1.1.
Recht und Rechtsinformatik im Schlepptau von Industrie 4.0 und Digitalisierung ^
2.1.
Das Projekt Industrie 4.0 ^
2.2.
Vom Werkzeuggebrauch zur Informatisierung ^
Paul Boccara hat sich intensiv mit dem Wesen der industriellen Revolution auseinander gesetzt [Boccara 1982, S. 171–191]. Demnach besteht das entscheidende Moment der ersten Umwälzung darin, dass das Werkzeug nicht mehr von der Hand des Arbeiters geführt wird, sondern von der Maschine – der Werkzeugmaschine. Fleissner [2016] hat dies mittels einiger Blockgrafiken veranschaulicht.
3.
Das Recht in der digitalisierten und informatisierten Gesellschaft ^
- Die Plattform Industrie 4.0 widmet der Klärung rechtlicher Fragen eines ihrer acht Handlungsfelder. Dazu zählen z.B. der Schutz der zahlreich anfallenden personen- und unternehmensbezogenen Daten, Haftungsfragen bei Fehlfunktion autonom agierender Agenten, Eigentumsrechte an Informationen bzw. Daten in Kooperationen [BMWI 2017]. Die Politik wird bei den anstehenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Folge der Durchsetzung von Industrie 4.0 nicht umhin kommen, Position zu beziehen und einen neuen regulatorischen Rechtsrahmen zu diskutieren [Vgl. Bayer 2016]: (1) Das Wettbewerbsrecht muss sich der monopolisierenden Macht plattformbasierter Unternehmen annehmen. (2) Das Patentrecht muss wieder eine Balance finden zwischen privaten Forschungs- und Entwicklungsanreizen und dem allgemeinen Nutzen der Wissensverbreitung. (3) Das Sozialversicherungsrecht muss weiter entwickelt werden, einerseits um angesichts der Aushöhlung des Normalarbeitsverhältnisses die Finanzierung zu sichern, andererseits um die Teilnahme an einer volatilen Startup-Ökonomie zu ermöglichen. (4) Das Steuersystem bedarf einer Umstellung von lohnabhängigen auf wertschöpfungsbasierende Abgaben. Darüber hinaus muss die private Inanspruchnahme öffentlicher Güter und Externalisierung von Schäden bepreist werden. (5) Forschung und Entwicklung werden auch im Rahmen von Industrie 4.0-Projekten massiv von der öffentlichen Hand gefördert. Gewinne daraus sollten an den Staat zurück fließen, um weitere Forschung und Entwicklung zu finanzieren. Das Projekt Industrie 4.0 erzeugt also einen immensen Bedarf an Rechtsfortbildung und -entwicklung.
- Große Unternehmen nutzen verschiedene Steuerungsinstrumente bzw. Mechanismen, um Normen in ihrem Sinne zu gestalten: (1) Imperatives Recht wird durch zwingende Technikregulierung abgelöst. (2) Eine unsichtbare Rekonfigurierung der physischen und informationellen Umgebung des Menschen führt zu einer «gebremsten Individuation». (3) Entscheidungen beruhen auf einem «maschinellen» Anfangsverdacht. (4) Diffuse, feingranulare nicht-staatliche Überwachungsszenarien entstehen [Garstka 2016 über Klaus Lenk]. Potente zivile Akteure werden zunehmend eigene Regularien durchsetzen und damit auf allen Ebenen mit staatlichen Rechtsordnungen konkurrieren.
- So wie die Informatisierung in Gestalt der Digitalisierung immer mehr gesellschaftliche Bereiche durchdringt, wird das Informationsrecht immer weitere Bereiche des Rechts durchdringen und allen Rechtsgebieten seinen Stempel aufdrücken. Leitvorstellungen früherer Rechtsordnungen waren die Produktion landwirtschaftlicher Güter, dann der Handel durch Kaufleute, später die industrielle Warenproduktion und die Finanzwirtschaft. All dies wird nicht untergehen, aber vom Regulierungsbedarf der Informatisierung aller gesellschaftlichen Bereiche überformt werden. Recht wird so zu Rechtsinformatik im weiteren Sinne.
4.
Rechtsinformatik: Digitalisierung und Informatisierung des Rechts ^
- In der Vision der Industrie 4.0 werden alle stofflichen Objekte mit Metadaten belegt: Informationen über ihren materiellen Zustand, Funktionsfähigkeit und Verfügbarkeit, über Prozessstatus und betriebswirtschaftliche Bewertung und auch über ihren rechtlichen Status: wem gehört das Objekt, wer haftet bei Fehlfunktion, welchem Patentanspruch unterliegt die Objektkategorie, usw. Um diese Daten zu managen, werden zunehmend juristisch-technische Doppelqualifikationen nachgefragt werden.
- Ähnlich wie die Industrie und viele andere Lebensbereiche vom Gesundheitswesen über Verkehr, Freizeit und Konsum bis zur Bildung kann sich auch das Rechtssystem nicht der Informatisierung entziehen. So hat der deutsche Bundesgesetzgeber endlich weitere rechtliche Rahmenbedingungen für das vollautomatische Verwaltungsverfahren geschaffen [Braun Binder 2016]. Von Lucke und Schumacher skizzierten aber schon die Nutzung intelligent vernetzter Objekte und cyber-physischer Systeme für «Verwaltung 4.0» [von Lucke/Schumacher 2015] und «Smart Government» [von Lucke 2016]. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte testet den Einsatz künstlicher Intelligenz für die Vorselektion bearbeitungswürdiger Fälle [Sayer 2016]. Und mit «Legal Tech» können anwaltliche Standard-Dienstleistungen automatisiert werden [Lorenz 2016/1]. Verglichen mit der Informatisierung der Industrie in Form der Industrie 4.0 hat das Rechtsystem allerdings höchstens das Stadium der partiellen Fließbandfertigung erreicht. Nur dort, wo streng gerechnet werden kann (z.B. Einhebung von Massensteuern und Sozialabgaben) oder wo sich Sachverhalte gut eingrenzen lassen (z.B. electronic disput resolution im Flugverkehr), vertraut man auf eine starre Automatisierung. Überall sonst im Rechtssystem traut man der künstlichen Intelligenz bisher nur unterstützende Funktion zu, aber noch wenig hoheitliche Entscheidungskompetenz.
- Die Informatisierung begann aber auch in der Produktionssphäre nicht mit dem Computer, sondern lange vorher mit der Organisation der Produktion mittels Stücklisten, Konstruktionszeichnungen, Fließbändern und darauf abgestimmten Produkten. Ebenso wird das Recht als gesellschaftlich organisierte Organisationsanweisung im Zuge der Informatisierung für die automatisierte Abarbeitung zugerichtet werden; nicht nur das Verfahrensrecht, sondern auch das materielle Recht. Denn es werden im Laufe der Zeit vor allem jene Rechtsinstitute genutzt werden, die der Informatisierung zugänglich sind; andere Rechtsinstitute werden als Premiumprodukte für zahlungskräftige Premiumkunden angeboten oder als Untote Recht gelegentlich aus der Versenkung steigen. Darin liegt vielleicht die wahre Bedeutung von «law is code»: Was sich nicht berechnen lässt, wird bald nicht mehr rechtens sein.
5.
Literatur ^
APA, Industrie 4.0 wird mit 185 Millionen Euro gefördert, futurezone, 16. November 2016, https://futurezone.at/netzpolitik/industrie-4-0-wird-mit-185-millionen-euro-gefoerdert/230.993.301.
Bauer, Philipp, Jus studieren, wenn ein Computer den Job besser machen kann?, derStandard.at, 4. Dezember 2016, http://derstandard.at/2000048705419/Alejandro-Plater-Jus-studieren-wenn-ein-Computer-den-Job-besser.
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Boes, Andreas/Pfeiffer, Sabine, Informatisierung der Arbeit – Gesellschaft im Umbruch. Eine Einführung, in: Baukrowitz, Andrea/Berker, Thomas/Boes, Andreas/Pfeiffer, Sabine/Schmiede, Rudi/Will-Zocholl, Mascha (Hrsg.), Informatisierung der Arbeit – Gesellschaft im Umbruch, Edition Sigma, Berlin 2006, S. 19–34.
Braun Binder, Nadja, Weg frei für vollautomatisierte Verwaltungsverfahren in Deutschland, in: Jusletter IT 22. September 2016.
Fleissner, Peter, Digitalisierung und Arbeitswelt, Vortrag, 21. November 2016,
Garstka, Jürgen, Tagungsbericht vom Steinmüller Workshop 2016, Berlin, 19. Mai 2016, https://www.eaid-berlin.de/?p=1212.
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Rifkin, Jeremy, Die dritte industrielle Revolution, Campus, Frankfurt a.M. 2011.
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Universität des Saarlandes, Freiheit und Sicherheit in der digitalen Gesellschaft – Das Institut für Rechtsinformatik stellt sich vor, Pressemitteilung, 19. Mai 2015, https://cispa.saarland/blog/freiheit-und-sicherheit-in-der-digitalen-gesellschaft-das-institut-fur-rechtsinformatik-stellt-sich-vor/.
von Lucke, Jörn, Smart Government – Intelligent vernetztes Regierungs- und Verwaltungshandeln, in: Jusletter IT 25. Februar 2016.
von Lucke, Jörn/Schumacher, Florian, Erste Skizze zur Verwaltung 4.0, in: Jusletter IT 26. Februar 2015.
- 1 Siehe https://www.hotdocs.com/ (alle Websites zuletzt besucht am 26. Januar 2017).
- 2 Siehe https://www.smartlaw.de/.
- 3 BITKOM steht für Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien; VDA für Verband der Automobilindustrie; und ZVEI für Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie.
- 4 www.iiconsortium.org/.
- 5 www.iv-i.org/en/.
- 6 Für eine Übersicht siehe www.plattform-i40.de/I40/Navigation/DE/In-der-Praxis/Internationales/internationales.html.
- 7 Siehe http://plattformindustrie40.at und https://www.bmvit.gv.at/presse/aktuell/nvm/2016/1212OTS0079.html.