1.1.
Der «juristische Syllogismus» als Problemgerüst ^
Die Frage nach der Bedeutung, die dem sogenannten juristischen Syllogismus im Prozess der Rechtsentscheidung in konkreten Fällen zukommt, ist an sich nicht problematisch. Wenn beide Prämissen gebildet sind, geht es nur noch darum, den Schluss (die Rechtsfolge) auszusprechen. Der Schluss (conclusio) wird aus zwei verschiedenen Urteilen (terminus maior und terminus minor), die durch den Mittelbegriff (terminus medius) miteinander verbunden sind, abgeteilt. Die obere Prämisse (terminus maior, der Obersatz) enthält den gesetzlichen Tatbestand mit der Rechtsfolge. Dem gesetzlichen Tatbestand wird die untere Prämisse (terminus minor, der Untersatz) untergeordnet, der mit dem Sachverhalt identisch ist, d.h. mit rechtsrelevanten Tatsachen, die auf der Ebene des Konkreten (des Faktischen) ein Fall (terminus medius) des gesetzlichen Tatbestandes sind. Diese Verbindung ermöglicht den Schluss, der sich mit formal-logischer Notwendigkeit aus den beiden Prämissen ergibt. Die endgültige Rechtsentscheidung beruht nicht auf einem einzigen Schluss. Sie besteht aus so vielen Schlüssen, wie es Elemente des gesetzlichen Tatbestandes gibt, die konkretisiert werden müssen. Am Beispiel des gesetzlichen Tatbestandes der Beleidigung, kann man dartun, wie die Schlussfolgerung aussieht.
Wer einen anderen beleidigt, wird mit einer Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft.
A hat B beleidigt.
A wird mit einer Geldstrafe oder mit Gefängnis bestraft.
* * *
Die Beleidigung wurde durch eine Tat, durch Worte oder Gesten begangen. Die Beleidigung durch die Tat weist Merkmale M1, M2, M3 auf; die Beleidigung durch Worte hat die Merkmale …
A schlug B mit einem Buch auf die Wange. Das Handeln von A weist Elemente auf, die den Merkmalen M1, M2, M3 entsprechen.
Die Tat von A ist ein Fall von Beleidigung.
* * *
Der Täter der Beleidigung, die durch die Elemente E1, E2, E3 gekennzeichnet ist, wird mit einer Geldstrafe (G1, G2, G3) bestraft.
Die Beleidigung von A weist Elemente auf, die E1 entsprechen.
A wird mit der Geldstrafe G1 bestraft.
Man könnte noch weiter analysieren. Dieses Verfahren ist vom Standpunkt der Rechtsinformatik wichtig. Diese muss nämlich die Frage beantworten, in welchem Umfang und wie ein Computer bei der Rechtsentscheidung nützlich sein kann. Im Licht der Argumentationstheorie ist entscheidend, dass der syllogistische Schluss das Ergebnis einer vorangehenden Entscheidung ist, die im Hinblick auf das Gesetz den gesetzlichen Tatbestand und im Hinblick auf den Lebenssachverhalt den (rechtserheblichen oder endgültigen) Sachverhalt ausmacht. Der syllogistische Schluss ist im Prozess der Rechtsentscheidung die Schlussphase. Auf ihn folgt nur noch Begründung, d.h. man muss begründen, warum und wie man sich entscheiden hat. Es ist kein Zufall, dass der Subsumtionsschluss selbst weder praktisch noch theoretisch fraglich ist. Der «juristische Syllogismus» ist lediglich «das Grundgerüst», an welches die offenen Fragen anknüpfen. Die Fragen, über die sich die Meinungen scheiden, beziehen sich vor allem:
- auf den Begriff der Gesetzesauslegung (d.h. der Auslegung der formellen Rechtsquellen);
- auf die Bedeutung des Lebenssachverhalts als tatsächlichen Ausgangspunkt der Entscheidung und
- auf die wertende Verbindung, auf das sogenannte «Hin- und Herwandern des Blickes», zwischen dem Faktischen und dem Normativen.2
1.2.
Offene Fragen ^
Wenn ich diese Fragen beantwortete oder wenigstens zu beantworten versuche, distanziere ich mich bewusst von jenen Theorien, die lebensfremd sind und nicht dem entsprechen, was im Prozess der Rechtsentscheidung tatsächlich vor sich geht. Es gibt vor allem zwei extreme Richtungen. Die eine lehnt die abstrakt-regulative Ebene (das Gesetz als normativer Ausgangspunkt des Entscheidens) ab und betont das konkrete und den Lebenssachverhalt, welche die Quelle des Rechts sein sollten. Der Schwerpunkt des Problems liegt dabei im strittigen Verhältnis und dessen Konflikten, die vom Richter gelöst werden müssen. Wenn der Richter entscheidet, stützt er sich nicht auf das Gesetz, sondern auf die Merkmale des konkreten Streits, die sich von Fall zu Fall unterscheiden («situationsgebundenes Entscheiden»). Im Vergleich zu dieser Entscheidungsart, die für den Rechtsexistentialismus3 kennzeichnend ist, war die «Freirechtsschule» viel gemäßigter. Sie lehnte sich in ihrem gesunden Kern gegen die Begriffsjurisprudenz auf und trat für eine freiere Rechtsfindung ein. Sie knüpft an die Lücken an, die in den Gesetzen vorhanden sind. Ihr geht es um die Anwendung des Analogieschlusses (insbesondere im Sinn der Gesetzesanalogie), um die Berücksichtigung des Gerichts- und des Juristenrechts4; also um leitende Gesichtspunkte, die heute ein selbstverständlicher Bestandteil der Methodenlehre sind.
1.2.1.
Die Auslegung des Gesetzes und der gesetzliche Tatbestand ^
Lukić steht auf dem Standpunkt, dass die Auslegung «die Feststellung der genauen (oder richtigen) Bedeutung, des Sinnes der Rechtsnormen ist».7 Noch klarer ist die Definition, dass Gegenstand der Auslegung im engeren Sinn eine oder mehrere Rechtsnormen sind, die durch ein bestimmtes Band miteinander verbunden sind.8 Bei diesem Entwurf «beharrt» Lukić auch in seiner «Methodologie des Rechts» (1977). Darin betont er, dass die Auslegung die Rechtsnorm, die vom Gesetzgeber schon geschaffen wurde, eigentlich nur rekonstruiert. «Wenn man sagt, dass die Methode der Feststellung der richtigen Bedeutung (des Sinnes) der Rechtsnorm ist, dann versteht man natürlich, dass die Rechtsnorm schon besteht, dass sie bereits geschaffen ist».9
1.2.2.
Die Auslegung des Lebenssachverhalts: der rechterhebliche oder endgültige Sachverhalt ^
Es scheint, dass der Zusatz von der Identität «im Sinn jener Identität, die zwischen einem gedachten und einem wirklichen Fall bestehen kann», die Behauptung von Lukić reichlich relativiert. Über eine vollkommene Identität kann man nur auf der Ebene der formal-logischen Zeichen sprechen; also nur dann, wenn die schon gebildeten untere und obere Prämisse in eine der Figuren des syllogistischen Schließens überführt sind. Die Beleidigung, als gesetzlicher Tatbestand, und die beleidigende Handbewegung sind erst dann vollkommen identisch, wenn man feststellt, dass «die beleidigende Handbewegung» (Sachverhalt) ein Fall der bedeutungsmäßig bestimmten «Beleidigung» (gesetzlicher Tatbestand) ist: dass «ein Fall ist», bedeutet, dass der Sachverhalt und der gesetzliche Tatbestand denselben «terminus medius» haben.
Die formallogische Identität des gesetzlichen Tatbestands und des Sachverhalts wird über die Erkenntnis erreicht, dass der Sachverhalt mit einem bestimmten gesetzlichen (typischen) Tatbestand engstens übereinstimmt. Dabei handelt es sich nur um eine Übereinstimmung (Ähnlichkeit), weil die Merkmale des gesetzlichen Tatbestands aus historisch einmaligen Fällen hervorgehen, die als solche einander nur ähnlich sein können. Der gesetzliche Tatbestand sieht als Gleiches (z.B. als Diebstahl) vor, was in der Wirklichkeit als eine unwiederholbare Tat vor sich geht. Die Verbindung zwischen dem Merkmal und der konkreten Tatsache beruht nicht auf der formal-logischen Identität von zwei Elementen, sondern diese Identität («terminus medius») wird durch die Entscheidung des Menschen dadurch gebildet (Peczenik würde das einen «Sprung», eine «Transformation innerhalb des Rechts» nennen15), dass eine konkrete Tatsache (ein tollwütiger Hund) eine Eigenschaft hat, die einem bestimmten gesetzlichen Merkmal (einer gemeingefährlichen Sache) entspricht.
1.2.3.
Die Verbindung der Ebenen des Normativen und des Faktischen ^
Man hat es mit sogenannten Rechts- und Tatfragen zu tun. Diese muss man lösen, bevor man die beiden Prämissen bildet. Lukić betont, dass es sich zwar um zwei unterschiedliche Fragegruppen handelt, diese sind jedoch miteinander verbunden. Zunächst werden «auf eine allgemeine Weise die Tatfragen gelöst, damit man später auf die Lösung – wieder auf eine allgemeine Weise – von Rechtsfragen übergehe, wonach man auf eine eingehendere Lösung zuerst des einen und dann des anderen übergeht, und das wird nach Bedarf mehrmals wiederholt … Dann geht man eine eingehendere Untersuchung von Tatfragen an, um festzustellen, ob wirklich Tatsachen vorhanden sind, die in der Norm vorgesehen sind, für die man aufgrund der allgemeinen Untersuchung voraussetzt, dass diese sie regelt, und dann wieder auf eine eingehendere Untersuchung der Bedeutung der Norm überzugehen, was wechselweise mehrmals durchgeführt werden kann, bis man zuletzt das eine oder das andere feststellt, das heißt, dass in Wirklichkeit keine Norm vorhanden ist, die diese Situation regelt. Sofern man schließlich feststellt, dass die Norm vorhanden ist, werden die beiden Arten des Handelns durch eine besondere logische Operation – durch den juristischen Syllogismus – miteinander verbunden.»17
Eine eingehendere Analyse zeigt, dass es sich nicht nur darum geht. Das Wandern zwischen dem Normativen und dem Faktischen, zwischen dem Faktischen und dem Normativen bedeutet, dass man das Normative nur im Hinblick auf das Faktische verstehen kann und das man auch das Faktische nicht ohne Bedachtnahme auf den normativen Ausgangspunkt der Entscheidung werten kann. Hinter dem scheinbaren «Automatismus» steht das Werten des Normativen im Hinblick auf das Faktische und des Faktischen im Hinblick auf das Normative. Dabei kann dieses Werten durch Rechtsprinzipien, Wertungskriterien und überhaupt durch verbindliche Auslegungsregeln, die rechtlich im Voraus vorgesehen sind, nicht vollständig eingegrenzt werden. Dann geht es nicht mehr darum, dass «Rechtsfragen» und «Tatfragen» miteinander verbunden sind und dass man sich zwischen den beiden Ebenen bewegt, bis man die Rechtsnorm entdeckt, die sich auf vorausgesehene konkrete Tatsache bezieht. Dann geht es – nolens volens – auch darum, dass der normative und der tatsächliche Ausgangspunkt der Entscheidung bedeutungsmäßig voneinander abhängig sind und dass sie bedeutungsmäßig durch ein Werten mitbestimmt werden, das ein wesentliches Element der Rechtsentscheidung in konkreten Fällen ist.
1.3.
Die Bedeutung des «juristischen Syllogismus» ^
2.
Die Anwendung im elektronischen Formularverfahren ^
Der Vorteil für das eGovernment liegt darin, dass bei Vorliegen der rechtlichen Bedeutungen die folgenden Schritte (4, 5 und 6) automatisch gesetzt werden können, weil bereits der elektronische Input ausreichend klar strukturiert ist. Dadurch kommt es aber in der Praxis zu einer nicht zu unterschätzenden Risikoüberwälzungen auf die Verfahrenspartei und es fehlt ein ausreichender ex ante Rechtsschutz gegen die Formulare selbst, denn die herkömmlichen Formen des ex post Rechtsschutzes sind bei fehlerhaften Eingabefiltern unwirksam. Die elektronischen Formularverfahren bringen somit nicht nur neue theoretische Themenstellungen mit sich sondern stellen selbst massive rechtspolitische Herausforderungen dar, was nicht zuletzt auch mit der automatischen Subsumption zusammenhängt.
3.
Literatur ^
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- 1 Der Text, der folgt, stützt sich mindestens teilweise auf die Diskussion zwischen Professor Radomir D. Lukić (1914–1999) und Marijan Pavčnik. Die Diskussion hat Professor Lukić am Ende der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts begonnen. Die neue Literatur (siehe z.B. Bung 2012, Lege 2012, Neumann 2012 und Gröschner 2012) bestätigt, dass die Diskussion Fragen erörterte, die noch immer aktuell und relevant sind. Siehe auch Toulmin 2003 (S. 100 ff.), der die Zweideutigkeiten des syllogistischen Schließens analysiert.
- 2 Engisch 1963, S. 15 ff. Vgl. auch Pavčnik 2008, S. 557 ff., und Rüthers, Fischer, Birk 2015, S. 404 ff.
- 3 Cohn 1967, S. 115 ff.
- 4 Typisch ist z.B. Ehrlichs Monographie «Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft» (1903). Siehe auch Gény 1932 (I), S. 203, und 1932 (II), S. 394 ff.
- 5 Vgl. Lukić 1987 und Pavčnik 1990.
- 6 Vgl. Pavčnik 1997.
- 7 Lukić 1961, S. 11.
- 8 Ibidem, S. 27–28.
- 9 Lukić 1977, S. 112.
- 10 Darüber siehe insbesondere Müller, Christensen 2013, S. 299 ff.
- 11 Hassemer 1986, S. 204.
- 12 Lukić 1987, S. 353.
- 13 Ibidem, S. 354.
- 14 Über die Rolle, die bei der Bildung der Prämissen das tertium comparations hat, siehe an mehreren Stellen insbesondere in Kaufmann 1982 und 1999. Siehe auch Lachmayer 2005.
- 15 Siehe Peczenik 1989, S. 114 ff. und 130 ff.
- 16 Lukić 1977, S. 224−225.
- 17 Ibidem, S. 225.
- 18 Anders MacCormick 1978, der glaubt, dass in einfachen Fällen schon unmittelbar ein logisch deduktiver Schluss möglich ist, weil beide Prämissen klar und bestimmt sind (S. 101).
- 19 Vgl. Wróblewski 1974, der zwischen interner und externer Rechtfertigung der Rechtsentscheidung unterscheidet; so auch Alexy 1983, S. 273 ff.
- 20 Vgl. Čyras, Lachmayer (2013).