I.
Ausgangslage ^
Lässt sich das Unterlassen einer Quellenangabe im geschilderten Fall damit rechtfertigen, (i) dass die Ausführungen der fraglichen Stellen des vergriffenen Werks ohnehin zum gedanklichen Gemeingut gehören und der Verfasser der neuen Publikation sich folglich nicht nur auf das fragliche Werk allein hätte abstützen, sondern vielmehr eine Vielzahl von Quellen hätte anführen müssen, und (ii) dass diese Ausführungen keine neuen Erkenntnisse darlegen – mithin nichts Neues brachten? Könnte zudem auch geltend gemacht werden, dass das vorangegangene Werk ohnehin nur schwer zugänglich und dem Autor daher nicht vorgelegen sei?
1.
Allgemeines ^
Ganz allgemein kann festgestellt werden, wie Mark Schweizer treffend formuliert: «Dass geistige Schöpfungen mit individuellem Charakter nicht ohne Zustimmung des Urheberinhabers verwendet werden dürfen, darf heute auch als dem juristischen Laien bekannt gelten.»1
Art. 9 Abs. 1 des Urheberrechtsgesetzes (URG; SR 231.1) bestimmt, dass dem Urheber/der Urheberin das ausschliessliche Recht am eigenen Werk zukommt sowie das Recht auf Anerkennung der Urheberschaft. Folglich kann sich der Urheber/die Urheberin gegen eine Anmassung der Urheberschaft durch eine andere Person zur Wehr setzen.2
Art. 10 URG bestimmt, dass der Urheber/die Urheberin das ausschliessliche Recht hat, zu bestimmen, ob, wann und wie das Werk verwendet wird. Folglich darf dieses Recht ohne Einwilligung des Urhebers/der Urheberin von keinem Dritten beansprucht werden.3
Da das fragliche Werk vergriffen ist und keine Neuauflage durch den Verlag vorgenommen wurde, liegen die Rechte am Werk gemäss Art. 383 des Obligationenrechts (OR; SR 220) beim Autor.
Das Werk liegt innerhalb der Schutzdauer (Art. 29 Abs. 2 lit. b URG, 70 Jahre post mortem auctoris) und unterliegt mithin den Bestimmungen des URG.
a)
Grundsatz ^
Das Zitierrecht setzt keine Einwilligung des Autors/der Autorin voraus und gilt daher als Schranke des Urheberrechts.4 Sowohl das Zitat als auch die Quelle müssen jedoch gemäss Art. 25 Abs. 2 URG bezeichnet werden. Zudem muss die Urheberschaft angegeben werden, sofern in der Quelle auf diese hingewiesen wird, was bei wissenschaftlichen Publikationen in aller Regel der Fall ist.
Das Zitat dient der Erläuterung, als Hinweis oder als Beleg für bestimmte Ausführungen, mithin muss ein inhaltlicher Bezug zwischen dem zitierten Werk bzw. Werkteil und den eigenen Ausführungen gegeben sein.5
Im Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen B 2011/102 vom 29. August 2011 führt das Gericht in E. 2.1 und dortigen Zitaten aus: «Ein Zitat bedeutet also nichts anderes als die Übernahme fremden Gedankengutes ohne Anmassung der Urheberschaft [...]. Es dient der Deklamation fremder Erkenntnisse, der Information über abweichende Auffassungen anderer Autoren und Gerichtsentscheide, der Nennung von Belegstellen sowie dem Hinweis auf weiterführende Informationen. Mit dem Zitat soll der Leser somit darüber informiert werden, aus welchen Quellen der Autor sein Wissen schöpft, insbesondere inwieweit er sich auf fremde Darstellungen und Ansichten stützt oder eigene Positionen entwickelt [...].»
b)
Folgen der Verletzung des Zitierrechts: Plagiat ^
Wird fremdes Gedankengut in der eigenen Arbeit nicht als Zitat kenntlich gemacht, liegt ein Plagiat vor, «da der Zitierende damit für den übernommenen Teil die Urheberschaft beansprucht», so das Verwaltungsgericht.6
Das Gericht präzisiert unter Berufung auf die Literatur an dieser Stelle weiter, dass ein Plagiat gemäss wissenschaftlichen Standesregeln auch dann vorliegt, wenn keine wörtliche Übernahme erfolgt, wenn also der Text in eigenen Worten oder in der Form von angepassten oder umgestellten Textteilen, in Sinne einer Paraphrasierung, wiedergegeben wird, selbst «wenn urheberrechtlich keine zu beanstandende Übernahme eines fremden Werks gegeben ist [...]. Der wissenschaftliche Verhaltenskodex betrifft sämtliche nicht autorisierte Verwendungen fremder Ideen, [...].» Das Gericht verweist im Folgenden auf das Merkblatt «Zitat und Plagiat» der Universität St. Gallen vom 7. Dezember 2014/10. April 2007 und zitiert: «Immer wenn ein fremder Text oder wenn ein fremdes Gedankengut in die eigene Arbeit Aufnahme findet, muss unmissverständlich auf die Quelle hingewiesen werden.»
In Bezug auf die Anerkennung wissenschaftlicher Leistungen vermerkt Willi Egloff7, dass auch das Referieren früherer Erkenntnisse sowie, das Systematisieren von Vorhandenem (unabhängig von der urheberrechtlichen Qualifikation) wissenschaftliche Arbeit ist und es dabei um die richtige Zuschreibung geht. Danach sollte unter Plagiat im wissenschaftlichen Bereich die Verwendung einer fremden intellektuellen Leistung ohne Angabe der benutzten Quelle verstanden werden, denn auch «das Übernehmen fremder Inhalte macht einen wesentlichen Teil von Wissenschaft und Forschung aus».
Nach Egloff8 ist folglich unter einem Plagiat ganz allgemein «die Verwendung einer fremden intellektuellen Leistung ohne Angabe der benutzten Quelle» zu verstehen.
c)
Sanktionen ^
a)
Grundsatz und Folgen der Verletzung des Bearbeitungsrechts ^
Damit ein Werk zweiter Hand vorliegt, muss die Individualität der Vorlage im neuen Werk erkennbar sein.9 Wird ein Werk bzw. ein Werkteil lediglich zusammengefasst und fehlt dabei die eigenständige geistige Leistung, so liegt keine Bearbeitung im Sinne eines Werks zweiter Hand vor, sondern eine Werknutzung, die folglich – ebenfalls – das Einverständnis des Urhebers voraussetzt.10
Nimmt ferner die Anlehnung an ein vorbestehendes Werk ein Ausmass an, welches das Mass eines Zitates übersteigt, liegt ebenso ein Werk zweiter Hand vor, was wiederum der Zustimmung des Autors des Erstwerks bedarf.11
b)
Kenntnis des verwendeten Werks ^
Zur Beurteilung der Frage, ob eine Bearbeitung vorliegt, ist weiter massgebend, dass der Autor des neugeschaffenen Werks das verwendete Werk gekannt hat. Art. 3 Abs. 1 URG setzt voraus, dass das Werk, soll es als Bearbeitung gelten, unter Verwendung eines bestehenden Werks geschaffen wurde. Eine Urheberrechtsverletzung im Zusammenhang mit einer Bearbeitung kann folglich nur dann angenommen werden, wenn besagter Autor Kenntnis des vorbestehenden Werks gehabt hat. Keine Urheberrechtsverletzung liegt somit vor, so Florent Thouvenin12: «[...] wenn das fragliche Werk beim Erschaffen der vermeintlich verletzenden Schöpfung gar nicht benutzt wurde, etwa weil es dem Schöpfer nicht bekannt war [...].» Das Urheberrecht erfasst «immer nur die effektive Verwendung geschützter Werke.»
Mithin stellt sich die Frage, ob diese Verwendung auch unbewusst erfolgen kann. Dazu Thouvenin13: «[...] etwa wenn die Erinnerung an ein einmal wahrgenommenes Werk ins Unterbewusstsein des Schöpfers abgesunken ist und später als vermeintlich eigene Idee wieder auftaucht, sog. Kryptomnesie. [...] Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Dritter eine mit einem vorbestehenden Werk identische oder nahezu identische Schöpfung hervorbringt, ohne dieses Werk bewusst oder zumindest unbewusst verwendet zu haben, ist äusserst gering. Bei identischen oder nahezu identischen Verletzungsformen rechtfertigt es sich deshalb, die Verwendung des vorbestehenden Werkes durch den mutmasslichen Verletzer zu vermuten und die Beweislast für diese Frage umzukehren [...].»
Folglich muss sich der Autor einer nahezu identischen Darstellung, welcher sich auf die Unkenntnis des betroffenen vorbestehenden Werks beruft, darlegen, «dass er dieses Werk tatsächlich nicht kannte und es damit weder bewusst noch unbewusst verwendet haben kann.»14
c)
Folgen der Verletzung des Bearbeitungsrechts ^
Bei Fehlen einer eigenständigen geistigen Leistung, so beispielsweise im Fall einer blossen Zusammenfassung, liegt eine Werknutzung vor, die der Einwilligung des Urhebers bedarf, da andernfalls eine Urheberrechtsverletzung gegeben ist (vgl. II. 3. a hievor).
d)
Sanktionen ^
4.
Abgrenzung zur freien Benutzung ^
Eine freie Benutzung liegt vor, wenn sich ein Autor von einem vorbestehenden Werk inspirieren lässt, dieses jedoch dergestalt in sein Werk einfliessen lässt, dass dessen Individualität im neuen Werk nicht mehr erkennbar ist, mithin angesichts der Individualität des neuen Werks vollständig verblasst und als blosse Inspiration gelten kann. In diesem Fall liegt auch keine Werkverwendung im Sinne des URG vor.15
Bezüglich der freien Benutzung im Bereich der Wissenschaft hält Marco Handle16 fest, dass es dabei um Fälle geht: «[...] in denen ein Wissenschafter eine fremde wissenschaftliche Erkenntnis als Ausgangspunkt oder Inspiration für die Entwicklung einer eigenen Theorie verwendet. Eine solche Anlehnung ist dann zulässig, wenn die Individualität des übernommenen wissenschaftlichen Werkinhalts angesichts der Individualität des Zweitwerks verblasst.»
1.
Kann das fragliche Werk, wenn es sich z.B. um einen Beitrag in einer Festschrift oder eine Dissertation handelt, als Werk im Sinne von Art. 2 URG gelten? ^
Gemäss Art. 2 Abs. 1 URG sind Werke, unabhängig von ihrem Wert oder Zweck, geistige Schöpfungen der Literatur und Kunst, die individuellen Charakter haben. Gemäss Art. 2 Abs. 1 lit. a URG fallen neben den literarischen und anderen Sprachwerken auch wissenschaftliche Werke unter den Schutzbereich des Urheberrechts.
2.
Zu den möglichen Rechtfertigungsgründen im Einzelnen ^
Die Feststellung, dass die Ausführungen der fraglichen Stellen des betreffenden Werks «zum gedanklichen Gemeingut geworden sind», geht ins Leere, da dieses bei seiner Entstehung als eine geistige Schöpfung individuellen Charakters urheberrechtlichen Schutz erlangt hat. Dieser Schutz bleibt während der ganzen Schutzdauer bestehen (70 Jahre post mortem auctoris, Art. 29 Abs. 2 lit. b URG). Erst nach Ablauf dieser Frist fällt das Werk in das Gemeingut.
Das Argument, dass das Werk keine neuen Erkenntnisse darlege, mithin nichts Neues brachte, ist ebenfalls irrelevant, da es wertend und als solches nicht massgebend für die Bestimmung des individuellen Charakters des Werks ist.
3.
Die Frage der Usurpation fremder Urheberschaft im Verhältnis zum Zitierrecht ^
Das Zitierrecht sieht vor, dass veröffentlichte Werke zitiert werden dürfen. Auch ein Werk, das vergriffen bzw. schwer zugänglich ist, gilt als veröffentlicht. Zudem sind solche Werke in den einschlägigen Bibliotheken (Landesbibliothek, Uni-Bibliotheken kennen Pflichtexemplare) in aller Regel zugänglich. Auch sind solche Werke oft antiquarisch erhältlich, mithin einsehbar und damit verfügbar.
4.
Die Frage der Usurpation fremder Urheberschaft im Verhältnis zur Bearbeitung ^
Wenn die Übernahme des Gedankenguts verschiedener Textstellen aus dem vorbestehenden Werk einer Zusammenfassung besagter Werkteile gleichkommt, stellt sich die Frage der Bearbeitung bzw. des Werks zweiter Hand. Denn wenn die Anlehnung an ein vorbestehendes Werk ein Ausmass annimmt, welches das Mass eines Zitats gemäss Art. 25 Abs. 1 URG übersteigt, liegt eine Bearbeitung vor. Dies setzt jedoch eine geistige Schöpfung mit individuellem Charakter voraus, was bei einer blossen Zusammenfassung nicht der Fall ist. Letztere gilt folglich als eine Werknutzung, die wie bei jeder Bearbeitung eines vorbestehenden Werks das Einverständnis des Autors des betroffenen Werks erfordert. Mithin liegt so oder so eine Urheberrechtsverletzung vor (vgl. II. Ziff. 3 a hievor).
5.
Die Frage der Usurpation fremder Urheberschaft im Verhältnis zur freien Benutzung ^
IV.
Fazit ^
Dr. iur. Inge Hochreutener, Prof. HEG-FR.
- 1 Mark Schweizer, Zivilrechtliches Verschulden bei der Verletzung von Schutzrechten, in: sic!, 2015, S. 10.
- 2 Denis Barrelet / Willi Egloff, Das neue Urheberrecht, Bern 2008, N 14 zu Art. 9 URG.
- 3 Barrelet/Egloff (Fn. 2), N 6 zu Art. 10 URG.
- 4 Barrelet/Egloff (Fn. 2), N 6 zu Art. 25 URG.
- 5 Manfred Rehbinder / Adriano Viganò, URG Kommentar, 3. Aufl., Zürich 2008, N 3 zu Art. 25 URG.
- 6 Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen B 2011/102 vom 29. August 2011 E. 2.1.
- 7 Willi Egloff, Polemik um Plagiate, in: Medialex 2013, S. 158.
- 8 Egloff (Fn. 7), S. 158.
- 9 Barrelet/Egloff (Fn. 2), N 5 zu Art. 3 URG.
- 10 Barrelet/Egloff (Fn. 2), N 4 zu Art. 3 URG.
- 11 Barrelet/Egloff (Fn. 2), N 6 zu Art. 25 URG; vgl. unter III. Ziff. 4 hiernach.
- 12 Florent Thouvenin, «Love», Obergericht Zürich vom 7. Juli 2009 – Urheberrechtliche Schutzfähigkeit des Werkes «Love» und dessen Verletzung durch Verwendung auf Uhren, in: sic! 2010, S. 889 f.
- 13 Thouvenin (Fn. 12), S. 899.
- 14 Thouvenin (Fn. 12), S. 899.
- 15 Eingehend zu dieser Thematik: Barrelet / Egloff (Fn. 2), N 5 zu Art. 3, N 12 zu Art. 11 URG; so auch Thouvenin (Fn. 12), S. 891 f.; vgl. dazu auch Inge Hochreutener, L’âme des Poètes ou l’avenir du droit d’auteur dans un monde sur lequel règne le copier-coller, in L’éclectique juridique, Recueil d’articles en l’honneur de Jacques Python, (Python éd.), Zürich 2011, S. 161–176; Inge Hochreutener, Collage: Inspiration versus Plagiat? – Von der künstlerischen Freiheit in der bildenden Kunst, in: Jusletter 2. September 2013
- 16 Marco Handle, Der urheberrechtliche Schutz der Idee, SMI Bd. 100, 2013, N 106.