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Der «juristische Syllogismus» als rationaler Rahmen der Entscheidung und seine Anwendung im elektronischen Formularverfahren

  • Author: Friedrich Lachmayer
  • Category: Articles
  • Region: Slovenia, Austria
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Conference Proceedings IRIS 2016
  • Citation: Friedrich Lachmayer, Der «juristische Syllogismus» als rationaler Rahmen der Entscheidung und seine Anwendung im elektronischen Formularverfahren, in: Jusletter IT 25 February 2016
Die Argumentationstheorie unterscheidet zwischen den Ausgangspunkten der Entscheidung, der Bildung der beiden Prämissen des syllogistischen Schließens und jener Begründung, die überzeugende Gründe für die Entscheidung im konkreten Fall anführt. So gesehen ist der «juristische Syllogismus» nur noch eine Stufe im Prozess des Entscheidens in konkreten Fällen. Er ist der rationale Rahmen der Entscheidung. Mit der Einführung des elektronischen Formularverfahrens insbesondere bei gleichgelagerten Massenverfahren ändert sich jedoch die Situation grundlegend: Die Last der Subsumption wird den Parteien überwälzt, indem diese die elektronischen Formularfelder ex ante auszufüllen haben. Das Ermittlungsverfahren und der Übergang vom Sein zum Sollen der rechtlichen Bedeutungen werden auf den Beginn des Verfahrens vorverlagert. Dadurch wird die Backoffice-Verarbeitung des elektronischen Inputs wesentlich erleichtert und eine ganze Reihe von methodischen Problemen der traditionellen juristischen Verfahren wird damit ausgeschalten beziehungsweise auf einer abstrakten Ebene gelöst.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Der «juristische Syllogismus» als rationaler Rahmen der Entscheidung 
  • 1.1. Der «juristische Syllogismus» als Problemgerüst
  • 1.2. Offene Fragen
  • 1.2.1. Die Auslegung des Gesetzes und der gesetzliche Tatbestand
  • 1.2.2. Die Auslegung des Lebenssachverhalts: der rechterhebliche oder endgültige Sachverhalt
  • 1.2.3. Die Verbindung der Ebenen des Normativen und des Faktischen
  • 1.3. Die Bedeutung des «juristischen Syllogismus»
  • 2. Die Anwendung im elektronischen Formularverfahren
  • 3. Literatur

1.

Der «juristische Syllogismus» als rationaler Rahmen der Entscheidung1   ^

1.1.

Der «juristische Syllogismus» als Problemgerüst ^

[1]

Die Frage nach der Bedeutung, die dem sogenannten juristischen Syllogismus im Prozess der Rechtsentscheidung in konkreten Fällen zukommt, ist an sich nicht problematisch. Wenn beide Prämissen gebildet sind, geht es nur noch darum, den Schluss (die Rechtsfolge) auszusprechen. Der Schluss (conclusio) wird aus zwei verschiedenen Urteilen (terminus maior und terminus minor), die durch den Mittelbegriff (terminus medius) miteinander verbunden sind, abgeteilt. Die obere Prämisse (terminus maior, der Obersatz) enthält den gesetzlichen Tatbestand mit der Rechtsfolge. Dem gesetzlichen Tatbestand wird die untere Prämisse (terminus minor, der Untersatz) untergeordnet, der mit dem Sachverhalt identisch ist, d.h. mit rechtsrelevanten Tatsachen, die auf der Ebene des Konkreten (des Faktischen) ein Fall (terminus medius) des gesetzlichen Tatbestandes sind. Diese Verbindung ermöglicht den Schluss, der sich mit formal-logischer Notwendigkeit aus den beiden Prämissen ergibt. Die endgültige Rechtsentscheidung beruht nicht auf einem einzigen Schluss. Sie besteht aus so vielen Schlüssen, wie es Elemente des gesetzlichen Tatbestandes gibt, die konkretisiert werden müssen. Am Beispiel des gesetzlichen Tatbestandes der Beleidigung, kann man dartun, wie die Schlussfolgerung aussieht.

Wer einen anderen beleidigt, wird mit einer Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft.

 

A hat B beleidigt.


A wird mit einer Geldstrafe oder mit Gefängnis bestraft.

 

* * *

 

Die Beleidigung wurde durch eine Tat, durch Worte oder Gesten begangen. Die Beleidigung durch die Tat weist Merkmale M1, M2, M3 auf; die Beleidigung durch Worte hat die Merkmale …

 

A schlug B mit einem Buch auf die Wange. Das Handeln von A weist Elemente auf, die den Merkmalen M1, M2, M3 entsprechen.


Die Tat von A ist ein Fall von Beleidigung.

 

* * *

 

Der Täter der Beleidigung, die durch die Elemente E1, E2, E3 gekennzeichnet ist, wird mit einer Geldstrafe (G1, G2, G3) bestraft.

 

Die Beleidigung von A weist Elemente auf, die E1 entsprechen.


A wird mit der Geldstrafe G1 bestraft.

[2]

Man könnte noch weiter analysieren. Dieses Verfahren ist vom Standpunkt der Rechtsinformatik wichtig. Diese muss nämlich die Frage beantworten, in welchem Umfang und wie ein Computer bei der Rechtsentscheidung nützlich sein kann. Im Licht der Argumentationstheorie ist entscheidend, dass der syllogistische Schluss das Ergebnis einer vorangehenden Entscheidung ist, die im Hinblick auf das Gesetz den gesetzlichen Tatbestand und im Hinblick auf den Lebenssachverhalt den (rechtserheblichen oder endgültigen) Sachverhalt ausmacht. Der syllogistische Schluss ist im Prozess der Rechtsentscheidung die Schlussphase. Auf ihn folgt nur noch Begründung, d.h. man muss begründen, warum und wie man sich entscheiden hat. Es ist kein Zufall, dass der Subsumtionsschluss selbst weder praktisch noch theoretisch fraglich ist. Der «juristische Syllogismus» ist lediglich «das Grundgerüst», an welches die offenen Fragen anknüpfen. Die Fragen, über die sich die Meinungen scheiden, beziehen sich vor allem:

  1. auf den Begriff der Gesetzesauslegung (d.h. der Auslegung der formellen Rechtsquellen);
  2. auf die Bedeutung des Lebenssachverhalts als tatsächlichen Ausgangspunkt der Entscheidung und
  3. auf die wertende Verbindung, auf das sogenannte «Hin- und Herwandern des Blickes», zwischen dem Faktischen und dem Normativen.2

1.2.

Offene Fragen ^

[3]

Wenn ich diese Fragen beantwortete oder wenigstens zu beantworten versuche, distanziere ich mich bewusst von jenen Theorien, die lebensfremd sind und nicht dem entsprechen, was im Prozess der Rechtsentscheidung tatsächlich vor sich geht. Es gibt vor allem zwei extreme Richtungen. Die eine lehnt die abstrakt-regulative Ebene (das Gesetz als normativer Ausgangspunkt des Entscheidens) ab und betont das konkrete und den Lebenssachverhalt, welche die Quelle des Rechts sein sollten. Der Schwerpunkt des Problems liegt dabei im strittigen Verhältnis und dessen Konflikten, die vom Richter gelöst werden müssen. Wenn der Richter entscheidet, stützt er sich nicht auf das Gesetz, sondern auf die Merkmale des konkreten Streits, die sich von Fall zu Fall unterscheiden («situationsgebundenes Entscheiden»). Im Vergleich zu dieser Entscheidungsart, die für den Rechtsexistentialismus3 kennzeichnend ist, war die «Freirechtsschule» viel gemäßigter. Sie lehnte sich in ihrem gesunden Kern gegen die Begriffsjurisprudenz auf und trat für eine freiere Rechtsfindung ein. Sie knüpft an die Lücken an, die in den Gesetzen vorhanden sind. Ihr geht es um die Anwendung des Analogieschlusses (insbesondere im Sinn der Gesetzesanalogie), um die Berücksichtigung des Gerichts- und des Juristenrechts4; also um leitende Gesichtspunkte, die heute ein selbstverständlicher Bestandteil der Methodenlehre sind.

[4]
Die zweite extreme Richtung knüpft an die unkritische Gleichsetzung von Gesetz und Gesetzestext mit den darin enthaltenen Rechtsnormen an. Der theoretische «Höhepunkt» sind «lécole de lexégèse» und die Schule der Begriffsjurisprudenz, die den praktischen Juristen zu einem blinden Werkzeug, zum sogennanten Sumsumtionsautomaten machen. Der praktische Jurist (der Richter) ist «viva vox legis», der die bereits gebildete Lösung im Hinblick auf den konkreten Fall nur mechanisch reproduziert. In der Sprache des «juristischen Syllogismus» würde das bedeuten, dass die oberen Prämissen (gesetzliche Tatbestände mit Rechtsfolgen) vollständig vorgegeben sind und dass es nur um die Aktivierung derjenigen geht, die mit einer fast mathematischen Genauigkeit von den Merkmalen des Lebenssachverhalts ausgelöst wird.
[5]
Ich will daher jene offenen Fragen der positivistischen normativistischen Rechtstheorie einander gegenüberstellen, die mehrheitlich vorkommen und die auch am stärksten verbreitet ist. Die normativen Theorien vertreten nicht die Auffassung, dass der Richter oder ein anderer Gesetzesanwender ein Subsumtionsapparat ist. Ihr gemeinsamer Nenner besteht darin, dass die normative Ebene des Rechts (des Gesetzes) im Prinzip bedeutungsmäßig ausreicht und dass man ihr deshalb konkrete rechtsrelevante Tatsachen unterordnen kann, die mit den normativ vorgesehenen vollständig identisch sind. Im Dialog mit Professor Lukić5 will ich dartun, wo die offenen Fragen sind und worin die Hauptunterschiede zur Argumentationstheorie liegen, die auch von der Theorie der normativen Konkretisierung des Gesetzes thematisiert werden.6

1.2.1.

Die Auslegung des Gesetzes und der gesetzliche Tatbestand ^

[6]

Lukić steht auf dem Standpunkt, dass die Auslegung «die Feststellung der genauen (oder richtigen) Bedeutung, des Sinnes der Rechtsnormen ist».7 Noch klarer ist die Definition, dass Gegenstand der Auslegung im engeren Sinn eine oder mehrere Rechtsnormen sind, die durch ein bestimmtes Band miteinander verbunden sind.8 Bei diesem Entwurf «beharrt» Lukić auch in seiner «Methodologie des Rechts» (1977). Darin betont er, dass die Auslegung die Rechtsnorm, die vom Gesetzgeber schon geschaffen wurde, eigentlich nur rekonstruiert. «Wenn man sagt, dass die Methode der Feststellung der richtigen Bedeutung (des Sinnes) der Rechtsnorm ist, dann versteht man natürlich, dass die Rechtsnorm schon besteht, dass sie bereits geschaffen ist».9

[7]
Es ist fraglich, ob die Rechtsnorm tatsächlich Gegenstand der Auslegung ist. Zweifellos versucht der Ausleger die Norm zu rekonstruieren und sie «als solche» zu erkennen. Doch diese Rekonstruktion ist nicht unmittelbar und kann es auch nicht sein. Gegenstand des unmittelbaren Erkennens ist nämlich nur der Gesetzestext, den der Ausleger mit einem entsprechenden Vorverständnis im Hinblick auf den historisch einmaligen Lebenssachverhalt, der die Auslegung hervorruft, als ein gesellschaftlich (kultur- und zivilisationsmäßig) determiniertes Wesen aufsucht.
[8]
Der Gesetzestext, der vom Ausleger erkannt wird, bietet reichlich Möglichkeiten, Bedeutungsnuancen und gegenseitige Verbindungen dar. Die einzelnen Auslegungsmethoden, die verbindlichen Auslegungsregeln und darunter insbesondere die Rechtsprinzipien bestimmt beitragen zum Verstehen des Gesetzestextes. Sie bringen in das Verstehen des Gesetzes «das rechte Maß» und das «Wertungskriterium» ein, welche die bedeutungsmäßige Gestaltung der Rechtsnorm beeinflussen. Die Untersuchungen zeigen, dass der Prozess des Verstehens nicht in einem solchen Maß voraussehbar ist, dass man ihn durch bedeutungsmäßig strikte Regeln eingrenzen könnte, die Zweifel, Mehrdeutigkeiten und verschiedene Ableitungen beseitigen würden.10 Das Ergebnis ist unerbittlich. «Eine ‹Bindung› des Richters könnten die Auslegungsregeln folglich nur leisten, wenn sie nicht nur – was sie tun – ein jeweils bestimmtes Auslegungsverfahren vorschreiben, sondern wenn sie darüber hinaus – was sie nicht tun – auch vorschreiben, in welchen Entscheidungssituationen welcher Auslegungsregel zu folgen ist: wenn sie also eine Meta-Regel für ihre Anwendung enthielten. Diese Regel existiert nicht.»11
[9]
Die «endgültige Regel» ist «nur» der Mensch. Er entscheidet und legt das Gesetz aus (den Gesetzestext als den unmittelbaren Gegenstand der Auslegung). Nur er wertet und bewertet die Verhältnisse zwischen den Elementen des Rechtsphänomens. Bei der Gesetzesauslegung geht es nicht nur darum, dass man (als Jurist) den Gesetzestext sprachlich versteht, sondern es geht auch darum, dass man ihn bedeutungsmäßig auffüllen muss, wenn der Text selbst nichts darüber aussagt, wie weit seine Bedeutung reicht oder was die Wertbegriffe und die Generalklauseln bedeuten, wie unbestimmte Begriffe zu verstehen sind, was das freie Ermessen im Recht umfasst usw. Nicht zuletzt ist es der Mensch (der Ausleger) der die Möglichkeiten (etwa die Beziehung zwischen dem allgemeinen und dem besonderen Teil des Strafgesetzes), die ihm vom Gesetz geboten werden, gestaltet und miteinander verbindet, der die Ableitung vollzieht, welche die Grundlage für die Entscheidung im konkreten Fall ist. In diesem Sinn ist die Ableitung das Ergebnis der Auslegung und nicht ein bereits bestehender Gegenstand, der vom Ausleger bloß erkannt wird.

1.2.2.

Die Auslegung des Lebenssachverhalts: der rechterhebliche oder endgültige Sachverhalt ^

[10]
Die zweite Ebene des Entscheidens bezieht sich auf die Identifizierung jener Tatsachen des Lebenssachverhalts (vernachlässigt sei dabei die Beweisführung des Lebenssachverhalts, der jetzt und hier stattfand), die man gewöhnlich rechtlich relevant nennt. Das sind jene Tatsachen, die als rechtserheblicher oder endgültiger Sachverhalt dem gesetzlichen Tatbestand entsprechen, an den eine Rechtsfolge anknüpft. In diesem Zusammenhang ist der Gedanke charakteristisch, dass «der konkrete Fall genau der in der Norm vorgesehene sein muss. Mit anderen Worten: Zwischen dem vorgesehenen (und in der Norm beschriebenen) Fall und dem tatsächlichen Fall, auf den die Norm angewendet wird, muss es eine vollkommene Identität geben. Anders gesagt, der konkrete Fall darf mit dem in der Norm vorgesehene Fall nicht bloß eine Ähnlichkeit aufweisen; der in der Norm vorgesehene und der wirkliche Sachverhalt sollen nicht bloß ähnlich, sie müssen vielmehr identisch sein; identisch im Sinn jener Identität, die zwischen einem gedachten und einem wirklichen Fall bestehen kann».12
[11]

Es scheint, dass der Zusatz von der Identität «im Sinn jener Identität, die zwischen einem gedachten und einem wirklichen Fall bestehen kann», die Behauptung von Lukić reichlich relativiert. Über eine vollkommene Identität kann man nur auf der Ebene der formal-logischen Zeichen sprechen; also nur dann, wenn die schon gebildeten untere und obere Prämisse in eine der Figuren des syllogistischen Schließens überführt sind. Die Beleidigung, als gesetzlicher Tatbestand, und die beleidigende Handbewegung sind erst dann vollkommen identisch, wenn man feststellt, dass «die beleidigende Handbewegung» (Sachverhalt) ein Fall der bedeutungsmäßig bestimmten «Beleidigung» (gesetzlicher Tatbestand) ist: dass «ein Fall ist», bedeutet, dass der Sachverhalt und der gesetzliche Tatbestand denselben «terminus medius» haben.

[12]
Es ist fraglich, ob das Gesetz wirklich «einen konkreten Fall genau beschreiben kann».13 Das Gesetz beschreibt nur den Typus, das Modell, die Form des Verhaltens und des Handelns, die sich auf vorgedachte Verhältnisse beziehen. Der Lebenssachverhalt hingegen ist immer einmalig und historisch unwiederholbar. Der Typus des Verhaltens und des Handelns gehört in die Welt des Normativen, das über Gesetze (die mit Ausnahme der mathematischen Zeichen aus Sprachzeichen bestehen) mitgeteilt und erkannt wird, während der Lebenssachverhalt ein Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist, die sprachlich beschrieben wird und erst über die Sprache zum Gegenstand der Kommunikation wird. Die rechtlich relevante Verbindung zwischen dem Typus des Verhaltens (des Handelns) und dem Lebenssachverhalt wird dadurch hergestellt, indem man feststellt, dass der Lebenssachverhalt Elemente aufweist, die der Fall eines bestimmten gesetzlichen Tatbestandes sind. Die Feststellung der Verbindung beruht nicht auf Identität, sondern durch sie wird die Identität erst geschaffen, wenn man aus dem normativen und dem Faktischen Ausgangspunkt der Entscheidung die obere und die untere Prämisse des sogenannten juristischen Syllogismus bildet.14
[13]

Die formallogische Identität des gesetzlichen Tatbestands und des Sachverhalts wird über die Erkenntnis erreicht, dass der Sachverhalt mit einem bestimmten gesetzlichen (typischen) Tatbestand engstens übereinstimmt. Dabei handelt es sich nur um eine Übereinstimmung (Ähnlichkeit), weil die Merkmale des gesetzlichen Tatbestands aus historisch einmaligen Fällen hervorgehen, die als solche einander nur ähnlich sein können. Der gesetzliche Tatbestand sieht als Gleiches (z.B. als Diebstahl) vor, was in der Wirklichkeit als eine unwiederholbare Tat vor sich geht. Die Verbindung zwischen dem Merkmal und der konkreten Tatsache beruht nicht auf der formal-logischen Identität von zwei Elementen, sondern diese Identität («terminus medius») wird durch die Entscheidung des Menschen dadurch gebildet (Peczenik würde das einen «Sprung», eine «Transformation innerhalb des Rechts» nennen15), dass eine konkrete Tatsache (ein tollwütiger Hund) eine Eigenschaft hat, die einem bestimmten gesetzlichen Merkmal (einer gemeingefährlichen Sache) entspricht.

1.2.3.

Die Verbindung der Ebenen des Normativen und des Faktischen ^

[14]
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass weder der normative noch der tatsächliche Ausgangspunkt der Entscheidung allein und unabhängig von der jeweils anderen Endscheidungsebene bewertet werden kann. Es wäre ungenau zu behaupten, dass Lukić diese Verbindung nicht berücksichtigt habe. In der «Methodologie des Rechts» schreibt Lukić ausdrücklich, dass man feststellen soll, «ob der konkrete Fall durch die allgemeine Norm geregelt ist, wonach diese entweder unmittelbar mit dem entsprechenden Verhalten der entsprechenden Subjekte angewendet wird, oder sie wird zunächst durch eine individuelle Norm konkretisiert und individualisiert, wonach erst diese durch ein entsprechendes Verhalten verwirklicht wird. In beiden Fällen muss man feststellen, erstens ob wirklich eine allgemeine Norm besteht, die einen solchen Fall regelt, und zweitens welcher Art diese Norm ist, wie sie genau lautet und was ihre richtige Bedeutung ist.»16
[15]

Man hat es mit sogenannten Rechts- und Tatfragen zu tun. Diese muss man lösen, bevor man die beiden Prämissen bildet. Lukić betont, dass es sich zwar um zwei unterschiedliche Fragegruppen handelt, diese sind jedoch miteinander verbunden. Zunächst werden «auf eine allgemeine Weise die Tatfragen gelöst, damit man später auf die Lösung – wieder auf eine allgemeine Weise – von Rechtsfragen übergehe, wonach man auf eine eingehendere Lösung zuerst des einen und dann des anderen übergeht, und das wird nach Bedarf mehrmals wiederholt … Dann geht man eine eingehendere Untersuchung von Tatfragen an, um festzustellen, ob wirklich Tatsachen vorhanden sind, die in der Norm vorgesehen sind, für die man aufgrund der allgemeinen Untersuchung voraussetzt, dass diese sie regelt, und dann wieder auf eine eingehendere Untersuchung der Bedeutung der Norm überzugehen, was wechselweise mehrmals durchgeführt werden kann, bis man zuletzt das eine oder das andere feststellt, das heißt, dass in Wirklichkeit keine Norm vorhanden ist, die diese Situation regelt. Sofern man schließlich feststellt, dass die Norm vorhanden ist, werden die beiden Arten des Handelns durch eine besondere logische Operation – durch den juristischen Syllogismus – miteinander verbunden.»17

[16]

Eine eingehendere Analyse zeigt, dass es sich nicht nur darum geht. Das Wandern zwischen dem Normativen und dem Faktischen, zwischen dem Faktischen und dem Normativen bedeutet, dass man das Normative nur im Hinblick auf das Faktische verstehen kann und das man auch das Faktische nicht ohne Bedachtnahme auf den normativen Ausgangspunkt der Entscheidung werten kann. Hinter dem scheinbaren «Automatismus» steht das Werten des Normativen im Hinblick auf das Faktische und des Faktischen im Hinblick auf das Normative. Dabei kann dieses Werten durch Rechtsprinzipien, Wertungskriterien und überhaupt durch verbindliche Auslegungsregeln, die rechtlich im Voraus vorgesehen sind, nicht vollständig eingegrenzt werden. Dann geht es nicht mehr darum, dass «Rechtsfragen» und «Tatfragen» miteinander verbunden sind und dass man sich zwischen den beiden Ebenen bewegt, bis man die Rechtsnorm entdeckt, die sich auf vorausgesehene konkrete Tatsache bezieht. Dann geht es – nolens volens – auch darum, dass der normative und der tatsächliche Ausgangspunkt der Entscheidung bedeutungsmäßig voneinander abhängig sind und dass sie bedeutungsmäßig durch ein Werten mitbestimmt werden, das ein wesentliches Element der Rechtsentscheidung in konkreten Fällen ist.

1.3.

Die Bedeutung des «juristischen Syllogismus» ^

[17]
In dieser Sicht erhält auch der «juristische Syllogismus» einen anderen Stellenwert. Die Argumentationstheorie unterscheidet scharf zwischen den Ausgangspunkten der Entscheidung, zwischen der Bildung der beiden Prämissen des syllogistischen Schließens, zwischen dem syllogistischen Schluß selbst und der Begründung, die überzeugende Argumente für die Entscheidung im konkreten Fall beinhaltet.18 Wenn es so ist, dann ist der «juristische Syllogismus» nur noch eine Stufe im Prozess der Entscheidung in konkreten Fällen. Er ist ein Glied, das zwar wichtig ist, doch nur ein Glied, das nicht die inhaltliche Überzeugungsfähigkeit und die Begründung der Rechtsentscheidung ersetzen kann.
[18]
Es ist eine Frage für sich, wie die Rechtentscheidung tatsächlich verläuft und wie der Träger der Rechtsentscheidung zu den Prämissen gelangt, aus denen dann logisch der Schluss folgt. Äußerlich ist nur die Rechtsentscheidung selbst mit den Argumenten erkennbar, die sie begründen. Für die Begründung bildet die syllogistische Form den Rahmen, in welchen beide Prämissen eingebettet werden müssen. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei, dass die obere Prämisse die allgemeine und abstrakte Rechtsnorm enthalten muss, welche die Sachverhalte gleich und objektiv erfasst. Doch das ist nur der Rahmen, der in der Begründung noch inhaltlich aufgefüllt werden muss, wobei überzeugende Argumente dafür anzuführen sind, wie man beide Prämissen bildet und miteinander verbindet.19 Kurzum, die syllogistische Form verlangt, dass man rational handelt und überprüft, ob die Prämissen überzeugend (begründet) sind, und dass man für die Entscheidung triftige Gründe anführt.

2.

Die Anwendung im elektronischen Formularverfahren ^

[19]
Ausgehend von einem Schichtenmodell des Verfahrens, welches gemeinsam mit Vytautas Čyras von der Universität Vilnius erarbeitet wurde20, ist die Subsumption im Sinne der obigen Darlegungen das zentrale Element des juristischen Entscheidungsverfahrens.
[20]
Ausgehend von den Fakten (1) werden bei einem antagonistischen Verfahren, wie etwa dem Zivilprozess oder dem Strafprozess, von den Parteien gegensätzliche Behauptungen (2a, 2b) aufgestellt, welche dann in den offiziellen Feststellungen (2c) münden. Diese Tatsachenfeststellungen wiederum sind die Grundlage für die rechtliche Deutung der Fakten (3), welche zunächst ebenfalls antagonistisch als Deutungsvorschläge der Parteien (3a, 3b) auftreten können. Die Fakten werden mit Kleinbuchstaben symbolisiert, die rechtlichen Bedeutungen, d.h. die Rechtsbegriffe, mit Großbuchstaben. Der Ausdruck a=A ist demnach so zu lesen, dass die Tatsache a mit der rechtlichen Bedeutung A verbunden wird. Auch hier gibt es eine offizielle Version der Deutung (3c). Ist die relevante Sachverhaltslage (1) zur Gänze in die Tatbestandselemente verwandelt, was als kognitive Subsumption angesehen werden kann und das verbindlich durch 3c geschieht, so kommt es zum zentralen Vorgang der normativen Subsumption (4) mit den diesbezüglichen Schritten (4a, 4b und 4c). Symmetrisch zur rechtlichen Deutung (3) ist dann die Konkretisierung der Norm (5) mit dem prozeduralen Ziel, die individuelle Norm (6) in die Realität (7) umzusetzen.
[21]
Die Besonderheit des elektronischen Formularverfahrens liegt darin, dass dieses derzeit zumeist im Bereiche des Massenverfahren des Verwaltungsrechtes stattfindet und dass dem Antragsteller, der die Formulare auszufüllen hat, die Aufgabe der Behauptungen (2) und der rechtlichen Deutungen (3) überwälzt wird:
[22]

Der Vorteil für das eGovernment liegt darin, dass bei Vorliegen der rechtlichen Bedeutungen die folgenden Schritte (4, 5 und 6) automatisch gesetzt werden können, weil bereits der elektronische Input ausreichend klar strukturiert ist. Dadurch kommt es aber in der Praxis zu einer nicht zu unterschätzenden Risikoüberwälzungen auf die Verfahrenspartei und es fehlt ein ausreichender ex ante Rechtsschutz gegen die Formulare selbst, denn die herkömmlichen Formen des ex post Rechtsschutzes sind bei fehlerhaften Eingabefiltern unwirksam. Die elektronischen Formularverfahren bringen somit nicht nur neue theoretische Themenstellungen mit sich sondern stellen selbst massive rechtspolitische Herausforderungen dar, was nicht zuletzt auch mit der automatischen Subsumption zusammenhängt.

3.

Literatur ^

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  1. 1 Der Text, der folgt, stützt sich mindestens teilweise auf die Diskussion zwischen Professor Radomir D. Lukić (1914–1999) und Marijan Pavčnik. Die Diskussion hat Professor Lukić am Ende der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts begonnen. Die neue Literatur (siehe z.B. Bung 2012, Lege 2012, Neumann 2012 und Gröschner 2012) bestätigt, dass die Diskussion Fragen erörterte, die noch immer aktuell und relevant sind. Siehe auch Toulmin 2003 (S. 100 ff.), der die Zweideutigkeiten des syllogistischen Schließens analysiert.
  2. 2 Engisch 1963, S. 15 ff. Vgl. auch Pavčnik 2008, S. 557 ff., und Rüthers, Fischer, Birk 2015, S. 404 ff.
  3. 3 Cohn 1967, S. 115 ff.
  4. 4 Typisch ist z.B. Ehrlichs Monographie «Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft» (1903). Siehe auch Gény 1932 (I), S. 203, und 1932 (II), S. 394 ff.
  5. 5 Vgl. Lukić 1987 und Pavčnik 1990.
  6. 6 Vgl. Pavčnik 1997.
  7. 7 Lukić 1961, S. 11.
  8. 8 Ibidem, S. 27–28.
  9. 9 Lukić 1977, S. 112.
  10. 10 Darüber siehe insbesondere Müller, Christensen 2013, S. 299 ff.
  11. 11 Hassemer 1986, S. 204.
  12. 12 Lukić 1987, S. 353.
  13. 13 Ibidem, S. 354.
  14. 14 Über die Rolle, die bei der Bildung der Prämissen das tertium comparations hat, siehe an mehreren Stellen insbesondere in Kaufmann 1982 und 1999. Siehe auch Lachmayer 2005.
  15. 15 Siehe Peczenik 1989, S. 114 ff. und 130 ff.
  16. 16 Lukić 1977, S. 224−225.
  17. 17 Ibidem, S. 225.
  18. 18 Anders MacCormick 1978, der glaubt, dass in einfachen Fällen schon unmittelbar ein logisch deduktiver Schluss möglich ist, weil beide Prämissen klar und bestimmt sind (S. 101).
  19. 19 Vgl. Wróblewski 1974, der zwischen interner und externer Rechtfertigung der Rechtsentscheidung unterscheidet; so auch Alexy 1983, S. 273 ff.
  20. 20 Vgl. Čyras, Lachmayer (2013).