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Verständliche Gesetze: Was Legisten von technischen Redakteuren lernen können

  • Author: Benedikt Lutz
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Law and Language
  • Collection: Conference Proceedings IRIS 2017
  • Citation: Benedikt Lutz, Verständliche Gesetze: Was Legisten von technischen Redakteuren lernen können, in: Jusletter IT 23 February 2017
Die Unverständlichkeit von Gesetzen wird seit Jahrhunderten beklagt, doch auch heute noch ist die Teilhabe aller in weiter Ferne, obwohl die sprachliche Verständlichkeit von normativen Fachtexten deutlich verbessert werden könnte. Dies zeigen empirische Studien und die Erfahrungen Technischer Redakteure mit einer funktionalen Sicht auf Textsorten. In diesem Beitrag wird ein Modell zur verständlichen Fachkommunikation vorgestellt, das verschiedene Ansätze aus Linguistik, Kognitionswissenschaft und Usability Engineering zusammenführt und für Legisten hilfreiche Anregungen bieten kann.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Verständliche Gesetzessprache – ein kurzer Problemaufriss
  • 2. Ein Modell für verständliche Fachkommunikation
  • 2.1. Randbedingungen für die Gestaltung verständlicher Fachtexte
  • 2.2. Dimensionen der Textverständlichkeit
  • 2.3. Anwendung des Modells
  • 3. Spezifische Aspekte für Legisten: Fünf plakative Annäherungen
  • 3.1. Ludwig Reiners oder die Gleichsetzung literarischer Stilideale mit Verständlichkeit
  • 3.2. Marcus Tullius Cicero oder das Ideal des «Einen Satzes»
  • 3.3. Das Bilderverbot oder das Misstrauen gegenüber nicht-natürlichsprachlichen Mitteln
  • 3.4. Konrad Duden überinterpretieren oder der Wunsch nach perfekter Präskription
  • 3.5. Kaiserin Maria Theresia oder von der Aktualität der Aufklärung
  • 4. Resümee: Was tun?

1.

Verständliche Gesetzessprache – ein kurzer Problemaufriss ^

[1]
Die Kritik an der Verständlichkeit von Rechtssprache reicht bis in die Antike zurück, verstärkt sich in der Zeit der Aufklärung, verdichtet sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder in Bemühungen nach bürgernaher Gesetzes- und Verwaltungssprache, bleibt aber in Summe zumeist merkwürdig folgenlos. Die Eckpunkte der aktuellen Diskussion im deutschen Sprachraum werden markiert durch mehrere umfangreiche Sammelbände: Kent Lerch gibt in einem dreibändigen Werk zur Sprache des Rechts die Ergebnisse einer interdisziplinären Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften heraus,1 und Eichhoff-Cyrus und Antos fassen die Beiträge einer Tagung Verständlichkeit als Bürgerrecht zusammen.2 Die Auffassungen der zahlreichen Autoren hinsichtlich Möglichkeiten und Grenzen zur Gestaltung verständlicher Rechtstexte liegen sehr weit auseinander, bis hin zur Frage, ob Verständlichkeit überhaupt eine erwünschte Eigenschaft von Rechtstexten sei.
[2]
Vereinfacht gesprochen gibt es eine Fraktion der Skeptiker auf der einen Seite, meist Juristen, die die Forderung nach verständlichen Gesetzen für eine Illusion halten, wo es doch in der Natur von Gesetzen liege unverständlich zu sein und in einem komplexen Auslegungsprozess angewendet zu werden. Auf der anderen Seite stehen die Schwärmer, typischerweise Journalisten, Politiker, Verbraucherschützer und auch einige Linguisten und Juristen, die dem Problem mit Stilfibeln, bürgernaher Sprache und demokratiepolitischen Vorwürfen hinsichtlich Herrschaftssprache zu Leibe rücken wollen.3 Derartige Auseinandersetzungen erfolgen häufig im Gestus des Grundsätzlichen, beruhen selten auf empirischen Daten und enden daher oft in aufwändigem Prinzipienstreit ohne Lösungsorientierung. Diese Verhärtung der Diskussion besonders im deutschen Sprachraum ist schade, wo doch ganz offensichtlich die Verständlichkeit von Rechtstexten gesellschaftlich ein wichtiges Desiderat ist, und zudem – fernab von unproduktiven Glaubenskämpfen – die Verbesserung der Verständlichkeit erwiesenermaßen möglich ist.4 Auf die umfangreiche englischsprachige Diskussion kann hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden; jedenfalls erwähnenswert sind aber die Aktivitäten des internationalen Fachverbands Clarity (www.clarity-international.net), der auch eine eigene Zeitschrift herausgibt, und die Publikationen von Joseph Kimble.5

2.

Ein Modell für verständliche Fachkommunikation ^

[3]
Ich möchte Sie hier einladen, den engeren Bereich der Rechtssprache kurz zu verlassen und einen Blick über den Tellerrand zu wagen. Die verständliche Fachkommunikation ist in vielen Bereichen der Wirtschaft ein zentraler Erfolgsfaktor. In der Produktentwicklung betrifft sie den gesamten Entwicklungszyklus, von der Erstellung von Pflichtenheften (Requirements Engineering) über die anwenderfreundliche Gestaltung von Benutzeroberflächen (Usability Engineering) bis hin zur Benutzer- und Servicedokumentation und zu Help-Systemen (dem angestammten Bereich der Technischen Redakteure). Doch auch bei Dienstleistungen und innerbetrieblicher Kommunikation sind präzise, unmissverständliche Fachtexte wesentlich für das effiziente Erreichen von Kommunikationszielen; man denke dabei etwa an wenig geliebte, doch funktional wichtige Textsorten wie Formulare, Protokolle oder Prozessbeschreibungen.
[4]
Ich habe in den letzten Jahren ein Modell für verständliche Fachkommunikation entwickelt (Abbildung 1), das den Anspruch erhebt, zum einen aktuelle Erkenntnisse aus Linguistik, Kognitionswissenschaft, Technischer Kommunikation, Usability Engineering und Informationsdesign zusammenzuführen, zum anderen aber auch die praktische Umsetzung dieser Erkenntnisse bei der Gestaltung verständlicher Fachtexte im Sinne einer erhöhten language awareness bestmöglich zu unterstützen.6

2.1.

Randbedingungen für die Gestaltung verständlicher Fachtexte ^

[5]
Die Randbedingungen in diesem Modell – hier als umrahmende «Wolken» dargestellt – sollen den Gesamtkontext darstellen, in dessen Rahmen verständliche Fachtexte produziert und rezipiert werden. Sie sind zum Teil durch situationelle und institutionelle Konstellationen fix vorgegeben, häufig aber auch durch die Kommunikationspartner mehr oder weniger flexibel gestaltbar.
[6]

Die Analyse und ggf. der Ausgleich der kommunikativen Ziele von Autoren und Lesern ist eine wesentliche Voraussetzung für die zielgruppengerechte Gestaltung von Texten. Wenn die Leser andere Interessen verfolgen als der Autor von ihnen annimmt, dann sind Vorklärungen dringend vonnöten, z.B. zu folgenden Fragen: Geht es um Handlungskompetenz (etwa die Inbetriebnahme eines neuen Elektrogeräts), um Entscheidungskompetenz (etwa hinsichtlich der Wahl einer Alternative) oder lediglich um Wissenszuwachs (etwa beim Lesen eines Lehrbuchs)?

[7]
Die konkrete Situation im Prozess des Schreibens oder Lesens wird bei der Planung und Gestaltung von Texten häufig zu wenig berücksichtigt. Man denke beispielsweise an so unterschiedliche Situationen wie das Ausfüllen eines Formulars in einem Amt, das Lesen und Zitieren eines Gesetzes beim Verfassen eines Schriftsatzes oder das Anlegen von Schneeketten in einem Schneesturm unter Konsultation der Gebrauchsanweisung. Die Analyse dieser Faktoren kann zur Wahl unterschiedlicher Modi und Medien führen (verbal, visuell, Video; gedruckt, am Bildschirm, Smartphone etc.). So haben sich z.B. in den letzten Jahren für die Servicedokumentation in vielen Bereichen der Technik einfache «How to»-Videos als kommunikativ wesentlich effizienter durchgesetzt gegenüber früheren aufwändig erstellten textuellen Dokumentationen oder Anleitungen mit Text-Bild-Kombinationen.
[8]
Die Beherrschung von Fachtextsorten sowohl auf Produzenten- als auch auf Rezipientenseite sowie deren Ausdifferenzierung im konkreten Arbeitsumfeld ist wesentlich für den kommunikativen Erfolg. Man baut dabei auf erlernte Muster auf, die das Schreiben und Verstehen unterstützen. Der Produktionsprozess wird typischerweise durch Dokumententemplates, Formulare, anzupassende Musterlösungen oder (teilweise) automatisch generierte Texte unterstützt. Entscheidend dabei sind der richtige Grad der Fachsprachlichkeit und die Verwendung der nötigen Terminologie.
[9]
Die Sprachkompetenz der Adressaten sowie deren kognitive Fähigkeiten und Vorwissen sind weitere zu berücksichtigende Randbedingungen. Themen wie funktionaler Analphabetismus (20% der Bevölkerung in Deutschland oder Österreich!), Englisch als Esperanto der globalisierten Wirtschaft (English as a Lingua Franca), migrantische Kommunikation und Barrierefreiheit (Leichte Sprachen) spielen hier ebenso eine Rolle wie die immer zu berücksichtigenden fachlichen Vorkenntnisse.

2.2.

Dimensionen der Textverständlichkeit ^

[10]
Die Dimensionen der Verständlichkeit – hier als Ellipsen innerhalb des Zyklus von Textproduktion, Textanalyse und Textoptimierung dargestellt – sind als Mehr oder Weniger hinsichtlich der Ausprägung bestimmter Merkmale zu verstehen. Diese Dimensionen sind nicht komplett unabhängig voneinander, manche sollte man eher maximieren, andere in Abhängigkeit von den Randbedingungen austarieren.
[11]
Die Unterscheidung zwischen Komplexität und Kompliziertheit ist m.E. besonders wichtig, da diese Dimensionen oft vermischt werden. Komplexität betrifft in diesem Modell die inhaltliche Ebene, Kompliziertheit die äußere Gestaltung. Komplexität sollte man je nach Kommunikationsziel optimieren, und Kompliziertheit minimieren. Ein Beispiel: Wenn ein Gesetz viele Ausnahmen zu allgemeinen Regelungen vorsieht (z.B. Übergangsbestimmungen, Berücksichtigung von spezifischen Gruppen und Härtefällen, etc.), so wird das Gesetz inhaltlich komplex. Dies kann als Ausdruck politischer Kompromisse und Entscheidungsprozesse durchaus notwendig sein. Die überdurchschnittlich langen Sätze in Gesetzen ergeben sich allerdings nicht aus einer Notwendigkeit, sondern aus den historisch gewachsenen Traditionen der Textsorte Gesetz. Hier kann man ohne Verlust an Präzision durch die Vereinfachung syntaktischer Strukturen und Verkürzung der Satzlänge erhebliche Verbesserungen der Verständlichkeit erzielen. Ähnliches gilt für typische «Verständlichmacher» wie die Gliederung in überschaubare Einheiten, treffende Überschriften, einheitliche Terminologie, etc.
[12]
Die Dimensionen Gliederung, Kürze und Emotion sind ähnlich zu verstehen wie in dem weitverbreiteten populärwissenschaftlichen Hamburger Modell die Dimensionen Gliederung & Ordnung, Kürze & Prägnanz, sowie anregende Zusätze.7 Eine klare Gliederung mit treffenden Überschriften, die auch die inhaltlichen Strukturen eines Textes gut abbildet, ist neben der Verringerung von Kompliziertheit das wichtigste Kriterium für Verständlichkeit. Die Dimension Kürze ist – ähnlich wie die Komplexität – in Abhängigkeit von den Kommunikationszielen auszutarieren (Texte können zu weitschweifig sein, aber auch zu kurz; ein gewisses Maß an Redundanz fördert das Verstehen). Bei der Dimension Emotion geht es um das textgenerierte Erzielen von Aufmerksamkeit auf emotionaler Ebene, etwa durch Beispiele, Witze, Metaphern, Reime oder rhetorische Fragen. Diese Dimension ist kognitiv stark wirksam, allerdings nur in bestimmten Textsorten produktiv nutzbar. Der Einsatz derartiger Elemente ist z.B. für Gesetzestexte kaum vorstellbar.
[13]
Die Dimension Deutlichkeit betrifft die Hervorhebung wichtiger Inhalte durch geeignete Mittel, etwa typographisch (Fett- oder Kursivdruck, Schriftgröße), explizit verbalisiert («Wichtig! – Beachten Sie bitte, dass»), oder durch graphische Mittel. Diese Dimension ist besonders wichtig zur Orientierung beim selektiven Lesen. Die Korrektheit verdient in einem Verständlichkeitsmodell jedenfalls Beachtung als wichtiges Qualitätsmerkmal, das typischerweise im Reviewprozess überprüft wird. Zuletzt schließlich sei auf die besondere Bedeutung der Dimension Usability hingewiesen, die bei direkt handlungsorientierten Texten das entscheidende Außenkriterium für die Gebrauchstauglichkeit darstellt. Die in den letzten Jahren entwickelten Methoden des Usability Engineering (Inspektionen, Tests) sind auch für die Gestaltung verständlicher Fachtexte sehr nützlich; der Leser wird dabei immer mehr als «User» gesehen (man denke an Webshops, Benutzerhandbücher oder Formulare).

2.3.

Anwendung des Modells ^

[14]
Dieses Modell kann für Schulungszwecke verwendet werden, um Fachautoren für die potentiellen Verständlichkeits-Probleme der von ihnen zu erstellenden Texte zu sensibilisieren. Auch die Analyse und Optimierung bereits bestehender Fachtexte ist möglich (dafür wurden Checklisten und ein Bewertungsschema mit Ist- und Sollwerten entwickelt). Das Modell kann auch dabei unterstützen, Textsorten für die Verwendung im betrieblichen Alltag oder für die Dokumentation zu entwickeln und zu optimieren (z.B. Entwicklung geeigneter Formulare mit Ausfüllunterstützung, Dokumententemplates mit Strukturvorgaben und Gestaltungshinweisen für Pflichtenhefte; bis hin zu ganzen Dokumentationslandschaften, die in IT-Systeme eingebettet werden).

3.

Spezifische Aspekte für Legisten: Fünf plakative Annäherungen ^

[15]
Das hier umrissene Modell stammt im Wesentlichen aus der Tradition der Technischen Kommunikation sowie linguistischer und kognitionswissenschaftlicher Verständlichkeitsforschung. Wie kann nun ein derartiger Ansatz zur Analyse und Verbesserung verständlicher Gesetzestexte mit ihrer spezifischen Problematik beitragen? Ich möchte hier eine Annäherung in Form von fünf plakativen und personalisierten Skizzen versuchen, in denen jeweils wesentliche inhaltliche Themen angesprochen werden, die zu einer verständlicheren Gesetzessprache beitragen können.

3.1.

Ludwig Reiners oder die Gleichsetzung literarischer Stilideale mit Verständlichkeit ^

[16]
Juristen sind meist Personen mit hoher Sprachkompetenz und geschärftem Bewusstsein für Sprache und Stil. Kein Wunder: Das Jus-Studium besteht zum Großteil in der Aneignung einer hochdifferenzierten Fachsprache, ja noch viel mehr konstituiert sich Recht im Wesentlichen in und durch Sprache.8 Und so war und ist es sicherlich kein Zufall, dass die klassische Bildung hinsichtlich Sprache und Sprachen bei Juristen hoch im Kurs steht (der sogenannte bildungsbürgerliche Kanon). In Kursen und im Smalltalk über verständliche Rechtssprache werde ich von Juristen immer wieder auf die antike Rhetorik angesprochen, und auch auf die Stilfibel von Ludwig Reiners, was bei Kursen für Technische Redakteure praktisch nicht vorkommt. Reiners9 war der Stilpapst der Nachkriegszeit, mit ähnlich hohen Auflagen wie heute Bastian Sick, und seine Werke werden immer noch aufgelegt. Aus wissenschaftlicher Sicht wird der Ansatz von Reiners heute scharf kritisiert, da er stark ideologisierte und schulmeisterliche Anteile enthält, sich auch für Fachtexte an literarischen Stilidealen orientiert und eine funktionale Sicht auf Fachsprachen, Textsorten oder auch Fachterminologie nicht erkennbar ist.10 Mit Beispielen aus der Deutschen Klassik lassen sich weder Gebrauchsanweisungen verständlicher gestalten noch Gesetze klarer formulieren.
[17]
Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang ein Hinweis auf die funktional orientierte Fachsprachenforschung und die Terminologiewissenschaft. In den letzten Jahrzehnten wurde hier von Linguisten und Terminologen wesentliche Arbeit geleistet, die leider weniger rezipiert wurde als traditionelle Ansätze der Stilistik. Verständlichkeit ist etwas anderes als guter Stil, schließt aber guten Stil nicht aus. Fachsprachen sind nötig, um sich präzise ausdrücken zu können, sie müssen systematisch entwickelt werden und erleichtern die Kommunikation zwischen Experten. Sie sind in besonderem Maße durch ihre jeweilige Fachterminologie gekennzeichnet, durch die erst hinreichende Präzision erzielt werden kann. Die Entwicklung von Termini ist gleichzeitig Arbeit an den Inhalten und Arbeit an klaren und erkennbaren Benennungen. Hier kann aus Gründen der Eindeutigkeit und zur Vermeidung von Missverständnissen ein englischsprachiger Ausdruck die bessere Wahl sein als eine deutsche Benennung (im Widerspruch zu Ansichten früherer Stilistik-Autoren, Reiners würde hier von Sprachverfall sprechen). Bei der Verwendung von Termini ist die Unverständlichkeit jedenfalls ein geringeres Übel als die Missverständlichkeit, denn die Bedeutung nicht verstandener Termini kann man nachschlagen, missverstandene Termini fallen aber womöglich gar nicht auf.11
[18]
Im Umgang mit Fachterminologie sind die Technischen Redakteure den Legisten offenbar voraus, auch was die technische Umsetzung betrifft. Man denke etwa an die Erstellung von Glossaren, an die typographische Hervorhebung von Termini in Pflichtenheften oder Gebrauchsanweisungen oder die Bereitstellung von Begriffsdefinitionen mittels mouseover-Technik in elektronisch verfügbaren Fachtexten, ohne dass der Lesefluss wesentlich gestört wird. In Gesetzen hingegen sind Termini nicht spezifisch gekennzeichnet, und man erkennt oft nur aus dem Kontext, dass sie eine spezifische terminologische Sonderbedeutung haben.

3.2.

Marcus Tullius Cicero oder das Ideal des «Einen Satzes» ^

[19]
Wenn man die formalen Eigenschaften von Gesetzen betrachtet, so ist wohl das Auffälligste die im Vergleich zu anderen Textsorten sehr hohe durchschnittliche Satzlänge. Auch hier scheint die Tradition antiker rhetorischer und stilistischer Stilideale nachzuwirken. Ein Meister dieses Faches war Cicero, vielleicht erinnern Sie sich selbst noch lustvoll oder schaudernd an den Lateinunterricht und an kunstvoll konstruierte Sätze dieses Autors, die über eine halbe Seite gingen.
[20]
Diese Faszination lebt weiter in Gesetzestexten, und es gilt offenbar auch heute noch unter Juristen als besondere Leistung (die es zweifellos ist!), einen komplexen Sachverhalt in einem einzigen Satz abbilden zu können. Das betrifft nicht nur Gesetze, sondern auch Urteile und Bescheide. Vom kognitiven Standpunkt aus ist dies natürlich höchst problematisch, denn überlange und komplexe Sätze überfordern schlichtweg das Arbeitsgedächtnis jedes Lesers. Auch in empirischen Untersuchungen erweist sich die Satzlänge als valider Prädiktor für Schwerverständlichkeit (daher enthalten praktisch alle Verständlichkeitsformeln die Satzlänge als wesentliches quantitatives Merkmal).12 Man merkt die Überforderung des Arbeitsgedächtnisses praktisch daran, dass man bei solchen Texten auch als geübter Leser zurücklesen muss, und in gesprochener Sprache kommen derartige Sätze nicht vor.
[21]
Die deutliche Verkürzung der Satzlänge ist ein klassischer quick win, um die Verständlichkeit von Texten merkbar zu erhöhen. Lange Sätze sind zudem oft auch syntaktisch mehrdeutig und keinesfalls klarer als kurze Sätze. Hier ein Beispiel aus dem ASVG mit einer mehrdeutigen und/oder-Konstruktion:

§ 9. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann nach Anhörung der in Betracht kommenden Interessenvertretungen und des Hauptverbandes (§ 31) Gruppen von Personen, die keinem Erwerbe nachgehen oder als Grenzgänger in einem benachbarten Staat unselbständig erwerbstätig sind und einer gesetzlichen Pflichtversicherung für den Fall der Krankheit nicht unterliegen, aber eines Versicherungsschutzes bedürfen, durch Verordnung in die Krankenversicherung nach diesem Bundesgesetz einbeziehen, wenn der Einbeziehung nicht öffentliche Rücksichten vom Gesichtspunkt der Sozialversicherung entgegenstehen.

[22]
Dieser einzige Satz mit 71 Wörtern könnte z.B. folgendermaßen wesentlich übersichtlicher gegliedert und klarer formuliert werden:

§ 9. (1) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann durch Verordnung folgende Gruppen von Personen in die Krankenversicherung nach diesem Bundesgesetz einbeziehen, wenn diese nicht gesetzlich für den Fall der Krankheit pflichtversichert sind:

1. Personen, die keinem Erwerb nachgehen

2. Personen, die als Grenzgänger in einem benachbarten Staat unselbständig erwerbstätig sind.

(2) Eine solche Verordnung darf nur erlassen werden, wenn

1. die Personen einen Versicherungsschutz benötigen

2. vom Gesichtspunkt der Sozialversicherung nicht öffentliche Rücksichten entgegenstehen.

(3) Vor Erlassung der Verordnung müssen der Hauptverband (§ 31) und die in Betracht kommenden Interessenvertretungen angehört werden.

[23]
Dieses Ideal des Einen Satzes scheint unter deutschsprachigen Juristen immer noch weit verbreitet zu sein; Gründe dafür sind vermutlich ästhetische Wahrnehmung und Textsorten-spezifische Sozialisation im Jus-Studium (man wird jahrelang trainiert, solche Sätze zu lesen und zu schreiben). Eine ernstzunehmende sachlich oder kognitionspsychologisch begründbare Ursache ist mir nicht bekannt.

3.3.

Das Bilderverbot oder das Misstrauen gegenüber nicht-natürlichsprachlichen Mitteln ^

[24]
Gesetze sind eine sehr konservative Textsorte, was die Verwendung von nicht-natürlichsprachlichen Mitteln betrifft. Visualisierungen kommen nur selten vor, z.B. in Verkehrsgesetzen, Bauordnungen oder Briefwahlordnungen. Funktional mit Gesetzen verwandte Textsorten wie Normen, Patentschriften oder Prozessbeschreibungen haben sich allerdings in den letzten Jahrzehnten stark verändert; man denke etwa an die Visualisierung von Ablaufbeschreibungen in Form von Flussdiagrammen oder Entscheidungsbäumen. Derartige Darstellungsformen haben sich als effektiver und effizienter erwiesen als rein verbalsprachliche Ausdrucksmittel. Im Bereich der Technischen Kommunikation und Informatik haben sich visuelle und formalisierte Beschreibungssprachen durchgesetzt wie etwa UML oder BPMN. Mittels solcher Beschreibungssprachen kann man Sachverhalte und Prozesse logisch exakt, einheitlich und eindeutig abbilden. Auch für das Requirements Engineering wurden semiformale und formale Beschreibungssprachen entwickelt, um die richtige Balance zwischen Exaktheit, Anschaulichkeit und Verständlichkeit für alle Beteiligten herzustellen.13
[25]
Die Bedenken von Legisten gegen den Einsatz visueller und auch formaler Mittel (z.B. die Verwendung von Formeln zur Durchführung von Berechnungen)14 sind durchaus ernst zu nehmen, da dies ja einen Bruch mit jahrhundertelangen Traditionen in der Gesetzgebung bedeutet. Doch für die meisten dieser Bedenken, wie etwa mangelnde Zitierfähigkeit, höherer Abstimmungsaufwand, erhöhter technischer Aufwand durch Versionierung von Text und Bild gibt es inzwischen gute technische Lösungen, die sich im Bereich der Technischen Kommunikation bewährt haben.
[26]
Nicht nur im Gesetz selbst, sondern auch als Unterstützung beim (kollaborativen) Entwerfen und der Ausformulierung von Gesetzen sind Visualisierungen sinnvoll und nützlich. Das gleiche gilt für die Kommunikation und Popularisierung rechtlicher Inhalte. Der in der legistischen Praxis leider wenig wahrgenommene Forschungsbereich der visuellen Rechtskommunikation beschäftigt sich mit derartigen Fragestellungen.15 Auch in der aktuellen linguistischen Theoriebildung wird der Textbegriff deutlich erweitert, man spricht immer mehr von multimodalen Texten und sogar von Bildlinguistik.16

3.4.

Konrad Duden überinterpretieren oder der Wunsch nach perfekter Präskription ^

[27]
In der Linguistik unterscheidet man zwischen Deskription (beschreiben, wie etwas ist) und Präskription (beschreiben wie etwas sein soll). Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache ist in der modernen Linguistik überwiegend deskriptiv ausgerichtet; Wörterbücher, Grammatiken und Lehrbücher hingegen sind überwiegend präskriptiv. Sprachen entwickeln sich aber ständig weiter, man denke etwa an Entwicklungen wie den Einfluss des Englischen auf die deutsche Sprache oder die Veränderungen im Gebrauch des Konjunktivs bei der indirekten Rede. Präskriptive Grammatiken können solche Entwicklungen nicht wirkungsvoll aufhalten, die Alternative wäre eine Sprachpolizei, die aber für das Deutsche weder politisch gewünscht noch durchsetzbar ist. Um dieser ständigen Veränderung und Weiterentwicklung der Sprache Tribut zu zollen, erscheint der Duden ca. alle fünf Jahre in einer deutlich überarbeiteten Auflage. In Zweifelsfällen werden häufig mehrere Alternativen zugelassen, meist mit einer empfohlenen Variante. Das perfekte Regelwerk mit eindeutigen Lösungen für alle sprachlichen Herausforderungen kann und will der Duden gar nicht sein.
[28]
Der Wunsch nach perfekter Präskription für das sprachliche Handwerkszeug des Legisten ist zwar nachvollziehbar, einige Stilfibeln oder Checklisten zeugen davon,17 doch natürliche Sprache lässt sich nicht so leicht bändigen wie am Reißbrett entworfene formale Sprachen. Die Legistik sollte – vergleichbar mit technischen Disziplinen – in einigen Bereichen ihre Fachsprache stärker als Sondersprache weiterentwickeln. Besonders wichtig sind z.B. terminologische Klärungen für Sonderbedeutungen (etwa für den Begriffsinhalt der Modalverben können – sollen – müssen) und andererseits sprachliche Mittel zur Verdeutlichung in Zweifelsfällen (und/oder Kombinationen, sowohl – als auch, weder noch, einerseits – andererseits). Eine derzeit eher utopisch anmutende Alternative zum natürlichsprachlichen Recht als Fachsprache wäre eine streng formale Rechtssprache mit den Möglichkeiten automatischer Rechtsgenerierung und -aushandlung.

3.5.

Kaiserin Maria Theresia oder von der Aktualität der Aufklärung ^

[29]
Über Kaiserin Maria Theresia gibt es die schöne Anekdote vom buta ember (ung. dummer Mensch):18 Jeder Entwurf einer behördlichen Anordnung in der ungarischen Reichshälfte sollte einem Mann mit Grundschulbildung vorgelegt werden. Dieser musste dann die Anordnung frei wiedergeben. Misslang die Wiedergabe, musste die Anordnung von einer Kommission umgeschrieben werden.
[30]
Diese Vorstellung entspricht dem Geist des aufgeklärten Absolutismus: Die Untertanen müssen das verstehen können, woran sie sich zu halten haben. Gerade in unserem aktuellen postfaktischen Zeitalter sollten wir aus demokratiepolitischen Überlegungen einen solchen Anspruch zumindest beibehalten. Die Allgemeinverständlichkeit der Gesetzessprache ist sicherlich nicht vollständig erzielbar, doch als nützliche Fiktion und zum Abbau unnötiger Herrschaftssprache und Bürokratenjargons ist dieser Anspruch jedenfalls hilfreich.
[31]
Im Kern entspricht das Modell des buta ember zudem der empirischen Herangehensweise im Usability Engineering: Ausprobieren, ob etwas funktioniert, und zwar mit real users und real cases.

4.

Resümee: Was tun? ^

[32]
Im Lichte transdisziplinärer Verständlichkeitsforschung sind folgende Aspekte besonders erwähnenswert:
  • Man sollte bei der Diskussion dieser Fragestellungen nicht im Gestus des Grundsätzlichen verharren (Skeptiker vs. Schwärmer), sondern versuchen das «Übel» mit Augenmaß und an der Wurzel zu packen (d.h. an den Gesetzen selbst anzusetzen). Formulierungen in Gesetzen kaskadieren in Verordnungen, Bescheide und Formulare hinein; insofern haben bürgerfreundliche Übersetzungen für juristische Laien immer den Charakter von Notlösungen. Darüber hinaus würden gerade Juristen besonders von verständlicheren Gesetzen profitieren, da es ihre Arbeit im Alltag erleichtert.
  • Bei Projekten und wissenschaftlicher Forschung ist die transdisziplinäre Perspektive besonders relevant. Es geht nicht nur darum, dass unterschiedliche Forschungsdisziplinen wie Kognitionswissenschaft, angewandte Linguistik und juristische Methodenlehre das Objekt Gesetzessprache beforschen, sondern dass auch der Prozess der Gesetzeswerdung und die handelnden Personen (Stakeholder) bei derartigen Projekten mit einbezogen werden. Empirische Studien zum Thema sollten stets den Anspruch ökologischer Validität verfolgen.
  • Methoden benachbarter Disziplinen können die Diskussion über verständliche Gesetzessprache befruchten. Beim Blick über den Tellerrand scheinen mir Disziplinen wie Usability Engineering, Informationsdesign, Prozessmanagement, Cognitive Science, Terminologiewissenschaft und Textsortenlinguistik mit ihren theoretischen Ansätzen und ihrem reichhaltigen Methodeninventar besonders nützlich zu sein. Der Methodeneinsatz sollte dabei nicht willkürlich, sondern in Form eines theoretisch reflektierten Eklektizismus erfolgen.
  • In diesem Artikel wurde kaum auf die reale Welt beim Entstehen und Novellieren von Gesetzen eingegangen (Zeitdruck, politische Kompromisse, Interventionen, parlamentarische Prozesse etc.). Hier liegt vermutlich die schwierigste Aufgabe, wie man wirkungsvolle Prozesse entwickeln und institutionell verankern kann. Doch auch hierfür gibt es erfolgreiche Beispiele, wie etwa die VIRK (Verwaltungsinterne Redaktionskommission) in der Schweiz zeigt.19
  • Zuletzt sei auf Schulungen für angehende Juristen und Legisten verwiesen, die derzeit wenig angeboten werden. Das Formulieren verständlicher Texte lässt sich erlernen und trainieren. Besonders nützlich dabei ist die Diskussion in peer-groups über mögliche Varianten und deren Vor- und Nachteile.
  1. 1 Die Artikel aller drei von Kent Lerch herausgegebenen Sammelbände zu diesem Themenbereich sind online im Volltext verfügbar: http://edoc.bbaw.de/.
  2. 2 Antos/Eichhoff-Cyrus, Verständlichkeit als Bürgerrecht? Die Rechts- und Verwaltungssprache in der öffentlichen Diskussion, Peter Lang, Frankfurt a.M. 2008.
  3. 3 Zur pointierten Darstellung dieser Gegensätze und Ansätzen zur Auflösung siehe Nussbaumer, Von Schwärmern und Skeptikern und ein Versuch, Realist zu sein. In: Lerch (Hrsg.), Recht verstehen. Verständlichkeit, Missverständlichkeit und Unverständlichkeit von Recht, de Gruyter, Berlin 2004, S. 285–295.
  4. 4 Noch immer lesenswert ist die umfangreiche empirische Studie von Pfeiffer/Strouhal/Wodak, Recht auf Sprache. Verstehen und Verständlichkeit von Gesetzen, Orac, Wien 1987; aus juristischer Sicht der posthum herausgegebene Sammelband von Aufsätzen Otto Schönherrs: Schönherr, Sprache und Recht. Aufsätze und Vorträge, Manz, Wien 1985; die aktuelle Diskussion zusammenfassend mit einem umfangreichen Fallbeispiel zum ASVG Lutz, Verständlichkeitsforschung transdisziplinär. Plädoyer für eine anwenderfreundliche Wissensgesellschaft, V&R unipress, Göttingen 2015.
  5. 5 Vgl. Kimble, Writing for Dollars, Writing to Please. The Case for Plain Language in Business, Government, and Law, Carolina Academic Press, Durham 2012.
  6. 6 Umfangreiche Details und Begründungen dazu in Lutz, a.a.O., Kapitel 6.
  7. 7 Langer/Schulz von Thun/Tausch, Sich verständlich ausdrücken11, Reinhardt, München 2011.
  8. 8 Vgl. Öhlinger, Sprache und Recht – eine Problemskizze. In ders. (Hrsg.), Recht und Sprache. Fritz Schönherr – Gedächtnissymposium 1985, Manz, Wien 1986.
  9. 9 Reiners, Stilfibel. Der sichere Weg zum guten Deutsch, dtv, München 1963.
  10. 10 Vgl. Eroms, Stil und Stilistik. Eine Einführung, Erich Schmidt Verlag, Berlin 2008.
  11. 11 Umfangreiche Details und Begründungen dazu in Lutz, a.a.O., Kapitel 5.6.
  12. 12 Vgl. Ernst, Lesbarkeit von Rechnungswesenbüchern an kaufmännischen Berufsschulen, Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 2011, S. 408–423.
  13. 13 Siehe ausführlich Lutz, a.a.O., Kapitel 9.2.
  14. 14 Vgl. Buchta, Die Ausgestaltung von Normen mit mathematischem Hintergrund im neu zu erlassenden Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz. In: Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (Hrsg.), ASVG – Neue Wege für die Rechtsetzung, Verlag Österreich, Wien 1999, S. 199–250.
  15. 15 Vgl. Brunschwig, On Visual Law: Visual Legal Communication Practices and Their Scholarly Exploration. In: Schweighofer et al. (Hrsg.), Zeichen und Zauber des Rechts. Festschrift für Friedrich Lachmayer, Editions Weblaw, Bern 2014, S. 899–933.
  16. 16 Vgl. Kress, Multimodality. A Social Semiotic Approach to Contemporary Communication, Routledge, London 2010; Diekmannshenke et al. (Hrsg.), Bildlinguistik. Theorien – Methoden – Fallbeispiele, Verlag Erich Schmidt, Berlin 2011; zusammenfassend Lutz, a.a.O., S. 182ff.
  17. 17 In Österreich wohl am bekanntesten Schönherr, Sprache und Recht. Aufsätze und Vorträge, Manz, Wien 1985, S. 9–18. Die meisten der Hinweise sind auch heute gut brauchbar, einige wirken allerdings willkürlich oder veraltet.
  18. 18 Ebenda, S. 83.
  19. 19 Vgl. Nussbaumer, Der Verständlichkeit eine Anwältin! Die Redaktionskommission der schweizerischen Bundesverwaltung und ihre Arbeit an der Gesetzessprache, In: Antos/Eichhoff-Cyrus, Verständlichkeit als Bürgerrecht? Die Rechts- und Verwaltungssprache in der öffentlichen Diskussion, Peter Lang, Frankfurt a.M. 2008, S. 301–323.