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Kann RegTech die Finanzindustrie aus der regulatorischen Krise befreien?

  • Author: Ralf Huber
  • Category: Articles
  • Region: Switzerland
  • Field of law: FinTech and RegTech
  • Citation: Ralf Huber, Kann RegTech die Finanzindustrie aus der regulatorischen Krise befreien?, in: Jusletter IT 18 May 2017
High legal and compliance costs in the financial industry lead to various articles about the usage of technology and so-called RegTech companies. What are the advantages of such solutions and under which circumstances can they be applied successfully? (ah)

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Regulierung ist kein strategischer Differenzierungsfaktor
  • 3. Mangelnde Kooperation und Standardisierung
  • 4. RoboAdvisor mit angezogener regulatorischer Handbremse
  • 5. Digitalisierung von Finanzmarktregulierung
  • 6. Ausblick

1.

Einleitung ^

[1]

Die regulatorische Krise in der Finanzindustrie ist ein viel beschriebener Fakt und soll hier deshalb nur der Einleitung dienen. Obschon die Anzahl neuer Regulierungen weniger stark zunimmt als noch vor einigen Jahren, ächzt die Finanzindustrie nach wie vor unter der Menge, der Komplexität und der Interpretationsbedürftigkeit neuer und noch nicht vollständig implementierter Gesetze. Allein die Tatsache, dass seit 2009 Regulatoren und Behörden der G20 nahezu 60’000 regulatorische Dekrete erlassen haben, illustriert den enormen Aufwand für ein international tätiges Finanzinstitut.1 Die damit verbundenen Kosten werden in den nächsten Jahren branchenweit die Grenze von USD 100 Mia. überschreiten.2 Der effiziente und vor allem kostengünstige Umgang mit Regulierungen wird damit wichtiger denn je und kann für Finanzinstitute zu einem Wettbewerbsvorteil werden.

[2]

In ihrem Beitrag «RegTech»: Digitale Wende für Aufsicht und Compliance, publiziert in der Fachzeitschrift Jusletter am 15. August 2016, hat Franca Contratto bereits eine umfangreiche Herleitung des RegTech-Begriffs und eine Beschreibung des Entwicklungsstands der Industrie vorgenommen. Der Beitrag geht ferner auf die Haltung der Regulatoren ein und warnt die Finanzindustrie vor allzu überzogenen Erwartungen an RegTech-Lösungen. Vor allem aber wird richtigerweise darauf hingewiesen, «dass RegTech kein völlig neuer Ansatz ist; vielmehr handelt es sich um eine Fortentwicklung von kooperativen Lösungen an der Schnittstelle zwischen Aufsichtsbehörden und beaufsichtigten Finanzinstituten, welche sich vielfach bereits bewährt haben. RegTech führt lediglich dazu, dass die neuesten technologischen Hilfsmittel dazu beitragen sollen, diese heute teils noch analogen Prozesse im Bereich von Compliance und Aufsicht in Zukunft in weiten Teilen zu digitalisieren.»3

[3]

Nachfolgend soll beispielhaft auf Anwendungsbereiche von RegTech-Lösungen und auf die Voraussetzungen für deren erfolgreichen Einsatz eingegangen werden.

2.

Regulierung ist kein strategischer Differenzierungsfaktor ^

[4]

Lange herrschte in der Finanzindustrie die Meinung vor, dass die Interpretation von Regulierungen ein zentrales strategisches Element und einen Differenzierungsfaktor gegenüber Konkurrenten darstelle. Spätestens seit der massiven Zunahme neuer Regulierungen ist aber diese Sichtweise in der Praxis zur Illusion geworden. Die Tatsache, dass die Auswirkungen von neuen Regulierungen derart vielfältig und detailliert sind und gleichzeitig die unterschiedlichsten Bereiche eines Finanzinstituts betreffen, machen ein zentrales strategisches Management von regulatorischen Änderungen sehr komplex und kostenintensiv. Aus diesem Grund wird heute ein bedeutender Teil der regulatorischen Entscheide durch Projektteams und Legal- und Compliance-Experten getroffen, während sich strategische Entscheide durch das Senior Management häufig auf wenige zentrale Themen beschränken.

[5]
Hinzu kommt, dass die starke Zunahme von Enforcement-Massnahmen durch Regulatoren (das Aussprechen von Bussen oder der Entzug von Banklizenzen etc.) einerseits und die stärkere Emanzipation der Kunden bei der Durchsetzung von Rechtsansprüchen anderseits den Spielraum bei der Auslegung von Gesetzen zusätzlich einschränken. Das Ausnützen eines regulatorischen Graubereichs durch ein Finanzinstitut setzt heute typischerweise ein umfangreiches Eskalationsverfahren unter Einbezug einer Vielzahl von Funktionen wie Risk Management, Legal, Compliance etc. voraus. Im aktuellen Umfeld führt ein solcher Prozess und die damit verbundene Dokumentation aber typischerweise wiederum zu einer konservativen Auslegung und damit zu einer Einschränkung des Finanzinstituts.
[6]

Der Aufwand eines strategischen Managements von neuen Regulierungen und der eingeschränkte Risikoappetit bei der Auslegung von regulatorischen Graubereichen führen dazu, dass die Interpretation von Regulierungen heute kein zentrales strategisches Element und auch keinen Differenzierungsfaktor gegenüber Konkurrenten mehr darstellt. Konklusion: Das Management von Regulierungen sollte vielmehr als ein Commodity betrachtet werden, welches für vergleichbare Finanzinstitute identisch ist und deshalb möglichst kostengünstig umgesetzt werden soll. Nicht die besondere Interpretation der Regulierung, sondern deren effiziente Implementierung stellt heutzutage in der Finanzindustrie einen Wettbewerbsvorteil dar. Diese Einsicht stellt eine der Grundvoraussetzungen für den Einsatz von effizienten digitalen Lösungen im regulatorischen Bereich, das heisst von RegTech-Lösungen, dar.

3.

Mangelnde Kooperation und Standardisierung ^

[7]
Trotz der massiven, mit der Einhaltung von Regulierungen verbundenen Kosten beschäftigen sich heute eine Vielzahl von Finanzinstituten gleichzeitig mit identischen Fragen zur Auslegung und Implementierung von Regulatorien. Eine Kooperation zwischen den Finanzinstituten findet in diesem Bereich faktisch nicht statt und verhindert deshalb eine effizienzsteigernde Standardisierung. Dies mag einerseits mit der oben beschriebenen (veralteten) Sichtweise zu tun haben, dass die Interpretation von Regulierungen ein Differenzierungsfaktor gegenüber Konkurrenten darstelle und somit strikt unternehmensintern zu erfolgen habe. Anderseits fehlen in diesem Bereich auch institutionalisierte Kooperationsmodelle und Industriestandards, welche eine strukturierte Zusammenarbeit zwischen Finanzinstituten ermöglichen würden.
[8]

Ein funktionierendes Beispiel eines solchen Kooperationsmodells findet sich in der IT-Branche: Das Veröffentlichen von Projekten inklusive konkreten Problemlösungen auf globalen Online-Plattformen (wie z.B. GitHub4) stellt eine übliche Vorgehensweise dar. Die Veröffentlichung eines Projekts erlaubt es den Software-Entwicklern, einerseits ihre Expertise global zu präsentieren und damit ihren persönlichen Wert zu steigern. Anderseits ermöglicht dies anderen Programmierern mit ähnlichen Problemstellungen, auf bereits vorhandenes Wissens zugreifen zu können. Auf diesem Weg werden einmal erstellte Projekte durch unterschiedlichste Personen weiterentwickelt und fortlaufend optimiert.

[9]

Abgesehen von wenigen wissenschaftlichen Projekten, welche sich mit der Standardisierung und der besseren technischen Verarbeitbarkeit von Gesetzestexten befassen,5 fehlen ähnliche, etablierte Kooperationsmodelle im Rechtsbereich komplett.

[10]
Eine weitere Ursache für diese Situation könnte in der mangelnden Bereitschaft der mit Regulierungsfragen betrauten Fachexperten liegen. Noch viel zu häufig arbeiten Juristen mit manuellen Prozessen und legen ähnliche juristische Sachverhalte in ihrem Fachbereich fallbezogen jeweils wieder aufs Neue aus. Zumindest in der Finanzindustrie werden noch viel zu selten Knowledge-Management-Systeme oder andere unterstützende Prozesse eingesetzt, um regulatorisch relevante Sachverhalte zu strukturieren.
[11]

Richard Susskind beschreibt seit den 80er-Jahren den Einfluss von Technologie auf das Rechtswesen.6 In seinem jüngsten Werk «The Future of the Professions» liefert er eine mögliche Erklärung für diese technologische Zurückhaltung bei Juristen und anderen wissensbasierten Berufsständen: «First, the professions do not themselves generally want to change, and so resist reform or revolution. Second, until now there has been no credible alternative to what they have on offer, no competing set-up to the status quo.»7 RegTech-Lösungen könnten für viele regulatorische Prozesse in der Finanzindustrie schon bald zu solchen Alternativen werden.

4.

RoboAdvisor mit angezogener regulatorischer Handbremse ^

[12]

Das im letzten Jahr erschienene RegTech-Directory enthält weltweit bereits über 160 RegTech-Firmen, welche sich mit Themen wie Reporting, Monitoring, Training oder Client Identification befassen.8 Eine grosse Herausforderung stellt jedoch nach wie vor die Digitalisierung von Finanzmarktregulierung im Bereich der Vermögensverwaltung und Anlageberatung dar. Dieser Umstand lässt sich sehr gut am Beispiel von RoboAdvisory-Dienstleistungen illustrieren. Der RoboAdvisory-Markt hat über die letzten Jahre eine beachtliche Anzahl von Anbietern hervorgebracht, welche im Gegensatz zu etablierten Bankinstituten häufig ein exzellentes digitales Kundenerlebnis im Bereich Anlageberatung anbieten. In fast allen Fällen sind diese Anbieter jedoch in ihrem Heimmarkt gefangen. Im Unterschied zu global tätigen Privatbanken, welche teilweise Kunden aus über 50 Ländern bedienen, sind von den 33 populärsten RoboAdvisorys in Europa lediglich vier ausserhalb ihres Heimmarkts tätig. Und lediglich eines dieser 33 Institute ist zudem in mehr als drei Märkten aktiv.9 Aus welchem Grund beschränken sich diese Anbieter, deren digitaler Verkaufskanal Internet für ein globales Angebot prädestiniert ist, auf einen Bruchteil des zugänglichen Marktes? Einer der Gründe stellt die Komplexität der länderspezifischen Finanzmarktregulierungen dar. Während traditionelle Privatbanken für die Einhaltung dieser länderspezifischen Regulierungen auf die Kundenberater setzen, welche mit unzähligen Weisungen und Handbüchern ausgestattet werden, sind digitale Anbieter wie RoboAdvisor gezwungen, diese regulatorischen Vorgaben digital abzubilden. Diese Integration in die digitalen Prozesse eines Finanzinstituts sind heutzutage zwar noch sehr kostenintensiv, doch auch hier werden RegTech-Anbieter effiziente digitale Alternativen anbieten können.

5.

Digitalisierung von Finanzmarktregulierung ^

[13]
Doch wie lässt sich die Finanzmarktregulierung am Beispiel der Vermögensverwaltung standardisiert digitalisieren und in unterschiedlichen Finanzinstituten skalierbar einsetzen?
[14]
Trotz Fokus auf Technologie liegt auch hier der Schlüssel im Verständnis der Geschäftsprozesse in der Finanzindustrie. Die Fragestellung nach der Art der Finanzdienstleistung, welche ein Kunde über einen spezifischen Kanal von einem Finanzinstitut bezieht, muss in unzählige Einzelfragen aufgeteilt werden: Unter welcher Lizenz agiert ein Kundenberater in einem Land? Welche Kundenkategorien müssen unterschieden werden? Besteht bereits eine Vertragsbeziehung zwischen dem Kunden und dem Finanzinstitut und, falls ja, von welcher Art? Werden Kunden in unterschiedlichen Ländern bedient und welche Länderregulierungen sind in einem konkreten Kontext anwendbar? Verfügt ein Finanzinstitut über sämtliche aus regulatorischer Sicht relevanten Produktinformationen, wie zum Beispiel Registrierungsstatus oder Struktur eines Anlagefonds, um dem Kunden ein aus regulatorischer Sicht zulässiges Produkteuniversum anbieten zu können?
[15]
Durch eine standardisierte Vorgehensweise bei der Strukturierung dieser regulatorischen Fragestellungen können die relevanten Parameter in digitale Prozesse integriert werden. Das Resultat einer solchen Integration sind binäre Handlungsanweisungen für die in einem konkreten Kundenkontext zulässigen Dienstleistungen oder Finanzinstrumente. Bei traditionellen Finanzinstituten entfällt in einem solchen Prozess die Verwendung von Weisungen und länderspezifischen Handbüchern weitgehend, was den Kundenberater entlastet und dem Finanzinstitut mehr Compliance-Sicherheit bietet. Und im Falle eines RoboAdvisors ermöglicht erst diese Integration das vollständig digitale Anbieten von Finanzdienstleistungen in einer Vielzahl von Märkten.

6.

Ausblick ^

[16]

Der anhaltende Kostendruck in der Finanzindustrie bietet unbestritten grosse Opportunitäten für RegTech-Firmen. Erste Anwendungsfälle, vorwiegend aus dem angelsächsischen Raum, zeigen das Potential dieser Lösungen auf.10 Es ist deshalb absehbar, dass die Kommodifizierung im regulatorischen Bereich auch bei Schweizer Finanzinstituten zunehmen wird und ähnliche Lösungen Einzug finden werden.

[17]

Parallel dazu sammeln erste RegTech-Firmen Erfahrungen mit öffentlich zugänglichen Kooperationsmodellen und versuchen damit, eine Standardisierung in der Industrie voranzutreiben. Dabei werden die in der IT-Branche bekannten Prozesse und Plattformen eingesetzt. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist das englische RegTech-Unternehmen Suade, welches den Online-Dienst GitHub dazu verwendet, ihren FIRE Standard11 zur Vereinfachung von Reporting öffentlich weiter zu entwickeln. Es wird sich zeigen, ob sich dieser Ansatz auch in anderen regulatorischen Bereichen durchsetzen wird.

[18]
Der erfolgreiche Einsatz von RegTech-Lösungen bedingt aber auf jeden Fall auch neue Anforderungen an die Benutzer dieser Lösungen, die Juristen. Standardisierung, Parametrisierung oder das Verwenden von digitalen Plattformen sind aktuell noch keine gängigen Arbeitsmethoden für Juristen in der Finanzindustrie. Dies wird sich mit dem vermehrten Einsatz von RegTech-Lösungen verändern und sich entsprechend auf das Anforderungsprofil von künftigen Legal- und Compliance-Mitarbeitenden auswirken.

 

Ralf Huber, lic.iur, verfügt über mehr als 16 Jahre Erfahrung in verschiedenen Legal- und Compliance-Funktionen in der Finanzindustrie, zuletzt als Head Legal & Compliance Asset Management Switzerland bei der Credit Suisse.

 

Zusammen mit einem Team gründete er 2016 das RegTech-Startup Apiax (www.apiax.com). Apiax transformiert komplexe Regulatorien in digitale Regeln und hilft damit Finanzinstituten, sich auf ihre Kernkompetenzen wie das Anlageangebot oder das Kundenerlebnis zu konzentrieren.

  1. 1 Daniel Simpson, The collaborative path through the RegTech and FinTech jungles (https://regtechfs.com/the-collaborative-path-through-the-regtech-and-fintech-jungles/, alle Internetadressen zuletzt besucht am 9. Mai 2017).
  2. 2 Franca Contratto, «RegTech»: Digitale Wende für Aufsicht und Compliance, in: Jusletter 15. August 2016, Rz. 2.1.
  3. 3 Contratto (Fn. 2), Rz. 1.
  4. 4 Weitere Informationen zu GitHub siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/GitHub oder https://github.com/.
  5. 5 Ein Beispiel: MIREL Projekt, http://www.mirelproject.eu/index.html.
  6. 6 Eine interessante Kurzeinführung zum Thema liefert Peter Kurer, Der Jurist im digitalen Holozän, NZZ 19. April 2017 (https://www.nzz.ch/bildstrecken/bildstrecken-feuilleton/rechtsanwaelte-und-neue-technologien-der-jurist-im-digitalen-holozaen-ld.14594).
  7. 7 Richard Susskind/Daniel Susskind, The Future of the Professions: How Technology Will Transform the Work of Human Experts, Oxford University Press (2015), S. 80.
  8. 8 http://www.planetcompliance.com/regtech/planet-compliance-regtech-directory/.
  9. 9 http://robo-advisors.eu/.
  10. 10 Ein Beispiel: https://www.bloomberg.com/news/articles/2017-02-28/jpmorgan-marshals-an-army-of-developers-to-automate-high-finance.
  11. 11 https://github.com/SuadeLabs/fire.