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E-Justice-Gesetz – Durchbruch für den elektronischen Rechtsverkehr?

Einführung des Obligatoriums zur Nutzung von E-Justice im Bereich der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte sowie der Strafverfolgungsbehörden

  • Authors: Martin Dumermuth / Sandra Eberle
  • Category: Articles
  • Region: Switzerland
  • Field of law: E-Justice
  • Citation: Martin Dumermuth / Sandra Eberle, E-Justice-Gesetz – Durchbruch für den elektronischen Rechtsverkehr?, in: Jusletter IT 18 May 2017
An active usage of electronic legal transactions with the courts of all federal levels is still missing. It is for this reason, that in autumn 2016, an alliance consisting of the Federal Supreme Court, numerous cantonal courts, the Swiss judiciary, cantonal general prosecutions as well as the Swiss bar association addressed themselves to the Conference of Directors of Cantonal Departments of Justice and Police (CCDJP). Authorities and professional legal representatives shall be obliged to use electronic legal transactions (e-justice) by means of a legislative adjustment. The authors present a new legislative project. (ah)

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Die Vision
  • 2. Die Realität
  • 3. Die Entwicklung
  • 4. Der Anspruch
  • 5. Die Umsetzung
  • 5.1. Minimalvariante
  • 5.2. Maximalvariante
  • 5.3. Koordination
  • 6. Die Zukunft

1.

Die Vision ^

[1]
Ein neuer Klient betritt eine Anwaltskanzlei zum vereinbarten Termin. Am Empfang werden unter Verwendung seiner anerkannten E-ID1 seine Personalien in der Kanzleisoftware erfasst und ein elektronisches Dossier wird eröffnet. Die Anwältin widmet sich persönlich dem Klienten und den rechtlichen Fragen. Sie fasst das Gespräch in Stichworten direkt im elektronischen Dossier zusammen. Mitgebrachte Unterlagen werden während des Gesprächs durch die dafür geschulten Kanzleimitarbeitenden eingescannt und dem elektronischen Dossier beigefügt. Der Klient kann die Originalunterlagen wieder mitnehmen. Die Anwältin bereitet die Eingabe vor und legt sie im elektronischen Dossier ab. Mit einem Mausklick erfolgt nach der sicheren Identifizierung ein Upload ins elektronische Aktensystem. Von dort wird die Eingabe in das elektronisch geführte Gerichtsdossier beim zuständigen Gericht eingefügt. Die weitere Bearbeitung erfolgt in einem definierten Geschäftsprozess. Im Verlauf des Verfahrens erhält der Anwalt der Gegenpartei Zugang zu den elektronischen Akten und kann diese in das elektronische Dossier seiner Klientin ablegen.
[2]
Der Verein eJustice.CH2 hat im November 2016 «Eine Vision für eJustice in der Schweiz»3 entworfen und an der Tagung für Informatik und Recht4 vorgestellt. Mit dieser Initiative versucht der Verein, ein gemeinsames Verständnis des anzustrebenden Ziels zu schaffen und Leitlinien für die Zusammenarbeit aller Akteure zu formulieren. Damit soll der Transformationsprozess der Digitalisierung im Justizbereich zum bestmöglichen Nutzen aller Beteiligten und des Gemeinwesens gefördert werden.

2.

Die Realität ^

[3]
Die Verfahrensordnungen sehen bereits seit 2011 vor, dass die Übermittlung von Eingaben und Verfügungen auf elektronischem Weg erfolgen kann. Trotzdem muss festgestellt werden, dass der Verkehr zwischen Gerichten und den Verfahrensbeteiligten bisher nur in wenigen Fällen elektronisch abgewickelt wird. So wurden zwischen 2011 und 2014 beim Bundesgericht im Durchschnitt erst zwei Dutzend, 2015 und 2016 knapp vierzig elektronische Eingaben entgegen genommen.5 Die Anzahl elektronischer Eingaben bei kantonalen Gerichten und Bezirksgerichten dürften sich in Bezug auf die Gesamtlast ebenfalls im Promillebereich bewegen.
[4]
Als Vergleich dazu die Zahlen aus dem Betreibungswesen. Zusammen mit Betreibungsämtern, Gläubigerinnen und Gläubigern sowie Softwareherstellerinnen hat das Bundesamt für Justiz (BJ) den eSchKG Standard für den elektronischen Austausch von Betreibungsdaten entwickelt. Gestartet wurde das Projekt 2007. Seit 2011 sind alle Betreibungsämter verpflichtet, Eingaben auch elektronisch entgegen zu nehmen. 2016 wurden im eSchKG-Verbund6 erstmals über eine Million Betreibungsverfahren elektronisch abgewickelt. In den Kantonen Neuenburg und Genf wurden im vergangenen Jahr mehr als die Hälfte aller Betreibungsbegehren elektronisch eingereicht. Gesamtschweizerisch wurde 2016 bereits mehr als ein Drittel oder mehr als eine Million Betreibungsverfahren elektronisch abgewickelt. 2015 betrug der Anteil ein Viertel, 2014 ein Fünftel, 2013 ein Sechstel und bereits 2012 wurde jedes siebte Betreibungsbegehren elektronisch eingereicht.
[5]
Die Gründe für die schleppende Entwicklung von E-Justice sind vielfältig. Einerseits sind die Mittel zur Anbringung von qualifizierten digitalen Unterschriften, wie die SuisseID, nicht genügend verbreitet, andererseits ist immer wieder die sogenannte «Huhn-Ei-Problematik» anzuführen: Solange die Gerichte keine elektronischen Dossiers führen, sind die Anreize für die Anwaltskanzleien klein, sich «digitaltauglich» zu machen, und wenn die Parteien nicht bereit sind und auf digitalisierte Prozesse drängen, werden die Gerichte mit der Umstellung zuwarten. Dazu kommt, dass aufgrund der föderalen Strukturen der Schweiz der Bund die kantonalen Gerichte zwar zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs, nicht aber zur Führung eines elektronischen Dossiers verpflichten kann.
[6]
Dies ist bei den umliegenden europäischen Staaten anders: Während Frankreich und Österreich von einer zentralistisch aufgebauten Justizlandschaft profitiert haben, hat die deutsche Bundesregierung – ausgehend von einer Initiative der Bundesländer – eine Einführung der elektronischen Justizführung bis 2018 vorgegeben und damit den Prozess massiv beschleunigt.

3.

Die Entwicklung ^

[7]
Mit der ZertES7-Totalrevision wurden per 1. Januar 2017 die Bestimmungen der Verfahrensgesetze8 angepasst. Damit werden wichtige Fragen zur Nachreichung auf Papier und zum Nachweis der Fristwahrung bei der elektronischen Eingabe geklärt. Art. 8a VeÜZSSV9 nennt nun abschliessend die Gründe, aus denen die Nachreichung von Eingaben und Beilagen auf Papier verlangt werden kann. Dies ist nur möglich, wenn die Dokumente von der Behörde nicht geöffnet werden können oder für die Behörde beim Anzeigen am Bildschirm oder in gedruckter Form nicht lesbar sind. In Artikel 8b der Verordnung wird zudem festgehalten, dass für die Wahrung einer Frist der Zeitpunkt massgebend ist, in dem die von den Verfahrensbeteiligten verwendete Zustellplattform bestätigt, dass sie die Eingabe zuhanden der Behörde erhalten hat (Ausstellung der Abgabequittung).
[8]

Damit wurden die gesetzlichen Voraussetzungen soweit geschaffen, als es das föderalistische Gerichtssystem zulässt. In einem nächsten Schritt sollen nun Behörden und professionelle anwaltliche Vertreterinnen und Vertreter zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs und zur elektronischen Aktenführung (E-Justice) verpflichtet werden.

4.

Der Anspruch ^

[9]

Eine Allianz von Bundesgericht, zahlreichen kantonalen Gerichten, kantonalen Oberstaatsanwaltschaften sowie schweizerischer Richterschaft und Schweizerischem Anwaltsverband hat sich im Herbst 2016 an die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und direktoren (KKJPD) gewandt. Die KKJPD ist an ihrer Herbstversammlung vom November 2016 einstimmig zum Schluss gekommen, dass eine rechtliche Grundlage für die Einführung eines Obligatoriums zur Nutzung von E-Justice im Bereich der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte sowie der Strafverfolgungsbehörden geschaffen werden soll.

[10]
Bundesrätin Simonetta Sommaruga hat daraufhin das Bundesamt für Justiz BJ beauftragt, die Arbeiten an einem entsprechenden Gesetzgebungsprojekt aufzunehmen. Zur Mitarbeit eingeladen werden die kantonalen Gerichte und Oberstaatsanwaltschaften, das Bundesgericht, das Bundesverwaltungsgericht, die schweizerische Richterschaft, die Bundesanwaltschaft und der Schweizerische Anwaltsverband. Die Kantone werden im Rahmen des Programmes «Harmonisierung der Informatik in der Strafjustiz HIS» an den notwendigen Gesetzgebungsarbeiten beteiligt. Die Koordination der Arbeiten erfolgt direkt mit dem Generalsekretariat KKJPD.

5.

Die Umsetzung ^

[11]

Die rechtlichen Grundlagen für die Einführung eines Obligatoriums zur Nutzung von E-Justice im Bereich der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte sowie der Strafverfolgungsbehörden sollen im Rahmen eines eigenen Gesetzgebungsprojektes geschaffen worden. Die derzeit bereits bearbeiteten Revisionen der StPO10 und der ZPO11 sind dafür nicht geeignet, da es sich hier um eine Querschnittsfrage handelt. Zudem stellen sich insbesondere für den Bereich des Verwaltungsverfahrens (u.a. VwVG12 und Sozialversicherungsrecht13) verschiedene Fragen, die den Umfang der Revision StPO resp. ZPO sprengen. Derzeit wird geprüft, ob gesetzestechnisch ein Mantelerlass mit dem Sammeltitel «E-Justice-Gesetz» die richtige Form sei.

5.1.

Minimalvariante ^

[12]
Die Minimalvariante führt für bestimmte Gruppen eine Pflicht zur Nutzung von E-Justice im Bereich der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte sowie der Strafverfolgungsbehörden ein. Vereinfacht gesagt: Eine Umformulierung von «Eingaben können elektronisch erfolgen» zu «Eingaben von Behörden und Personen, die zur berufsmässigen Vertretung gemäss Art. 68 Abs. 2 ZPO befugt sind, müssen elektronisch erfolgen».

5.2.

Maximalvariante ^

[13]
Die Maximalvariante führt zum durchgängigen elektronischen Ablauf von Verfahren im Bereich der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte sowie der Strafverfolgungsbehörden. Dabei werden die Verfahren analysiert und Hindernisse für die Nutzung von E-Justice identifiziert, um diese zu beseitigen oder zu verkleinern. Geprüft wird auch der Einbezug weiterer Bereiche, insbesondere der Verfahren mit Registern (Grundbuch, Handelsregister) sowie Betreibungs- und Konkursämtern.
[14]

Jeder Vorgang wird auch dahingehend geprüft, ob eine handschriftliche Unterschrift, bzw. eine digitale Signatur tatsächlich nötig ist, oder ob die sichere elektronische Identifizierung bei der anerkannten Zustellplattform mittels einer anerkannten E-ID ausreichend ist. Heute wird davon ausgegangen, dass das E-ID-Gesetz14 bis zur parlamentarischen Behandlung des E-Justice-Gesetzes in Kraft ist.

[15]

Zwischen den Teilsystemen von E-Justice bestehen zahlreiche Wechselwirkungen. Typischerweise lässt sich jedes Teilsystem nur dann effizient elektronisch betreiben, wenn auch die umgebenden Prozesse elektronisch ablaufen, bzw. wenn auch alle Beteiligten elektronisch arbeiten. Allenfalls werden deshalb die nötigen rechtlichen Vorkehrungen getroffen, um die Voraussetzungen für eine zentral zugängliche Aktenführung mit Akteneinsicht und Vorgaben zur elektronischen Archivführung zu schaffen. Damit würde die Motion 12.4139 «Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs»15 vollumfänglich erfüllt.

5.3.

Koordination ^

[16]
Die Einführung des Obligatoriums zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs im Bereich der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte sowie der Strafverfolgungsbehörden ist nur eines von verschiedenen laufenden Projekten zur Förderung von E-Justice. Unter der Leitung resp. Koordination der KKJPD bestehen weitere Projekte:
  • im Programm HIS – Harmonisierung der Informatik in der Strafjustiz wird die Vernetzung von Kantonsbehörden, Bundesbehörden, den Polizeikorps und den Staatsanwaltschaften vorangetrieben;
  • bereits seit 2011 vernetzen sich die Polizeikorps im Programm HPI – Harmonisierung der Polizeiinformatik; und
  • das Projekt «eJus2020» befasst sich mit der Digitalisierung aller Bereiche der Justiz, insbesondere mit der Umstellung der gesamten schweizerischen Justizlandschaft auf die elektronische Dossierbearbeitung.

6.

Die Zukunft ^

[17]
Für die Minimalvariante ist es realistisch, die Vernehmlassung im zweiten Quartal 2018 eröffnen zu können. Ist hingegen der durchgängige elektronische Ablauf von Verfahren im Bereich der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte sowie der Strafverfolgungsbehörden einzuführen und wird zudem noch die elektronische Akteneinsicht und elektronische Archivierung angestrebt, braucht das Projekt mehr Zeit.
[18]

Nach dem Vernehmlassungsverfahren und der Erarbeitung der Botschaft liegt es in den Händen des Parlaments, den Gesetzgebungsprozess zügig voranzutreiben. Vor 2021 ist jedoch nicht mit dem Inkrafttreten eines E-Justice-Gesetzes zu rechnen.


 

Prof. Dr. iur. Rechtsanwalt Martin Dumermuth, Direktor des Bundesamtes für Justiz BJ und Präsident des Vereins eJustice.CH.

 

Lic. iur. Sandra Eberle, juristische Sachbearbeiterin im Fachbereich Rechtsinformatik des BJ.

  1. 1 Der Vorentwurf zum Bundesgesetz über anerkannte elektronische Identifizierungsmittel, E-ID-Gesetz, ist derzeit in Vernehmlassung. Die Vernehmlassungsunterlagen und weitere Informationen zum Projekt finden sich hier: https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/staat/gesetzgebung/e-id.html (alle Internetadressen aufgerufen am 18. April 2017).
  2. 2 Der Verein eJustice.CH verfolgt den Zweck, den Einsatz von Informationstechnologie zur Steigerung der Leistungsfähigkeit und Bürgernähe im Justizbereich zu fördern. Er vereint die Gerichte des Bundes und einer Vielzahl von Kantonen, den schweizerischen Anwalts- resp. Notarenverband, als auch weitere in diesem Prozess wichtige Organisationen (Bundesamt für Justiz BJ, KKJPD, IT-Dienstleisterinnen) im Bereich der Justiz und der Rechtsinformatik und kann deshalb zu einem gemeinsamen Grundverständnis und einer zielführenden Zusammenarbeit aller Akteurinnen und Akteure beitragen.
  3. 3 http://www.ejustice.ch/de/vision_schweiz.html.
  4. 4 https://rechtsinformatik.ch/. Einige der an der Tagung für Informatik und Recht gehaltenen Vorträge sind in dieser Ausgabe von Jusletter IT als Podcasts verfügbar.
  5. 5 2011: 18 von 7‘419 Eingängen, 2012: 25 von 7‘871 Eingängen, 2013: 30 von 7‘919 Eingängen, 2014: 25 von 7‘703 Eingängen, 2015: 39 von 7‘853 Eingängen, 2016: 38 von 7‘743 Eingängen. Quelle: Geschäftsberichte des Bundesgerichts http://www.bger.ch/index/federal/federal-inherit-template/federal-publikationen/federal-pub-geschaeftsbericht.htm.
  6. 6 Mehr Informationen zum Projekt eSchKG unter www.eschkg.ch.
  7. 7 Bundesgesetz vom 18. März 2016 über Zertifizierungsdienste im Bereich der elektronischen Signatur und anderer Anwendungen digitaler Zertifikate, Bundesgesetz über die elektronische Signatur (ZertES, SR 943.03).
  8. 8 Z.B. Art. 130 Abs. 2 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008, Zivilprozessordnung (ZPO, SR 272) und Art. 110 Abs. 2 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007(StPO, SR 312.0).
  9. 9 Verordnung vom 18. Juni 2010 über die elektronische Übermittlung im Rahmen von Zivil- und Strafprozessen sowie von Schuldbetreibungs- und Konkursverfahren (VeÜ-ZSSV, SR 272.1).
  10. 10 Motion 14.3383 (Mo RK-S), Anpassung der Strafprozessordnung.
  11. 11 Motion 14.4008 (Mo RK-S), Anpassung der Zivilprozessordnung und Postulat 14.3804 (Po Vogler), Zivilprozessordnung. Erste Erfahrungen und Verbesserungen.
  12. 12 Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren vom 20. Dezember 1968, (VwVG, SR 172.021).
  13. 13 U.a. Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG, SR 830.1).
  14. 14 Stand der Arbeiten: Vernehmlassungsfrist bis Ende Mai 2017, danach Entscheid über das weitere Vorgehen und ggf. Erarbeitung der Botschaft.
  15. 15 Motion 12.4139 (Mo Bischof Pirmin), Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs; vgl. Bericht in Erfüllung der Mo Bischof, https://www.bj.admin.ch/dam/data/bj/staat/rechtsinformatik/e-akteneinsicht/ber-motion-d.pdf.