1.
Die Themenstellung ^
[1]
«Elektronische Rechtsetzung» steht zum einen für die informationstechnische Unterstützung von Rechtsetzungsprozessen – also von hochformalisierten Geschäftsprozessen, die durch verfassungs- und verfahrensrechtliche Regeln gesteuert werden, welche eine tief in die Papierkultur zurückreichende Tradition aufweisen –, zum anderen für neue Umgebungen, in denen sich Rechtsetzung vollzieht, und zwar nicht nur technische, sondern auch soziale Umgebungen, die durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien geprägt sind. Österreich nimmt in der elektronischen Rechtsetzung im europäischen Rahmen eine Vorreiterrolle ein; umso mehr erscheint es geboten, die jeweils aktuellen Entwicklungen zu beobachten und zur Grundlage für den weiteren Ausbau legistikspezifischer Anwendungen zu machen. Aus diesem Grund richtet der Workshop «Elektronische Rechtsetzung» den Blick über die Grenzen – über die Grenzen Österreichs, vor allem aber auch über die Grenzen der heute operativen Systeme.
[2]
Der Perspektive auf eine weiter wachsende Bedeutung der neuen Technologien für die Unterstützung der Dynamik des normativen Systems entsprechend, widmet sich bereits zum zehnten Mal im Rahmen des IRIS ein Schwerpunkt dem Thema «Elektronische Rechtsetzung». Der erste Workshop dieser Art, im Jahr 2008, hat das Hauptaugenmerk auf elektronische Anwendungen zur Unterstützung zivilgesellschaftlicher Partizipation im Rechtsetzungsprozess gerichtet. Im Mittelpunkt des zweiten Workshop, im Jahr 2009, sind die neuen Ansätze des Wissensmanagement und insbesondere der semantischen Technologien in ihrer Anwendbarkeit auf den Rechtsetzungsprozess gestanden. Der dritte Workshop, im Jahr 2010, hat sich besonders mit der Frage auseinandergesetzt, welche Anforderungen an die Gestaltung legistischer Arbeitsumgebungen zu richten sind und wie solche Umgebungen künftig beschaffen sein könnten. Im Rahmen des vierten Workshop, im Jahr 2011, ist die Beschäftigung mit diesem Thema fortgeführt, der Schwerpunkt aber auf die Diskussion der Möglichkeiten der semantischen Modellierung für Rechtsetzung und Rechtsfolgenabschätzung gelegt worden. Der fünfte Workshop hat sich entsprechend dem Generalthema, unter welchem IRIS 2012 gestanden ist, nämlich «Transformation juristischer Sprachen», schwerpunktmäßig mit der Sprache der Rechtsetzung befasst. Der sechste Workshop hat sich der zeitgemäßen Gestaltung legislativer Konsultationsprozesse sowie der Entwicklung semantischer Werkzeuge zur Substituierung oder Ergänzung solcher Prozesse durch automationsunterstütztes «crowdsourcing» in den Sozialen Netzwerken des «Web 2.0» gewidmet, damit das Thema des ersten Workshop von 2008 aufgreifend und es weiter entwickelnd. Neben grundsätzlichen Überlegungen und abstrakten Konzepten sind aktuelle Projekte und deren Ansätze für konkrete Applikationen vorgestellt worden, damit dem Generalthema von IRIS 2013, «Abstraktion und Applikation», gerecht werdend. Entsprechend dem Generalthema von IRIS 2014 – «Transparenz» – ist der thematische Fokus des siebenten Workshop auf die Transparenz von Rechtsetzungsprozessen und ihre Unterstützung durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien gerichtet gewesen. Die kooperativen Dimensionen von Rechtsetzungsprozessen und ihre Unterstützung durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sind im Mittelpunkt des achten Workshop gestanden, das Generalthema von IRIS 2015 – «Kooperation» – aufgreifend. Entsprechend dem Generalthema von IRIS 2016 hat sich der neunte Workshop schwerpunktmäßig mit dem Konzept bzw. den Konzepten des «Netzwerks» befasst, dabei Computernetzwerke, wie sie zur technischen Unterstützung des Rechtsetzungsprozesses erforderlich sind, ebenso berücksichtigend wie die sozialen Netzwerke, in welche Rechtsetzungsprozesse eingebettet sind, und schließlich das Rechtssystem selbst mit den Methoden der Netzwerkanalyse betrachtend.
[3]
IRIS 2017, die zwanzigste Ausgabe der mittlerweile gewiss wichtigsten facheinschlägigen wissenschaftlichen Konferenz im deutschsprachigen Raum, steht unter dem Motto: «20 Jahre: Trends und Communities der Rechtsinformatik». Wenn IRIS nach zwanzig Jahren Bilanz oder eher Zwischenbilanz zieht, dann erscheint es angemessen, wenn dies nach zehn Jahren auch der Schwerpunkt «Elektronische Rechtsetzung» unternimmt: er zieht Zwischenbilanz über die Entwicklung der elektronischen Rechtsetzung und des elektronischen Parlaments in Österreich, über neue Ansätze zur Unterstützung der Legistik, sowohl im Bereich der semantischen Textanalyse als auch der sprachlichen Formulierung von Rechtsvorschriften, weiters über die transnationalen Tendenzen zur Standardisierung legistischer Formate und schließlich über die Entwicklung der Interaktionsformen zwischen Parlament und Zivilgesellschaft. Er greift damit Themen auf, die im Laufe des vergangenen Jahrzehnts bereits aus verschiedenen Perspektiven behandelt worden sind, und sucht sie in das Licht des jeweils aktuellen Standes der technischen Entwicklung wie auch des rechtspolitischen Diskurses zu rücken.
2.1.
20 Jahre IRIS – 15 Jahre elektronische Rechtsetzung in Österreich – 10 Jahre IRIS-Schwerpunkt «Elektronische Rechtsetzung»: Rückblick und Ausblick (Günther Schefbeck) ^
[4]
«Trends und Communities» der elektronischen Rechtsetzung stehen im Mittelpunkt des Beitrages, der, ausgehend von der pionierhaften Rolle Österreichs, systemische Rahmenbedingungen, technische Entwicklungen und gesellschaftliche Herausforderungen elektronischer Rechtsetzung im internationalen Kontext anzureißen sucht.
[5]
Rechtsetzung ist im demokratisch-rechtsstaatlichen politischen System einerseits ein hochformalisierter, verrechtlichter Prozess, andererseits eine verhandlungsbasierte Funktion gesellschaftlichen Interessenausgleichs. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bieten das Potential, den Prozess effizienter wie auch die Funktion partizipativer zu gestalten. Effizienz und Partizipativität können dabei in einem Spannungsverhältnis zu einander stehen, und so sind die Entscheidungen, in welcher Perspektive – ob primär in der «Innenperspektive» der Effizienzsteigerung oder in der «Außenperspektive» der Partizipationsunterstützung – das technologische Potential ausgeschöpft werden soll, von hoher demokratiepolitischer Relevanz.
[6]
Der Beitrag beabsichtigt, anhand einer vergleichenden Betrachtung des Entwicklungsstandes elektronischer Rechtsetzung und exemplarischer Hinweise auf von professionellen und zivilgesellschaftlichen Gemeinschaften entwickelte technische und prozedurale Konzepte eine Zwischenbilanz der Realisierung elektronischer Rechtsetzung in Österreich zu ziehen und ihre noch nicht ausgeschöpften Potentiale aufzuweisen.
2.2.
Zwei Jahre als CIO im Parlament – ein Erfahrungsbericht (Peter Reichstädter) ^
[7]
Die Digitalisierung von Prozessen allgemein aus Erkenntnissen von Prozessanalyse, Modernisierungen im Rahmen der Übersiedelung in die Interimslokation (ILÜ) des Parlaments am Heldenplatz / die Hofburg in Wien bzw. in Hinblick auf die elektronische Rechtsetzung («Amtssiegel») bringt durchaus einiges an Veränderung, aber bestärkt bereits etablierte Wege und Herangehensweisen im täglichen IT-Betrieb eines Parlaments. Der Vortrag gibt einen Überblick über aktuelle Herausforderungen mit Datensicherheit und z.B. einem Untersuchungsausschuss bzw. beleuchtet allgemein die Frage des IT-Sicherheitsverantwortlichen und Erfahrungen aus dem Deutschen Bundestags-Hack. 2020 steht gleichzeitig auch für die Rückübersiedelung in das sanierte Parlament (SAN) und möglichen Realisierungen von Innovation und Digitaler Transformation.
2.3.
Legistische Unterstützung durch lernfähige (kognitive) Systeme (Hannes Stefko) ^
[8]
Erstellen von neuen Gesetzestexten erfordert weitreichende Recherchen auch in bestehenden Gesetzen, um einerseits die Kohärenz der Rechtsordnung zu gewährleisten und Redundanzen oder nicht intendierte Konflikte zu vermeiden und andererseits äquivalente oder ähnliche Regelungen in anderen Rechtsordnungen zu identifizieren. Die Informationstechnologien, die eine semantische Suche in unformatierten Texten ermöglichen, haben jüngst einen starken Innovationsschub erfahren. Bis Ende 2015 wurden für semantische Analysen hauptsächlich Muster aus Hauptwörtern und Eigenschaftswörtern herangezogen. Mit statistischen Methoden wurden Textinhalte und deren Zusammenhänge in abgegrenzten Bereichen erkannt. Im Labor sind 2016 erste Versuche mit graphischen Symbolen unternommen worden, um Modelle zu beschreiben, aus denen Texte generiert werden können. Da dieser Ansatz von der Industrie als vielversprechend gesehen wird, wurden 2016 Technologien auf den Markt gebracht, mit denen Absichten und Kontexte in Texten erkannt werden können. Vor allem das Erkennen von Zusammenhängen zwischen Fragmenten in unterschiedlichen Texten wurde vorangetrieben. IBM und Google haben Lucene (auch bekannt als Index-Datenbank) wesentlich erweitert und als open source-Produkt «Elastic Search» zur Verfügung gestellt, um die Kontexterkennung in unterschiedlichen Textbausteinen zu unterstützen. Zusätzlich ermöglicht die neue Technologie einen relativ einfachen Einstieg in das automatische Lernen. Das Modell erweitert selbstständig (wenn auch nur in einem gewissen Rahmen) sein Wissen und seine Fähigkeiten. Diese neuen Technologien und deren Einsatzmöglichkeiten mit modellorientierten Vorgehensweisen und selbstlernenden Modellen werden anhand eines als Beispiel verwendeten Gesetzestexts vorgestellt.
2.4.
Klarsprache und österreichisches Recht – Recht verständlich machen (Rudolf Muhr) ^
[9]
In diesem Beitrag werden einleitend das Konzept der Klarsprache (plain language) und einige seiner zentralen Prinzipien vorgestellt. Zugleich werden einige Missverständnisse über das Konzept der Klarsprache angesprochen, wie z.B., dass es sich um «einfache/reduzierte» Sprache handle, die es nicht zulässt, dass komplexe rechtliche Inhalte ausgedrückt werden können.
[10]
Im Hauptteil des Beitrags werden Beispiele von Neuformulierungen aus dem derzeit laufenden Projekt «Das ABGB in Klarsprache» präsentiert. Das Projekt steht unter Leitung von Prof. Bydlinski und dem Vortragenden und hat das Ziel, die Verständlichkeit des ABGB auf ein zeitgemäßes Niveau zu heben, damit dieses wichtige Gesetz wieder der Allgemeinheit (und auch den Studierenden) zugänglich wird und so seine ursprüngliche Funktion erfüllt.
[11]
Elektronische Mittel zur Effektivierung und Formalisierung des Redigierungsprozesses sind in Planung. Sie werden abschließend skizziert und geben einen Ausblick auf künftige Entwicklungen.
2.5.
Akoma Ntoso and LegalRuleML: Legal Framework Standards for Digital Law-Making (Monica Palmirani) ^
[12]
In the last decade the information society and the knowledge economy transformed the law-making system in a more inclusive, open, transparent, accessible, participative process (e.g., legal drafting crowdsourcing). The «connected society» [Casellas] and the «infosphere» [Floridi] imposes to have technical and legal standards for permitting to rapidly gain access to the legal information and also for contributing to the democratic process. In this light the parliaments over the world are using XML standards (69% World e-Parliament Report, 2016) for coping with those goals and the executives define milestones inside the Open Government Partnership. In this scenario not all the XML standards are good for those purposes and for sure not all of them are effective for guaranteeing legal validity in the long term. For these reasons a Legal Framework Standards is necessary, like in other sectors (e.g., electronic health record, eProcurement, eInvoicing) in order to set up a long-term digital strategy based on the Semantic Web principles but also on the certification of the law-making process. The talk wants to present a Legal Framework Standard suited for those goals, where Akoma Ntoso and LegalRuleML are the most advanced and mature building blocks. We also figure out how it is possible to develop a Deliberative Process ontology for exploiting the Linked Open Data advantages and how to use block chain for certifying the quality and the authenticity of the law-making process independently to the rendering presentation of the document.
2.6.
The Legislative Drafting and Amending Programme of the United Kingdom – A Case Study (Grant Vergottini) ^
[13]
Facing the challenges of consuming often incompatible data sets provided by the various legislative agencies in the United Kingdom, along with the complexities of managing the legal ramifications of the asymmetric devolution of Scotland, The National Archives of the United Kingdom has sought to bring together the primary drafters of legislation throughout the United Kingdom to streamline the entire process.
[14]
The resulting team is working to build a single integrated legislative drafting and amending programme to be used by five different government agencies in the United Kingdom – the Government Legal Service, the House of Lords, the House of Commons, the Scottish Parliament, and The National Archives. This programme provides a comprehensive drafting and amendment solution for both primary and secondary legislation. Using the emerging OASIS XML standard for legislation known as Akoma Ntoso, modern web technologies, and an efficient agile process drawing together a global team of developers, we’re providing a cutting edge application to meet both the current and future needs in the United Kingdom.
[15]
Our application features an easy to use word processor like environment, an integrated workflow, and comprehensive amendment management facilities. The key innovation being introduced is inline amending, allowing amendments to be generated from changes made to the source documents using a redlining capability similar to track changes. Our goal is to have one system, used by all five partner agencies, that differs only in the details that are unique to each agency’s needs.
2.7.
The Electronic Parliament and Civil Society – Experiences and Prospects (Dimitris Koryzis/Günther Schefbeck/Fotis Fitsilis/Dimitris Spiliotopoulos/Vasilios Svolopoulos) ^
[16]
The paper is describing the way that the legislative functions of parliaments could be transformed by social and technological change, notably the rising importance of the internet, social media, crowdsourcing and the possible implications for parliamentary democracy and the civil society at the national and European level. Furthermore, it presents a comparative analysis of digital democracy among Parliaments of Europe, as well as a range of technological challenges, experiences and prospects that modern parliaments face today.