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Juristische Rationalität

  • Author: Hanna Maria Kreuzbauer
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Conference Proceedings IRIS 2017, Peer Reviewed – Jury LexisNexis Best Paper Award of IRIS2017
  • Citation: Hanna Maria Kreuzbauer, Juristische Rationalität, in: Jusletter IT 23 February 2017
Dieser Beitrag stellt einen Überblick über die von der Autorin entwickelte Theorie der juristischen Rationalität dar. Der inhaltliche Teil ist in vier Abschnitte gegliedert: (1) Rationalitätsbegriff: Startpunkt ist der klassisch-europäische Rationalitätsbegriff, der in einer modernen Interpretation modelliert wird. Rationalität stellt sich dabei als Pareto-Optimum der Allokation von Evidenzressourcen zum Zwecke der Rechtfertigung von Behauptungen dar. (2) Rationalitätskriterium: daraus wird ein Rationalitätskriterium entwickelt, welches zu Rechtfertigungsmethoden und -standards überleitet. (3) Inference to the Best Explanation (IBE): das leitet über zur Figur der «Inference to the Best Explanation» als dem «Gold Standard» rationaler Rechtfertigung. (4) Operationalisierung: Schließlich wird noch kurz die Operationalisierung all dessen für die Anwendung im juristischen Universum skizziert.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Vorbemerkung
  • 2. Rationalitätsbegriff
  • 2.1. Der klassisch-europäische Rationalitätsbegriff
  • 2.2. Moderne Modellierung des klassisch-europäischen Rationalitätsbegriffs
  • 3. Rationalitätskriterium
  • 3.1. Rationale Rechtfertigungsmethoden
  • 3.2. Rationale Rechtfertigungsstandards
  • 4. Inference to the Best Explanation als «Gold Standard» rationaler Rechtfertigung
  • 5. Operationalisierung im juristischen Universum
  • 6. Fazit

1.

Vorbemerkung ^

[1]
Wann soll man eine juristische Behauptung glauben? Egal ob sie sich auf Sachverhalte, Tatbestände, Subsumtionen, Interpretationen, Rechtspolitisches, Legistisches oder was auch immer bezieht, gilt immer: genau dann, wenn sie rational gerechtfertigt ist. Die Juristerei, womit wir hier alle juristischen Tätigkeiten innerhalb des juristischen Universums (d. h. innerhalb von Rechtswissenschaft und juristischer Praxis) meinen, legt großen Wert auf die Rationalität ihres Tuns, was Vertreter anderer, insb. mathematisierter1, wissenschaftlicher Disziplinen häufig bestreiten. In diesem Aufsatz wird die Autorin daher versuchen, einen Beitrag zur Klärung der Frage nach der Rationalität in der Juristerei zu leisten. Dazu wird sie: (1) im ersten Teil den klassischen Rationalitätsbegriff der europäischen Wissenschaftstradition analysieren und mit modernen Begriffen modellieren; (2) auf Basis dieses Rationalitätsbegriffs, ein Rationalitätskriterium erarbeiten, das anzeigt, wann eine Behauptung in Sinne des erstellten Rationalitätsbegriffs hinreichend rational gerechtfertigt ist; (3) dies wird dann mit der Idee der Figur der «Inference to the Best Explanation (IBE)» verbunden; (4) im vierten Teil schließlich wird kurz auf die spezifische Anwendung dieser Ergebnisse in der Juristerei eingegangen.2
[2]
Starten wir ganz grundsätzlich. Nicht alle Lebewesen «wissen» über ihre Umwelt3 Bescheid, aber trotzdem ist Orientierung eine evolutionär äußerst erfolgreiche Strategie, in die viele Tierarten «investieren». Nur der Mensch ist dabei in der Lage: (1) komplexe Modelle zu bilden, (2) diese sprachlich4 zu repräsentieren und (3) diese Repräsentationen anderen Menschen so weit mitzuteilen, dass man in Kooperation kollektive Modelle erstellen kann. Hierbei arbeiten drei mentale Funktionen5 und zwar Sinneswahrnehmung, Kognition (im engeren Sinne) und Sprachverarbeitung eng zusammen. Zusätzlich interagiert das Mentale mit der Umwelt und zwar durch Kommunikation mit anderen Menschen und Artefakten (wie insb. der Schrift) sowie mit der repräsentierten Umwelt.
[3]

Das Ganze bringt aber zwei Standardprobleme mit sich: (a) das Korrespondenz-Problem6, d.h. die Frage, ob ein sprachlich repräsentiertes Modell salopp gesagt überhaupt der Wirklichkeit entspricht und (b) das Mimikry-Problem: da nämlich auch Mimikry sprachlicher Repräsentationen (d.h. Nachahmung, Lüge etc.) eine evolutionär erfolgreiche Strategie ist, findet man sie praktisch überall und folglich besteht das Problem, sie zu erkennen. Auch das Mimikry-Problem mündet jedoch letztlich in das generelle Problem der Korrespondenz sprachlich repräsentierter Modelle mit der Wirklichkeit ein. Wir beschränken uns der Einfachheit halber auf die Frage der Korrespondenz von Behauptungen mit ihrem jeweiligen Behauptungssachverhalt, also dem Ausschnitt außerhalb ihrer selbst, von dem kompetente Sprachbenutzer annehmen, dass sie ihn abbilden würden. Zur Lösung dieser Frage gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten: (1) individuelle und kollektive Beobachtung sowie (2) rationale Rechtfertigung durch Argumentation. Zur Beobachtung benötigt man raumzeitliche Nähe, die oft nicht vorliegt. Außerdem ist sie nicht auf alle Behauptungen direkt anwendbar. Probleme gibt es etwa bei universalen und abstrakten Behauptungen (wie insb. Theorien), Behauptungen über nicht beobachtete oder zukünftige Ereignisse, Interpretationen und subjektiven Einschätzungen sowie Wert- und Normbehauptungen. In vielen Fällen kann man die Reichweite von Beobachtung zwar durch indirekte Verfahren, wie etwa das erklärungsfindende Verfahren ausdehnen (was hier nicht weiter verfolgt werden soll). Erfolgversprechender ist aber oft die zweite Möglichkeit, die rationale Rechtfertigung.

2.

Rationalitätsbegriff ^

2.1.

Der klassisch-europäische Rationalitätsbegriff ^

[4]

Im westlich-mediterranen Kulturraum kam mit dem Beginn der klassischen Philosophie im 6. Jhd. v. Chr. eine in diesem Zusammenhang wesentliche Innovation auf, und zwar ein neuer Narrativs zur Welterklärung, nämlich der rationale Narrativ, d.h. der Narrativ von der Ordnung der Natur durch abstrakte7 Prinzipien und ihre Erkenntnis durch rationale Methoden. Das stand im Gegensatz zum mythischen Narrativ der Welterklärung über die Annahme von Schöpfung und Betreuung der Welt durch transzendente Akteure, was man im Allgemeinen auch «Magie» und/oder «Religion» nennt. Der rationale Narrativ hat sich später zur Wissenschaft bzw. zum «wissenschaftlichen Narrativ» entwickelt, er und alle anderen dieser Paradigmen sind kulturell jedoch in sehr komplexer Weise überformt und ausdifferenziert, distribuiert, in mentale Technologien umgesetzt etc. Im Kern basiert der rationale Narrativ jedoch auf nur drei Grundprinzipien bzw. «Glaubensätzen»:

  1. Die Welt ist durch hinreichend abstrakte Prinzipien hinreichend geordnet.
  2. Diese Ordnung ist dem Menschen hinreichend erkennbar.
  3. Rationalität ist eine hinreichende und notwendige Methode für diese Erkenntnis.
[5]
Erst ca. 2000 Jahre später, also erst ab 1500 wurde der rationale Narrativ einer der wichtigsten Auslöser und Verstärker der bedeutendsten historischen Entwicklung seit Einführung der Landwirtschaft, nämlich der Moderne mit ihrer Wissenschaft, Technik und Industrie aber auch dem modernen Lebensstil – mit all seinen Vorzügen und Problemen. Heute ist das rationale Paradigma außerdem praktisch weltweit die hegemoniale Technologie der Welterklärung.8
[6]

Bevor der Begriff «Rationalität» in Form von «rationalitas» bzw. «rationalis» aber auch mit Verbindung zum Begriff «rationabilitas» in der westlich-mediterranen Wissenschaftsentwicklung aufkam9, waren der griechische Begriff «λόγος» («logos») und der lateinische Begriff «ratio» gebräuchlich. Der Begriff «λόγος» wurde sowohl in der (alt-)griechischen Alltagssprache als auch in der Fachsprache der Philosophie verwendet10 und bedeutete ursprünglich «Aufzählung», «Berechnung», «Rechenschaft» oder «Rechtfertigung»11, später auch etwa «Proportion», «Beweisführung» oder «Vernunft»12. Der Begriff «ratio» stammt von «reri» und ist etwa bei Cicero im Begriffsfeld um «Rechnung», «Verhältnis», «Methode», «Vernunft» und «Vernunftschluss» zu verorten.13 Es diente jedoch auch zur Übersetzung von «λόγος» ins Lateinische.14

[7]

Diese Begriffe umspannen daher ein Feld, das durch folgende zentrale Ideen aufgespannt und gegenüber außen abgegrenzt wird: (1) Ordnung bzw. Proportionalität als solche, (2) Ordnung bzw. Proportionalität der Natur (3) Rechnen, Berechnen und Mathematik, (4) Vernünftiges Denkens. Mit deutlicher Vernunft-Konnotation sah bereits Heraklit im λόγος eine immanente relativ abstrakte Ordnung der Welt.15 Pythagoras entdeckte, dass die Natur merkwürdigerweise der Ordnung der Mathematik zu gehorchen schien, obwohl wir die mathematischen Entitäten in der Natur nicht direkt empirisch beobachten können – geometrische Figuren fliegen ja nicht einfach so herum.16 Er scheint dabei der erste gewesen zu sein, der auf die Idee kam, dass sich die Natur (zu einem gewissen Teil) mathematisch berechnen ließe, was Euklid dann perfektionierte. Die Methode dieser Berechnung – das arithmetische Rechnen, der geometrische Beweis etc. – war eine spezielle kognitive Technologie die auf reinem und ungetrübtem Nachdenken beruhte, kurz: auf der Vernunft. Freilich sah man schon immer ein, dass man diese spezielle Art der trainierten, optimierten Vernunft nicht für alle Aufgaben gleich formal einsetzen konnte. Aber auch wenn man sprachlich dachte, blieb die sich aus der Gemengelage im genannten Begriffsfeld ergebende Idee dieselbe: Rationalität bedeutete einen in irgendeiner Weise regelbasierten und trainierten Gebrauch der Vernunft und war damit stets in irgendeiner Weise mit dem Rechnen verwandt, wobei sich beides an der Ordnung der Natur anlehnen, diese gleichsam widerspiegeln sollte. Sehr nahe am Rechnen war die Logik, die man «Syllogistik» nannte und die eine Art «Rechnen mit Ideen» bedeutet. Daneben gab es noch zahlreiche weitere – formalere oder informellere17 – Varianten. Neben der Arithmetik, Geometrie und Syllogistik wurden daher etwa auch die als verlässlich eingestuften informellen Denkschemen der Topik entwickelt und letztlich auch die rationale Gestaltung von Diskurs, wie man es etwa in der Dialektik oder Rhetorik findet.

[8]
Das merkwürdige und bis heute nicht aufgelöste Spannungsverhältnis zwischen empirischer Natur, Ordnung der Natur, Mathematik, und dem von der formalen Logik (bzw. «Syllogistik) zur informellen Logik (man denke an Epicheirem, Enthymem oder Topik) reichenden Gebrauch der Vernunft blieb dem europäischen Rationalitätsbegriff bis heute anhaften. Seitdem beruht das europäische Konzept der Rationalität auf der Idee des bestmöglichen und ungetrübten Einsatzes der Vernunft.

2.2.

Moderne Modellierung des klassisch-europäischen Rationalitätsbegriffs ^

[9]
Trotz aller Adaptionen hat sich der europäische Rationalitätsbegriff auch später nie völlig von der Idee des quasi-rechnenden Denkens («more geometrico»)18 zum Zwecke der Rechtfertigung von Behauptungen gelöst. Diesem Paradigma folgend blieb er immer der gute und richtige Einsatz der ungetrübten Vernunft, also der bestmögliche Einsatz der Vernunft ohne Störung durch Motivation und Emotion zum Zwecke der Erkenntnis, bzw. «sine ira et studio». Das enthält mehrere Begriffe, die man nach etwa 500 Jahren moderner Wissenschafts- und Philosophieentwicklung mit den Mitteln der heutigen Philosophie erfassen und neu formulieren kann – und muss:
[10]

(1) Erkenntnis: wir wollen das hier etwas bescheidender formulieren und uns außerdem auf den Rechtfertigungszusammenhang beschränken. Daher geht es uns hier um die argumentative Rechtfertigung von Behauptungen, d.h. die Demonstration der Verlässlichkeit von Behauptungen durch Argumentation. Die dafür wesentlichen Begriffe sind:

  • Verlässlichkeit: das soll hier als die hinreichende Korrespondenzwahrscheinlichkeit einer Behauptung verstanden werden.
  • Argumentation: ist eine Sequenz von Argumenten, welche wiederum Sequenzen von Behauptungen sind, bei denen mindestens eine die Rolle einer Prämisse und eine die Rolle einer Konklusion spielt, und die durch eine Inferenzbehauptung (=die Behauptung einer Inferenzrelation) verbunden sind. Das heißt, dass behauptet wird, dass die Verlässlichkeit der Prämissen hinreichend für die Verlässlichkeit der Konklusion ist.
  • Evidenzressourcen: Erkenntnis benötigt Erkenntnismittel und die nennen wir hier «Evidenzressourcen», womit wir sowohl Mittel und als auch Methoden meinen. «Argumentation» ist für uns daher auch ein Handeln, welches auf der «Allokation von Evidenzressourcen zur Rechtfertigung von Behauptungen» basiert.
[11]
(2) Guter und richtiger Einsatz der Vernunft: das bedeutet letztlich «Optimierung», wobei das Pareto-Optimum am geeignetsten erscheint, welches auf der Idee basiert, dass ein (kombiniertes) Phänomen genau dann optimal ist, wenn man keinen Teil verbessern kann ohne gleichzeitig mindestens einen anderen Teil zu verschlechtern.
[12]
(3) Ungestörtheit durch Motivation und Emotion: dies ergibt sich automatisch aus dem Umstand, dass dies nichts mit Evidenzressourcen zu tun hat und kann daher weggelassen werden.
[13]
Insgesamt wollen wir also vorschlagen den klassisch-europäischen Rationalitätsbegriff so zu modellieren: Im Sinne des klassisch-europäischen Rationalitätsbegriffs aber mit modernen Mitteln modelliert gilt: Rationalität =df. die pareto-optimalen Allokation gegebener Evidenzressourcen zum Zwecke der argumentativen Rechtfertigung von Behauptungen.

3.

Rationalitätskriterium ^

[14]
Aus dem Bisherigen ergibt sich unser Rationalitätskriterium, welches besagt: Wenn man dem klassischen europäischen Rationalitätsbegriff (nach unserer Lesart) folgen möchte19, gilt: Eine Behauptung ist zu s/t genau dann rational gerechtfertigt, wenn bei ihrer argumentativen Rechtfertigung die zu s/t gegebenen Evidenzressourcen pareto-optimal genutzt werden.
[15]

Es stellt sich also die Frage, wann genau die Prämissen eines Arguments dessen Konklusion rational rechtfertigen. D.h. anders gesagt: Was ist das Kriterium bzw. der Indikator, das/der anzeigt, dass gegebene Evidenzressourcen zum Zwecke der argumentativen Rechtfertigung tatsächlich pareto-optimal genutzt werden? Um dies beantworten zu können müssen wir auf die zwei klassischen Rechtfertigungsmethoden und zwei rationale Rechtfertigungsstandards eingehen.

3.1.

Rationale Rechtfertigungsmethoden ^

[16]

Beginnen wir mit der Diskussion von rationalen Rechtfertigungsmethoden, bei denen es folgende zwei klassischen Varianten gibt: analytische Rechtfertigung und synthetische Rechtfertigung20: Analytische rationale Rechtfertigung einer Behauptung meint rationale Rechtfertigung aus rein codesystematischen Gründen, d.h. aus Gründen, die in dem Codesystem (insb. eine natürliche oder künstliche Sprache) liegen, in der die Behauptung formuliert ist, ohne Bezug auf die Welt außerhalb des Codesystems. Synthetische rationale Rechtfertigung meint alles andere, d.h. rationale Rechtfertigung durch den Bezug etwas außerhalb des Codesystems. Innerhalb der analytischen rationalen Rechtfertigung unterscheidet man sinnvoller Weise zwischen logisch-analytischer und sprachlich-analytischer rationaler Rechtfertigung, womit wir eigentlich eine Dreiteilung haben, und zwar:

  1. Logisch-analytische rationale Rechtfertigung
  2. Sprachlich-analytische rationale Rechtfertigung
  3. Synthetische rationale Rechtfertigung
[17]
Ad: Logisch-analytische rationale Rechtfertigung: In diesem Sinne ist eine Behauptung genau dann argumentativ rational gerechtfertigt, wenn sie logisch gültig aus bereits rational gerechtfertigten Behauptungen ableitbar ist. Die rationale Rechtfertigung gilt dann natürlich nur in Relation zu den Prämissen, aber immerhin.
[18]
Ad: Sprachlich-analytische rationale Rechtfertigung: In diesem Sinn ist eine Behauptung genau dann argumentativ rational gerechtfertigt, wenn sie aus codesystematischen Gründen aber nicht durch logisch gültig Ableitung21 aus anderen Behauptungen ableitbar ist (was man etwa bei chemischen Formeln findet). Man beachte, dass über die Rückführungsmöglichkeit dieser Methode auf logische Ableitung damit noch nichts gesagt ist.
[19]
Ad: Synthetische rationale Rechtfertigung: Die Annahme, dass eine Behauptung verlässlich ist, ist grundsätzlich dann in diesem Sinne argumentativ rational gerechtfertigt, wenn sie die Konklusion in einem Argument ist und in der Welt außerhalb des Codesystems ontisch die Existenz des Prämissensachverhalts die Existenz des Konklusionssachverhalts bedeutet. Anders als bei der analytischen Methode22 muss man hier also wissen, ob Prämissensachverhalt und Konklusionssachverhalt existieren, was man aber im Standardfall eben nicht weiß, denn sonst müsste man ja gar nicht argumentieren. Bei der synthetischen rationalen Rechtfertigung besteht die Aufgabe im Standardfall also darin auf Basis von als verlässlich angenommenen Prämissen zu entscheiden, ob man die Konklusion rational besser für verlässlich hält oder nicht. Ohne Kenntnis des Konklusionssachverhalts ist das aber immer nur ein Raten (und bei Kenntnis des Konklusionssachverhalts ist das wie gerade gesagt eben überflüssig). Daher gibt es zwei offensichtliche Methoden:
[20]
(1) Man versucht das Argument so weit zu formalisieren, dass man analytische Methoden, insb. «Rechnen», im Sinne unseres Rationalitätskriteriums rational anwenden kann. Das bedeutet, dass man versucht, dem Problem der synthetischen Rechtfertigung auszuweichen, indem man das Ganze zu einer Frage der analytischen rationalen Rechtfertigung macht. Das scheitert in der Praxis aber oft an den «Transferkosten» und wird daher beispielsweise in der Juristerei nicht gemacht.
[21]
(2) Man versucht auf Basis der Annahme der Verlässlichkeit der Prämissen bestmöglich «rational zu raten» und zwar ganz im Sinne unseres Rationalitätskriteriums. Das heißt, um es zu wiederholen: indem man dabei versucht, die zu s/t gegebenen Evidenzressourcen pareto-optimal zu nutzen.

3.2.

Rationale Rechtfertigungsstandards ^

[22]
Für dieses «Raten» gibt es nun zwei Rechtfertigungsstandards. So wie man in der Welt des Boxens bekanntlich (grob) zwischen einem K.O.-Sieg und einem Sieg nach Punkten und in der Welt der Kriminalistik analog zwischen einem substanziellen Beweis und einem Indizienbeweis unterscheidet, kann man hier zwischen folgenden beiden Rechtfertigungsstandards unterscheiden:
  • Substanzielle rationale Rechtfertigung
  • Indizielle rationale Rechtfertigung (~Indizienbeweis)
[23]
Ad: Substanzielle rationale Rechtfertigung: bedeutet, dass eine Behauptung ein Merkmal aufweist, welches alleine schon hinreichend ist, sie für die rational gerechtfertigt zu halten, wie man das etwa bei analytischer rationaler Rechtfertigung findet.
[24]
Ad: Indizielle rationale Rechtfertigung: wiederum meint, dass eine Behauptung lediglich die beste Alternative ist. Das ist weniger als substanziell, inkludiert dies aber auch, weshalb wir uns hier in Anbetracht des beschränkten Raums auf die Darstellung indizieller rationaler Rechtfertigung beschränken wollen.

4.

Inference to the Best Explanation als «Gold Standard» rationaler Rechtfertigung ^

[25]

Wir schlagen vor, genau in dieser indiziellen rationalen Rechtfertigung die pareto-optimale und damit rational gerechtfertigte Art von «Raten», d.h. den «Gold Standard» rationaler Rechtfertigung, zu sehen. Sie hat ihr wichtigstes Anwendungsfeld zweifellos im Bereich der synthetischen rationalen Rechtfertigung. Wie ihr Verhältnis zur analytischen rationalen Rechtfertigung aussieht, muss hier offen bleiben. Jedenfalls bedeutet das, dass wir den «Gold Standard» weder in Induktion, noch Falsifikation sehen, sondern in dem, was man in der Fachliteratur als «Abduktion» oder «Inference to the Best Explanation» (kurz «IBE») kennt. Da Abduktion lediglich den Entdeckungszusammenhang betrifft aber keine Rechtfertigungskraft besitzt, werden wir uns dem Paradigma «Inference to the Best Explanation» anschließen. Aufgebracht wurde dieses durch Gilbert H. Harman, der 1965 dazu schrieb: «[…] Thus one infers, from the premise that a given hypothesis would provide a «better» explanation for the evidence than would any other hypothesis, to the conclusion that the given hypothesis is true.»23 Wir werden diese Idee mit folgenden Adaptionen übernehmen:

[26]

(1) Eliminationsverfahren und «Schluss auf die am wenigsten schlechte Alternative»: Wir werden nicht von der besten sondern von der am wenigsten schlechten Alternative sprechen, was auf einer Idee basiert, die schon Arthur Conan Doyle seinem Protagonisten Sherlock Holmes in etwa in den Mund legte, wenn dieser sagte: «[...] How often have I said to you that when you have eliminated the impossible, whatever remains, however improbable, must be the truth [...]»24. Das führt zu einem Wettbewerb zwischen Behauptungen auf Basis eines Eliminationsverfahrens (=Eliminationswettbewerb).

[27]
(2) Anwendung auf Argumente: Harman und seine Nachfolger wenden IBE auf Erklärungen an, also allgemeine Antworten auf Warum-Fragen, was insb. Kausalität ins Spiel bringt. Man kann das Verfahren aber auf jede Behauptung anwenden und da wir Argumente als Inferenzbehauptungen auffassen auch auf diese.
[28]

(3) Strukturelle Alternativen: Außerdem führen wir zu unserer immer «A1» genannten zu untersuchenden Behauptung zwei strukturelle Standardalternativen ein, also solche, die stets zu prüfen sind: An und Ai. An ist die kontradiktorische Negation unserer Behauptung und Ai die Behauptung, dass keine Alternative eine Wahrscheinlichkeit größer als 0,5 erreicht und es daher zu s/t rational am besten gerechtfertigt ist, nichts zu sagen. Bei jedem Argument gibt es daher die Alternativen:

  • A1: Unsere Inferenzbehauptung: «Die Annahme der Verlässlichkeit der Konklusion im zu untersuchenden Argument auf Basis der Annahme der Verlässlichkeit der Prämissen ist die am wenigsten schlechte Alternative.», oder untechnisch formuliert: «Gegeben die Prämissen ist unsere Konklusion die am wenigsten schlechte Alternative».
  • An: kontradiktorische Negation: «Es gilt nicht, dass die Annahme der Verlässlichkeit der Konklusion im zu untersuchenden Argument auf Basis der Annahme der Verlässlichkeit die am wenigsten schlechte Alternative ist.»
  • Ai: Ignoranzbehauptung: «Keine der zu s/t vorhandenen Alternativen erreicht eine Wahrscheinlichkeit größer als 0,5.» Ai ist der Defaultmodus, d.h. sie ist auch immer dann als Siegerin anzunehmen, wenn keine andere Behauptung gewinnt – aus welchem Grund auch immer.
[29]
Diese drei Behauptungen treten nun in einen Eliminationswettbewerb. Basis für die Austragung ist das Principium contradictionis (=Widerspruchregel bzw. Unvereinbarkeitsregel), das Aristoteles für die wichtigste «Rationalitätsregel» überhaupt hält.25 Sie ist das robusteste dem Menschen zugängliche Werkzeug, um zu erkennen, dass von einer Menge von Behauptungen nicht alle verlässlich sein können: Ist eine Argumentation widersprüchlich, kann sie nicht verlässlich sein, womit auch die Endkonklusion nicht rational gerechtfertigt ist. Allerdings sagt das noch nicht, welche Behauptung(en) von mindestens zwei sich widersprechenden Behauptungen man eliminieren soll. Wir schlagen vor, immer die Behauptungen mit größerer Distanz zu den Evidenzressourcen zu eliminieren. Das sind im Standardfall:
  • Rational minder gerechtfertigte Behauptungen: also Behauptungen die (kontingent) weniger rational gerechtfertigt sind als andere Alternativen.
  • Unentscheidbare Behauptungen: damit meinen wir solche, die weder selbst noch deren kontradiktorische Verneinungen durch den Einsatz von Evidenzressourcen rational gerechtfertigt werden können (etwa weil sie unsolide formuliert sind)
  • Contra-rational-gerechtfertigte Behauptungen: das sind Behauptungen, bei denen ihre kontradiktorische Verneinung durch den Einsatz von Evidenzressourcen rational gerechtfertigt ist.

5.

Operationalisierung im juristischen Universum ^

[30]
Im Endeffekt nützen alle diese Vorarbeiten jedoch nichts, wenn man sie nicht operationalisieren kann um damit Probleme der juristischen Rationalität zu lösen. Aus alledem können wir nun jedoch das Theorem ableiten:
[31]
Eine juristische Behauptung ist rational genau dann gerechtfertigt, wenn es ein Argument gibt, dessen Konklusion sie ist und die Inferenzbehauptung, das heißt, die Behauptung, dass die Verlässlichkeit der Prämissen für die Verlässlichkeit der Konklusion hinreichend ist, die am wenigsten schlechte Alternative ist.
[32]
In unserer Interpretation bedeutet das ein dreiteiliges Verfahren, und zwar (1) Aufstellung der alternativen Behauptungen, (2) Eliminationswettbewerb und (3) Entscheidung, welche Behauptung die Siegerin ist. Ein Beispiel im Bereich der Sachverhaltsdarstellung wurde von der Autorin bereits publiziert.26 Aus folgender einfachen Überlegung ergibt sich jedoch, dass das prinzipiell auch auf Rechtsnormen anwendbar ist:
[33]
Gehen wir davon aus, dass jede geltende Rechtsnorm auch existieren muss. Dann muss dies auch mit einer Rechtsnorm-Existenzbehauptung formulierbar sein, denn es ist nicht vorstellbar, dass es existierende Entitäten gibt, die prinzipiell nicht in Existenzbehauptungen ausdrückbar wären. Auf diese Rechtsnorm-Existenzbehauptungen kann man das hier skizzierte Verfahren sozusagen «salva veritate» anwenden. Analog gilt das für Wert-Behauptungen und alle anderen Behauptungen im juristischen Universum sind diesbezüglich ohnehin unproblematisch, weshalb der diesbezüglichen Anwendung also prinzipiell nichts im Wege steht. Genau dann, wenn eine juristische Behauptung in diesem Sinne rational gerechtfertigt ist, sollte man sie eben auch glauben – um nochmals auf die eingangs gestellte Frage zurück zu kommen.

6.

Fazit ^

[34]
In diesem Beitrag wurden die wesentlichen Bausteine der Theorie der Autorin über juristische Rationalität vorgestellt. Dazu wurde zunächst der klassisch-europäische Rationalitätsbegriff diskutiert und modern interpretiert. Dann wurde ein Rationalitätskriterium aufgestellt, das uns zur Figur der «Inference to the Best Explanation (IBE)» geführt hat, die wir als den Gold Standard für rationale Rechtfertigung betrachten. Die Autorin vertritt dabei die Position, dass sich diese Figur auch auf das juristische Universum übertragen und nutzbringend anwenden lässt. Dazu hat sie ein Theorem vorgeschlagen, wann genau juristische Behauptungen als rational gerechtfertigt anzusehen sind.
  1. 1 Vgl. dazu Hanna Maria Kreuzbauer, Zur Mathematisierung der Rechtswissenschaften, Rechtstheorie 46, 2015, S. 93–113.
  2. 2 Es handelt sich dabei um die Zusammenfassung der Ergebnisse des Habilitationsprojekts der Autorin.
  3. 3 Wir gehen dabei von einem nicht völlig idealistischen bzw. konstruktivistischen Weltbild aus, wobei das wichtigste Argument dagegen ist, dass die Konstruktion selbst nicht konstruiert sein kann sondern real sein muss – ad infinitum.
  4. 4 Im engen, linguistischen Sinne verstanden.
  5. 5 Das menschliche Gehirn ist bekanntlich ein (vermutlich) rein physikalisches Gebilde, das mentale Ereignisse produziert, die folgenden mentalen Funktionen zugeordnet werden können: Bewusstsein, Aufmerksamkeit, Sinneswahrnehmung, Körpersteuerung, Kognition (im engeren Sinne), Sprachverarbeitung, Emotion, Volition und Motivation.
  6. 6 Natürlich geht es im Grunde um Funktionalität und nicht um Korrespondenz. Da Funktionalität aber dominant Korrespondenz bedeutet, kann man das abkürzen.
  7. 7 Wobei «abstrakt» hier im Sinne von «allgemein» bzw. «grundlegend» gemeint ist.
  8. 8 An die Existenz von Prinzipien glaubt man mit guten Gründen auch heute noch. Das heißt, dass dieses Metaparadigma selbst im Gegensatz zum mythischen Paradigma im Sinne einer Inference to the Best Explanation (IBE) rational gerechtfertigt ist. Man beachte aber, dass Mythen bzw. Religion und Magie im Gegensatz zur Wissenschaft über die Welterklärung weit hinausgehen, etwa indem sie praktisch immer auch eine starke moralische Komponente aufweisen, die der Wissenschaft fehlt.
  9. 9 Vgl. Thomas S. Hoffmann, Rationalität, Rationalisierung I., in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie (Bd. 8), Schwabe, Basel et al. 1992, RN 52.
  10. 10 Gerard Verbeke, Logos I., in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (Bd. 5), Schwabe, Basel et al. 1980, RN 491.
  11. 11 Ebenda.
  12. 12 Ebenda.
  13. 13 Brigitte Kible, Ratio, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (Bd. 8), Schwabe, Basel et al. 1992, RN 38.
  14. 14 Ebenda.
  15. 15 Verbeke, Logos I., RN 492.
  16. 16 Das führte bekanntlich zur Frage, was diese Prinzipien eigentlich sind und wo und wie sie «existieren», bzw. was die Natur dieser mathematischen Entitäten ist. Platon etwa verlagerte sie bekanntlich in seinen Ideenhimmel und bei Aristoteles existierten sie zwar in der Natur selbst, aber «immanent». Viele der Späteren schließlich sahen sie als rein gedankliche Konstruktionen an.
  17. 17 Damit meinen wir hier die nicht völlig formale Reglementierung von natürlich vorkommender Kognition und Sprache (also Schluss und Formulierung) in privaten und professionellen Zusammenhängen, wie insbesondere das juristische Argumentieren, aber auch Informal Logic, chemische Formelsysteme etc.
  18. 18 Man denkt dabei natürlich sofort an den Titel von Baruch de Spinozas 1677 posthum erschienener «Ethica ordine geometrico demonstrata».
  19. 19 Was man ja nicht muss.
  20. 20 Beides basiert auf der Operationalisierung der klassischen Unterscheidung in analytische und synthetische Wahrheiten.
  21. 21 Wir beziehen dabei alle deduktiven Verfahren von Logik und Mathematik ein.
  22. 22 Bei der logisch-analytischen Methode kann man ja «rechnen» und auch bei den sprachlich-analytischen Methoden sind algorithmische Verfahren vorstellbar, was hier aber nicht vertieft werden soll.
  23. 23 Gilbert H. Harman, The Inference to the Best Explanation, Philosophical Review, Bd. 74 (1), 1965, 88–89. Als besten Überblick vgl. Peter Lipton, Inference to the Best Explanation2, Routledge, London/New York; und zur Übertragung in die Juristerei vgl. Amalia Amaya, Inference to the Best Legal Explanation, in: Hendrik Kaptein/Henry Prakken/Bart Verheij (Hrsg.), Legal Evidence and Proof: Statistics, Stories, Logic, Ashgate Publishing, Farnham 2009, S. 135–159.
  24. 24 Arthur Conan Doyle, The Sign of Four, Penguin, London et al., 2011 (orig. 1890), S. 51.
  25. 25 Das ist vielfach auch die Basis für das, was man unter dem Namen «coherentist approach» diskutiert.
  26. 26 Vgl. Hanna Maria Kreuzbauer, «Inference to the Best Explanation» in Behauptungs-Netzwerken, in: Erich Schweighofer/Franz Kummer/Walther Hötzendorfer/Georg Borges (Hrsg.), Netzwerke / Networks – Tagungsband des 19. Internationalen Rechtsinformatik Symposions IRIS 2016, OCG, Wien, 2016, S. 329–338.