1.
Problemaufriss ^
- Mehrere bevorzugte Aufenthaltsorte mit Bindung an Lebensabschnittsgefährten, Studienort und Verwandte wie im Fall von Leonie Müller, die ein Leben zwischen Stuttgart, Tübingen, Köln, Berlin und Bielefeld mit Hilfe einer Netzkarte der Deutschen Bank AG führt4.
- Trennung von Familienwohnung und Arbeitsort5, ggf. auch über Staatsgrenzen hinweg.
- Hauptwohnsitz und Lebensmittelpunkt im Ausland, nicht zuletzt infolge der europäischen Integration6.
2.
Entwicklung des Bürgerrechtes aus historisch-philosophischer Sicht ^
3.
Wahlarithmetische Wirkung der heutigen Regelung geografisch definierter Wahlkreise ^
Wie jüngst in einigen Beiträgen zum Wahlrecht der Auslandsbürger thematisiert12, ist der Anteil der prinzipiell Wahlberechtigten mit Hauptwohnsitz im Ausland signifikant und geeignet, Wahlergebnisse zu beeinflussen. Nehmen wir nur den Wahlkreis Märkischer Kreis II, der bei der Bundestagswahl 2013 mit 53 Stimmen Vorsprung zwischen CDU und SPD entschieden wurde: Für diesen Kreis und damit für das zu vergebende (direkte) Bundestagsmandat hätte es gereicht, wenn 27 Wähler anders entschieden hätten. Bei insgesamt 206.189 Wahlberechtigten in diesem Kreis und einer Wahlbeteiligung von 70,4% ist offensichtlich, dass eine Handvoll zusätzlich hier registrierter z.B. Auslandsdeutscher diesen Wahlkreis (anders) entscheiden hätten können13. Bei der besagten Bundestagswahl haben 67.057 Auslandsdeutsche entsprechende Anträge gestellt14. Bei angenommener Gleichverteilung auf 299 Wahlkreise ergibt das pro Wahlkreis 224 Wähler – mehr, als im Märkischen Kreis II für die Mandatsentscheidung notwendig gewesen wären. Analog gibt es in diesem Wahlkreis wohl etliche Bürger, die Zweitwohnsitze haben und deshalb in anderen Wahlkreisen registriert sind. Auch diese hätten, da sie sicherlich wenigstens 27 sind15, die Wahl wenigstens theoretisch anders entscheiden können, hätten sie ihren Erstwohnsitz im Wahlkreis gewählt.
- EU-Bürger, denen nur auf kommunaler Ebene Gleichstellung mit den deutschen Staatsangehörigen zusteht.
- Sonstige «Periöken und Heloten», die zwar gut integriert sind und vermutlich in weit höherem Maß mit den Gegebenheiten des geografisch definierten Wahlkreises vertraut sind als ein Auslandsdeutscher, der den Wahlkreis seit Jahren oder Jahrzehnten nicht mehr betreten hat.
- Die rein geografisch definierten Wahlkreise treffen die Lebensrealität eines signifikant großen und – vermutet – immer größeren Teils des Elektorats nicht mehr.
- Versuche, bislang faktisch ausgeschlossene Gruppen wie v.a. Auslandsdeutsche in die geografisch definierten Wahlkreise zu integrieren, unterminieren letztendlich wirksam die Illusion der «Wahlgemeinde».
- Letztendlich entscheiden infolge Anteils an der Bevölkerung und sinkenden Wahlbeteiligungen immer geringere Gruppen über die politischen Verhältnisse.
4.
Bestandteile und Vorschlag eines alternativen Konzepts ^
- Die Vollendung des 18. Lebensjahres für das aktive Wahlrecht sowie die Volljährigkeit für das passive Wahlrecht.
- Die Staatsangehörigkeit, hier die deutsche.
- Den ca. 1,13 Mio. Deutschen in den USA elf eigene Bundestagsabgeordnete zu.
- Den ca. 275.000 Deutschen im UK und in der Schweiz jeweils drei eigene Bundestagsabgeordnete zu.
- Den zwischen 164.800 und 204.124 Deutschen in Kanada, Spanien, Italien und Frankreich jeweils zwei eigene Bundestagsabgeordnete zu.
- Und auch den über 99.214 bis 152.871 Deutschen in den Niederlanden, Australien, Griechenland, der Türkei und Österreich auch noch jedenfalls ein Bundestagsabgeordneter zu.
- Wahrung der Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 GG.
- MECE – Mutually exclusive, collectively exhausting: Die Gruppen müssen das gesamte Elektorat abdecken und niemand darf in zwei Gruppen Mitglied sein (können); ggf. muss organisatorisch sichergestellt sein, dass dies nicht passiert.
- Faktischer Zugang zur Wahl: Das gegenwärtige Verfahren, mit dem Auslandsdeutsche ihr Wahlrecht geltend machen und Eintragung in das Wählerverzeichnis erlangen können, hat bspw. erhebliche Schwächen, was den Zugang betrifft18.
- Geografisch weiter bestehenden Wahlkreisen für diejenigen, die zweifelsohne ihren einzigen Wohnsitz dort haben.
- Bildung von eigenen Wahlkreisen für Auslandsdeutsche, bspw. für «Deutsche in Österreich» etc.
- Bildung eigener Wahlkreise für Zweit- bzw. Mehrfachgemeldete, bspw. «Baden-Württemberg/Sachsen» für Bürger mit Erst- und Zweiwohnsitz in diesen beiden Bundesländern.
- Schaffung belastbarer Distanzwahlverfahren für die beiden neuen Wahlkreisgruppen.
- Einführung eines bundeseinheitlichen zentralen Wählerverzeichnisses anstelle der unabgestimmten dezentralen Verzeichnisse.
- 1 Dieses Erkenntnis des BVerfG führte zur Ausgestaltung des § 12 Abs. 2 BWahlG, d.h. zum Wahlrecht für Auslandsdeutsche.
- 2 Wie sie im § 12 Abs. 4 BWahlG für Seeleute, Binnenschiffer und Häftlinge definiert ist.
- 3 Vgl. hierzu Claas Friedrich Germelmann (2014), Das Wahlrecht der Auslandsdeutschen im Lichte globaler Kommunikations- und Aufenthaltsgewohnheiten, Juristische Ausbildung 2014 (3), S. 310–322, sowie Robert Müller-Török / Norbert Schäfer (2013), Hauptwohnort, Wahlrecht und steuerliche Veranlagung – Besteht Anpassungsbedarf anhand geänderter Lebenswirklichkeiten?, Verwaltung & Management 2013 Heft 2 oder jüngst Arne Pautsch / Robert Müller-Török (2015), Grenzüberschreitende Zustellung von Briefwahlunterlagen – (Völker-)rechtlicher Anpassungsbedarf?, Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2015 Heft 3.
- 4 Siehe «Studentin lebt in der Bahn: Freiwillig wohnungslos», http://www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/deutschebahn-statt-wohnung-studentin-lebt-jetzt-in-zuegen-a-1048909.html (per 30. Dezember 2015).
- 5 Der Autor Müller-Török lebt mit Hauptwohnsitz und Ehefrau in München, sein Arbeitsort befindet sich in Ludwigsburg, ca. 260 Kilometer entfernt. Der Autor Pautsch lebt mit Hauptwohnsitz und Ehefrau in Adenbüttel, sein Arbeitsort befindet sich ebenfalls in Ludwigsburg, ca. 500 Kilometer entfernt.
- 6 Der Autor Müller-Török ist österreichischer Staatsangehöriger und für die Nationalratswahl im Regionalwahlkreis Wien-Innen-West (9B) wahlberechtigt. In diesem Wahlkreis hält er sich – zufällig – maximal fünf Tage im Jahr auf und verfügt demnach über eine äußerst geringe Vertrautheit mit den örtlichen politischen Gegebenheiten.
- 7 Vgl. bspw. https://www.gov.uk/register-to-vote (per 5. Januar 2016)
- 8 Christoph Horn / Christof Rapp (2002), Wörterbuch der antiken Philosophie. CH Beck, München, S. 358
- 9 Ibid.
- 10 Martin Heidegger (2009), Leitgedanken zur Entstehung der Metaphysik, der neuzeitlichen Wissenschaft und der modernen Technik. Klostermann, Frankfurt, S. 294 f.
- 11 Vgl. Stephan Zweig (2001), Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, Kapitel 7. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
- 12 Vgl. Pautsch / Müller-Török, a.a.O. sowie Robert Müller-Török / Arne Pautsch (2015), Stochastische Verfälschung von Wahlergebnissen bei grenzüberschreitender Briefwahl, Verwaltung & Management, 4/2015.
- 13 Vgl. https://www.bundestag.de/wk150 (per 3. Januar 2016) sowie Bundeswahlleiter (2014), Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 – Heft 5, Teil 1, Wiesbaden 2014.
- 14 Ibid, S. 30.
- 15 Das statistische Jahrbuch 2013 der Stadt Lüdenscheid differenziert nicht zwischen Erst- und Zweitwohnsitzgemeldeten, sondern gibt dafür nur jeweils eine Summe an. Bei insgesamt ca. 75.000 Einwohnern ist es allerdings äußerst unwahrscheinlich, dass nicht allerwenigstens die erforderlichen 27 Zweitwohnsitzgemeldeten vorhanden sind (vgl. http://www.luedenscheid.de/buerger/rathaus/jahrbuch/Statistisches_Jahrbuch_2013-02-Bevoelkerung.pdf [per 5. Januar 2016]). 2011 waren im Bundesgebiet 589.000 Nebenwohnsitze vorhanden, vgl. https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/Bevoelkerung/HaushalteUndLebensformen_112012.pdf?__blob=publicationFile (per 5. Januar 2016).
- 16 OECD (2015), Talente im Ausland: Ein Bericht über deutsche Auswanderer, OECD Publishing Paris, S. 15.
- 17 Vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/218263/umfrage/mitglieder-des-fc-bayern-muenchen/ (per 3. Januar 2016).
- 18 Vgl. Pautsch / Müller-Török, a.a.O., Müller-Török / Pautsch, a.a.O. sowie jüngst Robert Müller-Török / Arne Pautsch / Alexander Prosser (2015), Legal Aspects of Cross-Border Delivery of Voting Documents – A Neglected Issue?, in: Proceedings of the EGOSE 2015, St. Petersburg.