1.
Einführung ^
Mit Hilfe korpuslinguistischer Werkzeuge (u.a. Voyant Tools1 und Werkzeuge zur Lesbarkeitsprüfung von Texten) arbeiten wir mögliche typische Kennzeichen der Sprache in Gerichtsentscheidungen sowie Unterschiede der beiden Varietäten vor allem auf der lexikalischen Ebene heraus.
2.
Unterschiede in Norm- und Entscheidungstexten am Begriffsbeispiel Obsorge ^
Während wir uns im letzten Beitrag mit einem Vergleich von ABGB und BGB befasst haben (Mielke/Wolff 2013), sollen hier neuere Urteile und Beschlüsse der höchsten Gerichte beider Länder untersucht werden. Bei ABGB und BGB handelt es sich um Gesetzeswerke, die einen älteren Sprachstand repräsentieren und in einem Abstand von knapp 100 Jahren entstanden sind. In ihnen finden sich heute alltagssprachlich nicht oder kaum mehr gebräuchliche Wortformen, wie z.B. bey als dritthäufigstes Wort oder Obsorge als 13. häufigstes Wort im ABGB nach Eliminierung von Stoppwörtern (Mielke/Wolff 2013, 380 f.). Letzterer Begriff, der im BGB nicht vorkommt (Mielke/Wolff 2013, 380) wird von Duden Online wie folgt erläutert: «österreichische Amtssprache, sonst veraltet für sorgende Aufsicht» (http://www.duden.de/rechtschreibung/Obsorge). Analysiert man das Vorkommen dieses Begriffs nun in Gerichtsentscheidungen, ergibt sich folgendes Bild: Eine Anfrage in der österreichischen Datenbank RIS ergibt 2605 Entscheidungen, davon allein 80 OGH-Urteile aus dem Jahr 2015 mit dem Suchbegriff Obsorge. Die Suche in der für das deutsche Recht einschlägigen Datenbank juris führt erwartungsgemäß zu geringeren Zahlen. Überraschend ist, dass sich doch immerhin 269 Treffer über alle Dokumenttypen hinweg ergeben, wovon 153 Dokumente nach der von juris vorgenommenen Zuordnung dem Familienrecht angehören. Die Analyse der 121 Treffer aus der Rechtsprechungsdatenbank zeigt, dass neben in juris gespeicherten Entscheidungen des OGH und des EuGH auch eine nicht unerhebliche Anzahl von Entscheidungen deutscher Gerichte diesen Begriff enthält. Die Analyse der aktuellsten fünfzig Entscheidungen in juris, die den Suchbegriff Obsorge enthalten, ergibt neun OGH-Entscheidungen, weitere neun Entscheidungen deutscher Gerichte bzw. des EuGH, die auf österreichische Verfahren Bezug nehmen, sowie zwei Entscheidungen zum mazedonischen Recht. Die übrigen Entscheidungen betreffen unterschiedliche Rechtsgebiete, wobei auffallend ist, dass allein elf der 30 Entscheidungen, die sich nicht mit dem österreichischen bzw. mazedonischen Recht befassen, das Tierschutzgesetz zum Thema haben. So heißt es beispielsweise in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Aachen vom 16. Oktober 2009: «Für die Tierhaltereigenschaft ist entscheidend das tatsächliche, umfassende Obsorgeverhältnis gegenüber einem Tier». Es zeigt sich somit, dass der nach Duden im Deutschen als veraltet geltende Begriff sich in aktuellen deutschen Gerichtsentscheidungen findet, obwohl in deutschen Normen der Begriff nahezu nicht vorkommt.2
3.
Österreichische und deutsche Rechtssprache ^
3.1.
Juristische Textsorten ^
Zur Abgrenzung der verschiedenen juristischen Textsorten finden sich nur wenige Ausführungen, Busse 2000, 1 beklagt hier eine «eklatante Forschungslücke», die – soweit ersichtlich – noch nicht geschlossen wurde. In einem kursorischen Überblick unterscheidet Busse u.a. zwischen folgenden Textsorten: Normtexte (Gesetz, Verordnung etc.), Texte der Normtext-Auslegung (Kommentar, Urteilsbesprechung etc.), Rechtsprechung (Urteil, Beschluss etc.) und Texte des Rechtsfindungsverfahrens (Klageschrift, Plädoyer etc.), wobei neben den Normtexten die Rechtsprechungstexte den Kern der juristischen Textsorten ausmachen (Busse 2000, 15; vgl. dazu für die österreichische Rechts- und Verwaltungssprache der Gegenwart Wiesinger 2008, 105).
3.2.
Merkmale der Urteilssprache ^
Innerhalb der Textsorte Rechtsprechung können verschiedene Urteilstypen unter Berücksichtigung fachgerichtlicher oder instanzenbezogener Merkmale sowie intern unterschiedliche Textteile ausgemacht werden. Zu einer untergeordneten Teil-Textsorte zählt etwa die Rechtsmittelbelehrung, die als eigenständiger Textblock deutlich abgegrenzt und in formelhafter Gestalt erscheine (Busse 2000, 15). Die Formelhaftigkeit als hervorstechendes Merkmal der Rechtssprache von Gerichten und Verwaltungsbehörden mit ständig wiederkehrenden Wendungen gerade bei Urteilen und Beschlüssen betonen auch Kucharski 2009, 46 f. und Wiesinger 2008, 118 ff. Kucharski nennt dazu folgende Beispiele aus österreichischen Entscheidungen:
«Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung binnen 14 Tagen zulässig, welches beim … (Name des Gerichts) einzubringen ist» oder
«Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen. Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet. Dem Angeklagten ***** fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.» (jeweils Kucharski 2009, 46).
3.3.
Österreichische und deutsche Urteilssprache im Vergleich ^
Ein weiteres Anliegen dieses Beitrags ist es, der Frage nachzugehen, ob sich in österreichischen und deutschen Entscheidungen Sprachunterschiede finden lassen. Zur Differenzierung der nationalen Varietäten des Deutschen findet sich eine Menge an Literatur, wie etwa von Ammon 1995. Einen Forschungsüberblick zum österreichischen Deutsch geben z.B. Muhr/Sellner in dem Sammelband Zehn Jahre Forschung zum Österreichischen Deutsch: 1995–2005. Eine Bilanz. Zeman 2009 beschreibt Besonderheiten der österreichischen Varietät systematisch nach linguistischen Analyseebenen. Markhardt 1999 gibt eine knappe Übersicht zu den Besonderheiten der österreichischen Rechtssprache; die Autorin hat auch ein Wörterbuch der österreichischen Rechtsterminologie vorgelegt (Markhardt 2006), vgl. auch Kucharski 2009, der Austriazismen im Erb- und Familienrecht untersucht hat. Wiesinger untersuchte unterschiedliche Texte aus der österreichischen Rechts- und Verwaltungssprache (u.a. eine Auswahl an Gesetzen, Bescheiden, anwaltlichen Schriftsätzen) teilweise unter Anwendung des «Hamburger Verständlichkeitskonzepts» und stellte sie den Untersuchungen zur bundesdeutschen Verwaltungssprache, zur deutschen Sachprosa und den Untersuchungen zu österreichischen Tageszeitungen gegenüber (Wiesinger 2008, 109 ff.). Dabei erfolgte aber eine nur exemplarische Textauswahl (vier Formulare der Finanzlandesdirektion, drei Auszüge aus Vorschriften, zwei Merkblätter, Wiesinger 2008, 108). Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die österreichischen Amtstexte hinsichtlich der Satzlängen mit denen der Sachprosa korrespondieren und eher wortreicher sind als die bundesdeutschen Amtstexte, weiterhin stellt er einen hohen Anteil von Passivkonstruktionen sowie eine häufige Wiederholung einzelner Verben fest, wobei der nominale Stilcharakter in der österreichischen Amts- und Verwaltungssprache stärker ausgeprägt sein soll als in der bundesdeutschen (Wiesinger 2008, 127 f.). Über diese Untersuchungen hinaus liegen bislang für die Textsorte Gerichtsentscheidungen keine Arbeiten vor, die sich der Fragestellung mit Hilfe korpuslinguistischer Methoden angenähert hätten.
4.
Materialauswahl, Textaufbereitung und Korpusaufbau ^
4.1.
Materialauswahl ^
Bei der Auswahl sollten sowohl zivil- als auch strafrechtliche Aspekte berücksichtigt werden, und neben synchronen Aspekten (aktueller Sprachgebrauch in Gerichtsentscheidungen) sollte auch grundsätzlich eine diachrone Analyse möglich sein. Auf der Basis dieser Vorüberlegungen haben wir ein Korpus zusammengestellt, dessen Aufbau Tabelle 1 zeigt:
Quelle | ||
BGH | OGH | |
Strafrecht | 1.000 neueste Entscheidungen | 1.000 neueste Entscheidungen |
Entscheidungen zum Eigentumsvorbehalt | alle Entscheidungen zum Suchbegriff Eigentumsvorbehalt, insgesamt 490 Dokumente | alle Entscheidungen zum Suchbegriff Eigentumsvorbehalt, insgesamt 602 Dokumente |
4.2.
Textaufbereitung ^
Als Textmaterial verbleibt:
BGH: Tenor – Tatbestand – Entscheidungsgründe bzw. Tenor – Gründe
OGH: Kopf – Spruch – Text – Gründe / Begründung – Rechtliche Beurteilung
4.3.
Umfang des Korpus ^
Tabelle 2 gibt einen groben Überblick zum Textumfang der jeweiligen Teilkorpora:
Teilkorpus | Entscheidungen | Zeichen (ohne Leerzeichen) | Wörter / token | types | Druckseiten5 |
BGH Strafrecht | 1.000 | 5.993.348 | 988.997 / 1.088.671 | 48.676 | 1.366 |
OGH Strafrecht | 1.000 | 7.452.859 | 1.216.550 / 1.201.213 | 43.155 | 1.729 |
BGH Eigentumsvorbehalt | 490 | 8.777.547 | 1.439.393 / 1.424.366 | 47.681 | 1.823 |
OGH Eigentumsvorbehalt | 602 | 7.785.546 | 1.231.546 / 1.227.222 | 54.286 | 1.596 |
Für die Datenaufbereitung wurden typische Werkzeuge der Textaufbereitung wie Sublime 2 / 3 und Microsoft Word eingesetzt. Mit Hilfe regulärer Ausdrücke, vorhandener Ersetzungsfunktionen sowie einfacher Makros wurden die Texte ins gewünschte Zielformat gebracht. Mit etwa fünf Millionen laufenden Wortformen oder mehr als 6.000 engbedruckten DIN A4-Seiten handelt es sich angesichts der fokussierten Fragestellung um einen durchaus umfangreichen Datenbestand, der nicht intellektuell analysiert werden könnte.
5.
Analysen ^
5.1.
Textlänge im Vergleich ^
Aus den Ausgangsdaten lassen sich leicht mittlere Werte der Entscheidungslänge in den Teilkorpora bestimmen (Wortanzahl und Seitenlänge), vgl. Tabelle 3.
Teilkorpus | Länge pro Entscheidung in Seiten | Länge pro Entscheidung in Wörtern |
BGH Strafrecht | 1,37 | 989,00 |
OGH Strafrecht | 1,73 | 1.216,55 |
BGH Eigentumsvorbehalt | 3,72 | 2.937,54 |
OGH Eigentumsvorbehalt | 2,65 | 2.045,76 |
5.2.
Häufigkeitsanalysen ^
Die von den Voyant Tools ermittelten most disctinctive words, die sich im jeweiligen Teilkorpus am deutlichsten von den anderen Teilkorpora unterscheiden, heben erkennbar auf das jeweilige Rechtsgebiet im Teilkorpus ab (Tabelle 4):
BGH Strafrecht | OGH Strafrecht | BGH Eigentumsvorbehalt | OGH Eigentumsvorbehalt |
angeklagten (8.117) | stpo (7.377) | klägerin (9.513) | partei (6.557) |
angeklagte (3.962) | stgb (6.858) | beklagten (7.536) | beklagten (5.184) |
landgericht (3.126) | nichtigkeitsbeschwerde (3.737) | beklagte (6.997) | klagenden (2.254) |
bgh (2.933) | gerichtshofs (3.252) | bgb (4.742) | beklagte (4.570) |
urteil (3.671) | obersten (3.456) | berufungsgericht (4.827) | abgb (1.828) |
Tabelle 5 führt diesen Vergleich weiter und vergleicht in absteigender Sortierung nach Häufigkeit die jeweils 30 häufigsten Begriffe im Gesamtkorpus und in den vier Teilkorpora.
Gesamtkorpus | BGH Strafrecht | OGH Strafrecht | BGH Eigentums- vorbehalt | OGH Eigentums- vorbehalt | |
1 | angeklagten | angeklagten | stpo | klägerin | partei |
2 | beklagten | angeklagte | stgb | beklagten | beklagten |
3 | klägerin | urteil | angeklagten | beklagte | beklagte |
4 | beklagte | stpo | nichtigkeits- beschwerde | berufungsgericht | klägerin |
5 | stpo | landgericht | obersten | bgb | klagenden |
6 | stgb | stgb | gerichtshofs | revision | kläger |
7 | urteil | bgh | urteil | firma | eigentums- vorbehalt |
8 | revision | revision | 2014 | kläger | abgb |
9 | partei | 2014 | berufung | forderungen | angeklagten |
10 | angeklagte | beschluss | entscheidung | bghz | erstgericht |
11 | berufungsgericht | landgerichts | wk-stpo | urteil | revision |
12 | entscheidung | senat | beschluss | bgh | klagende |
13 | gemäß | feststellungen | landesgerichts | eigentums- vorbehalt | urteil |
14 | 2014 | fällen | wien | forderung | berufungsgericht |
15 | kläger | entscheidung | feststellungen | recht | gemäß |
16 | feststellungen | gemäß | gerichtshof | anspruch | entscheidung |
17 | bgb | strafkammer | gemäß | eigentum | firma |
18 | bgh | kosten | generalprokuratur | höhe | eigentum |
19 | firma | urteilsgründe | angeklagte | gemäß | folge |
20 | obersten | sinne | verbrechens | zpo | stgb |
21 | nichtigkeits- beschwerde | jahren | erstgericht | gegenüber | recht |
22 | beschluss | tenor | beurteilung | gemein- schuldnerin | beurteilung |
23 | sache | verurteilt | beschwerde | bank | obersten |
24 | landgericht | monaten | ratz | sache | sache |
25 | berufung | sache | oberste | klage | zahlung |
26 | recht | nstz | hauptverhandlung | abtretung | gemein- schuldnerin |
27 | kosten | gründe | nichtöffentlicher | insoweit | vereinbarung |
28 | eigentums- vorbehalt | insoweit | staatsanwaltschaft | berufungs- gerichts | forderungen |
29 | gerichtshofs | bghst | schuldspruch | vertrag | gegenüber |
30 | höhe | verworfen | erkannt | entscheidung | geltend |
Die Tabelle zeigt, dass sich in den beiden Strafrechtskorpora und allen vier Korpora zum Eigentumsvorbehalt eine ganze Reihe von identischen Nomen der Rechtssprache finden. Im Korpus zum Eigentumsvorbehalt sind mehrere Begriffe an exakt derselben Rangstelle wie z.B. beklagten und beklagte an Position zwei bzw. drei oder sache jeweils exakt an Position 24. Im Strafrechtskorpus finden sich ebenfalls viele identische Begriffe, wenn auch insgesamt weniger als im Korpus zum Eigentumsvorbehalt. In den beiden Strafrechtskorpora spiegelt sich vor allem das unterschiedliche Rechtsmittelsystem in Österreich und Deutschland wieder. So ist der vierthäufigste Begriff im OGH-Korpus nach angeklagten, stpo und stgb (die alle ebenfalls unter den 30 häufigsten Begriffen der BGH-Entscheidungen vorkommen) der Ausdruck nichtigkeitsbeschwerde, der vereinfacht ausgedrückt der deutschen Revision entspricht (der an achter Stelle im BGH-Korpus zu finden ist). Auch andere Begriffe beider Korpora zeigen bekannte Unterschiede, wie landesgericht vs. landgericht, bgh vs. oberste(n) gerichtshof(s), bgb vs. abgb. Gleiches gilt für generalprokuratur und wk-stpo oder den Eigennamen (Ratz) des OGH-Präsidenten im österreichischen Korpus zum Strafrecht sowie bghz im deutschen Korpus zum Eigentumsvorbehalt. Interessant ist, dass das Akronym ABGB ähnlich häufig vorkommt wie BGB, obwohl es in Österreich keine gesetzliche Regelung des Eigentumsvorbehalts gibt, vgl. oben Fn. 4.
5.3.
Verständlichkeitsanalyse ^
Aus technischen Gründen war hier das Korpus zu verkleinern, wir haben die vier Teilkorpora auf je zwei Millionen Zeichen reduziert und von beiden Plattformen analysieren lassen. Tabelle 6 und Tabelle 7 zeigen die wichtigsten Ergebnisse:
Teilkorpus | Silben | Wörter | Sätze | Satzlänge in Wörtern | Flesch-Formel |
BGH Strafrecht | 526.244 | 281.051 | 14.818 | 18,97 | 29 |
OGH Strafrecht | 521.935 | 275.986 | 9.577 | 28,82 | 18 |
BGH Eigentumsvorbehalt | 529.314 | 278.383 | 16.729 | 16,64 | 29 |
OGH Eigentumsvorbehalt | 523.895 | 271.305 | 12.154 | 22,32 | 21 |
Teilkorpus | Silben | Wörter | Sätze | Satzlänge in Wörtern | Flesch Kincaid Reading Ease | Flesch Kincaid Grade Level | Gunning Fog Score | Coleman Liau Index |
BGH Strafrecht | 516.051 | 283.463 | 25.292 | 11,2 | 41,4 | 10,3 | 8,5 | 16,8 |
OGH Strafrecht | 515.292 | 281.932 | 14.970 | 18,8 | 33,1 | 13,3 | 11,4 | 16,4 |
BGH Eigentums-vorbehalt | 516.274 | 280.615 | 23.929 | 11,7 | 39,3 | 10,7 | 8,8 | 17,1 |
OGH Eigentums-vorbehalt | 301.212 | 161.545 | 9.479 | 16,9 | 32 | 13 | 10,9 | 17,9 |
Bei der Betrachtung der Ergebnisse wird trotz erheblicher Unterschiede zwischen beiden Tools etwa bei der errechneten Satzlänge deutlich, dass die OGH-Entscheidungen als schlechter lesbar bzw. verständlich eingeordnet werden, was im Einklang mit den Ergebnissen von Wiesinger 2008, 109 ff. für die österreichische Amtssprache im Allgemeinen steht. Nur der in der Berechnung einfachere Coleman Liau-Index ermittelt diese Unterschiede nicht.
6.
Fazit ^
Über die vorgestellten quantitativen Ergebnisse hinaus lassen sich vielfältige weiterführende Forschungsfragen bzw. Untersuchungsmethoden erkennen:
- Die Analyse von Kollokationsmengen für ausgewählte Begriffe hilft, das semantische Umfeld von Begriffen in einem Korpus zu beschreiben, womit ebenfalls kontrastive Untersuchungen möglich wären.9
- Eine weitergehende computerlinguistische Verarbeitung der Daten, z.B. die Kennzeichnung der Wortarten im Korpus durch einen part-of-speech-Tagger (POS-Tagger), könnte dazu dienen, den Grad der Nominalisierung, also den oft beklagten Nominalstil juristischer Fachtexte, auch korpuslinguistisch zu überprüfen.
- Eine vollständige Syntaxanalyse und der quantitative Vergleich der syntaktischen Strukturen ist ebenfalls wünschenswert, dürfte aber bei den vorliegenden komplexen Sätzen kaum eindeutig zu leisten sein. Denkbar ist eine Erkennung der Komplexität von Satzgefügen in POS-getaggten Texten. Dies entspräche der Methodik, wie sie Wiesinger 2008, 112 ff. (intellektuell) durchführt.
- Auf der Ebene der Textgrammatik und Rhetorik ließen sich zwar Modelle wie die Rhetorical Structure Theory anwenden, aber kaum automatisiert auswerten (Mann/Thompson 1988).
- Auch die diachrone Entwicklung der Textsorte kann mit Hilfe der vollständig digital vorliegenden Entscheidungssammlungen nachvollzogen werden.
7.
Literatur ^
Ammon, Ulrich, Die Deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz: Das Problem der Nationalen Varietäten. Berlin: W. de Gruyter, 1995.
Kroiß, Ludwig/Neurauter, Irene, Formularsammlung für Rechtspflege und Verwaltung, 24., aktualisierte Auflage, München: Beck, 2014.
Busse, Dietrich, Textsorten des Bereichs Rechtswesen und Justiz, in: Gerd Antos/Klaus Brinker/Wolfgang Heinemann/Sven F. Sager (Hrsg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft) Berlin/New York: de Gruyter, 2000, Artikel Nr. 58, S. 658–675.
Engberg, Jan, Konventionen von Fachtextsorten: Kontrastive Analysen zu deutschen und dänischen Gerichtsurteilen. Tübingen: Narr, 1997.
Krefeld, Thomas, Das französische Gerichtsurteil in linguistischer Sicht: Zwischen Fach- und Standessprache. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1985.
Kucharski, Michael, Austriazismen im Erb- und Familienrecht, Diplomarbeit, Universität Wien, Übersetzerstudium, August 2009, online: http://othes.univie.ac.at/6255/.
Mann, William C./Sandra A. Thompson, Rhetorical structure theory: Toward a functional theory of text organization. In: Text – Interdisciplinary Journal for the Study of Discourse, 1988, Band, Heft 3, S. 243–281.
Markhardt, Heidemarie, Das Wörterbuch der österreichischen Rechts-, Wirtschafts- und Verwaltungsterminologie. In: Muhr, Rudolf/Manfred B. Sellner (Hrsg.), Zehn Jahre Forschung Zum Österreichischen Deutsch: 1995-2005: Eine Bilanz. Frankfurt am Main: P. Lang, 2006 [= Österreichisches Deutsch. Sprache der Gegenwart Band 10].
Markhardt, Heidemarie, JUS versus JURA. Eigenheiten der öst. Sprache im juristischen Bereich, in: Lebende Sprache, Zeitschrift für fremde Sprache in Wissenschaft und Praxis, 1999, Band 44, Heft 3, S. 102–104.
Mielke, Bettina/Wolff, Christian, Österreichisch-deutsche Rechtssprache kontrastiv: Eine corpuslinguistische Analyse. In: Erich Schweighofer, Franz Kummer & Walter Hötzendorfer (Hrsg.), 16. Internationales Rechtsinformatik-Symposion (IRIS 2013) 377–384. Salzburg: Österreichische Computer-Gesellschaft (ÖCG).
Muhr, Rudolf/Manfred B. Sellner, Zehn Jahre Forschung zum Österreichischen Deutsch: 1995-2005: Eine Bilanz. Frankfurt am Main: P. Lang, 2006 [= Österreichisches Deutsch. Sprache der Gegenwart Band 10].
Roessler, Paul, Entwicklungstendenzen der österreichischen Rechtssprache seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Eine syntaktische, stilistische und lexikalische Untersuchung von Studiengesetzen und -verordnungen. Frankfurt am Main [u.a.]: Peter Lang [= Schriften zur deutschen Sprache in Österreich, Bd. 16], 1994.
Simon, Heike/Funk-Baker, Gisela, Einführung in das deutsche Recht und die deutsche Rechtssprache, 3. Auflage, München: C.H. Beck, 2006.
Wiesinger, Peter, Das österreichische Deutsch in Gegenwart und Geschichte, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Wien, Lit, 2008 [= Austria: Forschung und Wissenschaft – Literatur, Band 2].
Zeman, Dalibor, Überlegungen zur Deutschen Sprache in Österreich: Linguistische, sprachpolitische und soziolinguistische Aspekte der Österreichischen Varietät. Hamburg: Kovač, 2009 [= Philologia Band 131].
- 1 Vgl. http://voyant-tools.org und Mielke/Wolff 2013, 378.
- 2 Eine Anfrage in der Normtextdatenbank von juris ergibt als Quellen lediglich die Bayerische Verfassung (Art. 162: Das geistige Eigentum, das Recht der Urheber, der Erfinder und Künstler genießen den Schutz und die Obsorge des Staates.), das bayerische Gesetz über die Abmarkung der Grundstücke (Art. 11 Abs. 8 S. 1: Den Vereinigungen, in denen sich die Feldgeschworenen mehrerer Gemeinden und gemeindefreier Gebiete zur Wahrung gemeinsamer Interessen und zur Pflege der Tradition zusammenschließen, läßt der Staat besondere Obsorge angedeihen.) und die Anlage zur EG-Prozesskostenhilfeverordnung – Formular für Anträge auf Prozesskostenhilfe in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union. Zumindest unter den 50 aktuellsten Entscheidungen in juris, die den Suchbegriff Obsorge enthalten, findet sich keine Entscheidung, die sich mit diesen Normen befassen.
- 3 Zu den Monographien, die sich mit Gerichtsurteilen befassen, zählen die Dissertation von Krefeld über französische Urteile (Krefeld 1985) und die Arbeit von Engberg, der deutsche und dänische Urteile vergleicht (Engberg 1997).
- 4 Markhardt 1999, 104: «Der im Vertragsrecht sowohl in Österreich als auch in Deutschland existente Begriff ‹Eigentumsvorbehalt› ist wiederum unterschiedlich geregelt: In Österreich nicht im Gesetz, in Deutschland gesetzlich im BGB. Der Begriff ‹erweiterter Eigentumsvorbehalt› ist in Österreich unbekannt.»
- 5 Konkret: Format DIN A4 einzeilig, Schrift Times New Roman 10 pt, übliche Ränder (2–3 cm).
- 6 Ein Nebenaspekt, der aber durchaus berichtenswert erscheint, ist die Frequenzreihung der in den Urteilen aufscheinenden Monatsnamen im Gesamtkorpus wie folgt: März 3210, Dezember 3204, November 3132, Januar + Jänner 3085, Oktober 2981, April 2877, Juni 2820, Mai 2792, Juli 2759, September 2658, Februar 2495, August 2244, Januar 2013, Jänner 1072.
- 7 Für die Anregung, den Aspekt Lesbarkeit bzw. Verständlichkeit gerade bei Rechtstexten mit Hilfe von Online-Tools zu untersuchen, danken wir Christoph Pfeiffer, M. A., Universität Regensburg.
- 8 Die deutschen und englischen Wikipedia-Einträge zu Lesbarkeitstests (https://de.wikipedia.org/wiki/Lesbarkeitsindex bzw. https://en.wikipedia.org/wiki/Readability_test) geben einen guten Überblick zu den wichtigsten Metriken und erläutern den Aufbau der Formeln.
- 9 Voyant Tools bieten hierfür geeignete Werkzeuge, aus Platzgründen haben wir hier auf solche Analysen verzichtet.