notwendig.