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Ilmar Tammelo, in den Siebzigerjahren Ordinarius für Rechtsphilosophie in Salzburg und einer der damals führenden Protagonisten der Rechtslogik, wäre am dritten Tag von IRIS 2017, nämlich am 25. Februar 2017, einhundert Jahre alt geworden. Er wurde in Estland geboren und starb in Australien, eine Woche nach seiner Rückkehr aus Salzburg. Im Alltagsbetrieb der Rechtswissenschaft ist sein Name nicht mehr präsent, und dennoch ist sein 100. Geburtstag Anlass, seine Verdienste um die Rechtsinformatik in Österreich bewusst zu machen.
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Die rechtsphilosophische Ausgangssituation in Österreich der Sechzigerjahre war eine Dominanz des Rechtspositivismus, der im Widerstreit mit der abklingenden Naturrechtslehre lag. Kelsens Reine Rechtslehre, soeben in der zweiten Auflage erschienen, aktivierte den Rechtspositivismus in seiner klassischen Form und brachte ihn erneut und sehr effektiv in die Diskussion ein. In dieser zweiten Auflage wurde die Reine Rechtslehre zu einem Kultbuch, an dem man damals in der Begegnung mit der Rechtstheorie nicht vorbei kam. Wie vieles in Österreich war damals auch die Auseinandersetzung mit der Reinen Rechtlehre personalisiert: In Robert Walter und in Günther Winkler standen sich zwei Persönlichkeiten gegenüber, die beide auf ihre Weise loyal zur Reinen Rechtslehre standen, und die es vermochten, die an sich sachliche Diskussion personal zu polarisieren. Robert Walter vertrat die Orthodoxie der Reinen Rechtslehre, gleichsam als Wächter des heiligen Zedernhaines, Günther Winkler rannte dagegen an und versammelte so die Revisionisten. Beide hielten Meetings ab, von Seminaren begonnen bis hin zu internationalen Symposien, publizierten in Sammelbänden und organisierten polar die Community der Reinen Rechtslehre. Die Reine Rechtslehre ist freilich schwer zu lesen, eine hohe syntaktische Barriere verwehrt den Zugang zum inhaltlichen Verständnis. Vor allem ist sie rein textuell. Wenngleich auch wiederholt von der Logik die Rede ist, wird man vergeblich in ihr nach einem Zeichen der formalen Logik suchen. Den bürokratischen Denktraditionen verpflichtet, ist die Reine Rechtslehre methodisch eher der Vergangenheit zugewandt.
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Dennoch hatte sich damals bereits im Hintergrund das neue Denken aufgebaut, da die Rechtslogik und die beginnende Rechtsinformatik im Zentrum des neuen Denkens den formalen Notationen mehr vertrauten als der textuellen Begriffsjurisprudenz, der die Reine Rechtslehre in einem weiteren Sinne wohl zuzuordnen ist.
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An sich wäre damals die neue Zeit an Österreich vorbeigegangen, wenn nicht zwei, in Sachen Rechtslogik weltweit führende Gelehrte nach Österreich gekommen wären, nämlich 1968 Ota Weinberger aus der damaligen Tschechoslowakei und 1973 Ilmar Tammelo aus Australien. Beide waren Protagonisten des formalen Denkens und beide bildeten ihre sozialen Kreise, Ota Weinberger in Graz und Ilmar Tammelo in Salzburg. Dabei spielte die IVR, die Internationale Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, eine gewisse Rolle als informeller Dachverband. Vor allem Ilmar Tammelo zog immer wieder «Gelehrte», wie er zu sagen pflegte, zum Erfahrungsaustausch nach Salzburg, wobei von allem Anfang an für ihn die Umsetzung der Rechtslogik in der Praxis eine Perspektive war. Sehr früh schon gab es eine Kooperation mit IBM, die damals nicht nur die Symposien materiell unterstützte, sondern sich auch für die von Ilmar Tammelo entwickelte Gegenformelmethode interessierte.
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Ilmar Tammelo gestaltete bewusst die Avantgardecommunity. Er habilitierte nicht nur drei Mitarbeiter des vorgefundenen Institutes, nämlich Erhard Mock, Helmut Schreiner und Michael Fischer, sondern wirkte auch mit an der Habilitation von Leo Reisinger, dem leider viel zu früh verstorbenen Protagonisten der Rechtsinformatik in Österreich, dessen Buch «Rechtsinformatik» 1977 erschienen war und der bereits die nächste Gelehrtengeneration verkörperte. Entscheidend für die weitere Entwicklung der von Ilmar Tammelo mitbegründeten Rechtsinformatik war auch, dass die beginnende Projektkultur mit der Möglichkeit verbunden wurde, die Probleme und Ergebnisse der Projekte im wissenschaftlichen Rahmen von Symposien zu diskutieren und zu publizieren.
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Das wissenschaftliche Konzept von IRIS, wenngleich auch Jahrzehnte später, liegt ebenfalls auf dieser Linie. Dieser dem Vorbild Tammelos folgende Ansatz des Autors zur Bildung einer Gesprächskultur, kombiniert mit dem Konferenzmodell von Erich Schweighofer mit umfangreichen Tagungsbänden und der elektronischen Zeitschrift Jusletter IT, hat ein relevantes Forum geschaffen, welches international weit hinauswirkt und welches wesentlich zur Diskussion in der Rechtsinformatik-Community beiträgt.
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IRIS ist in Salzburg geblieben und findet in den Räumen des Toskaner-Trakts der Residenz alljährlich Ende Februar statt. Den Universitäten Salzburg, repräsentiert durch Peter Mader und Dietmar Jahnel, und Wien mit Erich Schweighofer ist es so in Kooperation gelungen, mit IRIS eine Kompensation dafür zu finden, dass an den Universitäten selbst das Fach Rechtsinformatik nicht die ressourcenmäßige Beachtung gefunden hat, die dem gesellschaftlichen Stellenwert entsprechen würde.
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Die Bedeutung der Rechtsinformatik hat gegenüber der Pionierzeit von Ota Weinberger, Ilmar Tammelo und Leo Reisinger noch zugenommen. Der Trend der Computerisierung der Alltagswelt hat diese voll erfasst. Umso wichtiger ist der Theoriediskurs geworden. IRIS ist Teil dieser Community, welche den Metadiskurs der Rechtsinformatik gestaltet.