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Wissensmanagement, situatives Lernen, Fortbildung in der ÖV – drei Sichten, ein Thema

  • Authors: Peter Schilling / Juliane Schmeling / Petra Steffens
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: E-Government
  • Collection: Conference Proceedings IRIS 2017
  • Citation: Peter Schilling / Juliane Schmeling / Petra Steffens, Wissensmanagement, situatives Lernen, Fortbildung in der ÖV – drei Sichten, ein Thema, in: Jusletter IT 23 February 2017
Wissensmanagement (WM) und IT-gestütztes Lernen sind gerade in kleinen Behörden, wie in ländlichen Gemeinden noch ausbaufähig. Am Beispiel des EU-Projekts EAGLE werden Projektergebnisse als Verbesserungsansätze für ein situatives, IT-gestütztes Lernen vorgestellt. Ferner werden Vorschläge gemacht, wie die Erkenntnisse aus EAGLE mit WM und weiteren Wissensquellen der Öffentlichen Verwaltung (ÖV) wie z. B. der Registratur, zu einem Gesamtkonzept mit bereits vorhandenen Fortbildungs- und WM-Ansätzen verbunden werden können. Für dabei auftretende Fragestellungen werden Lösungsansätze skizziert.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Problemstellung
  • 1.1. Wachsende Anforderungen an die Mitarbeiterfortbildung
  • 1.2. Heutige Trennung zwischen Wissensmanagement (WM) und Wissenserwerb
  • 1.3. Auflösung von typischen Zielkonflikten
  • 2. Fortschrittlicher Wissenserwerb am Beispiel EAGLE: situativ, kooperativ, wirtschaftlich
  • 2.1. Ziele, Vorgehensweise, Ergebnisse
  • 2.2. EAGLE Use Cases
  • 3. Vision: Ganzheitliche Umgebung zur Wissensverarbeitung
  • 3.1. Heutige Betrachtungsweise zum Vergleich
  • 3.2. Ziel: Integriertes Wissensmanagement
  • 3.3. Zusammenfassung und Ausblick

1.

Problemstellung ^

1.1.

Wachsende Anforderungen an die Mitarbeiterfortbildung ^

[1]

Die aktuellen Rahmenbedingungen in den Kommunen erhöhen den Bedarf an zeitnaher Fortbildung und direktem Austausch. Die Rechtslage verändert sich durch neue Gesetze und Novellierungen als Reaktion auf neue Probleme immer rascher. Arbeitshilfen in umsetzbarer Form hierfür, z.B. als Leitfäden, sind meist nur verzögert verfügbar. Auch erhöht E-Commerce-Erfahrung die Service-Erwartungen der BürgerInnen1 an die Öffentliche Verwaltung (ÖV). Auch der demographische Wandel erschwert den Wissenstransfer von ausscheidenden und erfahrenen MitarbeiterInnen und muss daher für die Einarbeitung neuer Mitarbeiter verbessert werden. Das früher übliche «Einlernen» des Nachfolgers durch den Stelleninhaber ist kaum noch möglich; Gründe sind z.B. Wiederbesetzungssperren oder das Zusammenlegen von Stellen. Besonders betroffen sind kleine Gemeinden mit knappem Personalkörper. Viele MitarbeiterInnen erfüllen mehrere Funktionen; entsprechend schwierig ist eine Freistellung für externe Weiterbildung. Im ländlichen Raum ist Fortbildung außerdem meist mit Reisen und damit mit weiteren Zeit- und Kostenaufwänden verbunden.

1.2.

Heutige Trennung zwischen Wissensmanagement (WM) und Wissenserwerb ^

[2]

Als Lösung bieten sich verschiedene Formen von IT-gestütztem Wissenserwerb und Weitergabe an, so z.B. IT-gestützte orts- und zeitunabhängige Lern- und Kollaborationsformen für den Austausch von Inhalten.2 Während solche Werkzeuge und ihre Integration mit vorhandenen Daten und IT-Anwendungen in vielen Wirtschaftsbereichen Teil des Arbeitsalltags sind, zeigt sich die ÖV eher zurückhaltend bei IKT-unterstütztem Erwerb und Weitergabe von Wissen. Der Wert solcher Systeme wird zwar anerkannt, aber die Umsetzung erfolgt, wie Studien3 zeigen, schleppend. Auch fehlen auf die ÖV zugeschnittene Werkzeuge, die den situativen Wissenserwerb und den spontanen, vorgangsbezogenen (auch behördenübergreifenden) Austausch zwischen ExpertInnen sowie die komfortable und effiziente semantische Suche in unterschiedlichen Wissensbeständen unterstützen. Eine mobile Nutzung sollte ebenfalls möglich sein. Das o.g. Demographieproblem verstärkt die Notwendigkeit für Verbesserungen.4

[3]

WM-Systeme und -Konzepte finden sich zwar bei großen Behörden häufiger, aber auch hier erscheint die Verbindung zwischen Wissensnutzung und -erwerb durch Lernen höchstens implizit. Generell wird Wissenserwerb im Sinne von Lernen in der Praxis getrennt vom Wissensmanagement (WM) betrachtet. Ein integriertes WM besteht jedoch nicht nur aus der systematischen Wissensspeicherung und der Recherche in diesem technisch begrenzten Bereich. Eine Veröffentlichung zur eStrategie des Bundesverwaltungsamtes (DE)5 zeigt dies symptomatisch: die Begriffe «Lernen» und «Fortbildung» tauchen in einer ansonsten inhaltlich hochwertigen Broschüre zum Wissensmanagement in der Behörde kein einziges Mal auf.

1.3.

Auflösung von typischen Zielkonflikten ^

[4]
In IT-, Organisations- und Change-Projekten treten typische Zielkonflikte auf. So fordern die Beschaffungsregeln, dass vor Projektbeginn bereits detaillierte Angaben zu geplanten Maßnahmen gemacht werden, obwohl viele Anforderungen erst im Projektverlauf mit den Betroffenen definiert werden können. Auch ist zu unterscheiden zwischen Benutzerwünschen und -bedürfnissen. Wünsche beziehen sich meist auf Verbesserungen bekannter Funktionen, Bedürfnisse hingegen auf bisher nicht realisierte IT-Unterstützung. Es ist Aufgabe des Projektteams, Lösungen für solche Bedürfnisse, die als konkrete Anforderungen von den Benutzern gar nicht erst formuliert werden («geht ja doch nicht»), zu entwickeln. Die Benutzer können innovative Lösungen aber erst dann beurteilen, wenn sie durch Mockups, Prototypen o.ä. für sie erkennbar werden. Agile Entwicklung bietet Lösungsansätze, hält in die Projekte der ÖV jedoch nur zögerlich Einzug.6 Für die Themen Wissensmanagement, situatives Lernen und Fortbildung bedeutet dies, dass in der Verwaltungspraxis anzutreffende IT-Lösungen i.d.R. lediglich Segmente des gesamten WM-Spektrums realisieren.
[5]

Während Wissensmanagement und Wissenserwerb in der Praxis zumeist als eigenständige Themen betrachtet werden, findet sich in der Wissenschaft meist schon eine gesamtheitliche Sichtweise. Sie schlägt sich z.B. in den Definitionen und Darstellungen wie im Gabler Wirtschaftslexikon7 nieder. Sie lautet dort «Wissensmanagement beschäftigt sich mit dem Erwerb, der Entwicklung, dem Transfer, der Speicherung sowie der Nutzung von Wissen. Wissensmanagement ist weit mehr als Informationsmanagement». Ein Beispiel für die Realisierung dieser Auffassung ist das Projekt EAGLE (EnhAnced Government LEarning), ein Projekt, das bis Januar 2017 im 7. EU-Rahmenprogramm durchgeführt wird und das der verbreiteten Betrachtung von Einzelaspekten des Wissenserwerbs und -austausches eine holistische Herangehensweise gegenüberstellt. In dem Projektkonsortium arbeiten ExpertInnen aus der IT, dem Lern- und WM sowie Verwaltungsexpertinnen und praktiker aus sieben Ländern zusammen. Ihr Ziel ist die Entwicklung pädagogisch fundierter und verwaltungstauglicher Konzepte und technischer Lösungen, die es gerade ländlichen Verwaltungen ermöglichen, schnell und einfach Zugang zu praxisnahem Wissen zu erhalten. Dieser Beitrag beschreibt anhand des Beispiels EAGLE, welche Anforderungen an eine Lern- und Wissens-Plattform (LWPf) in einem nutzerzentrierten Entwicklungsprozess ermittelt und umgesetzt wurden. Er zeigt ferner auf, welche weitergehenden Ziele und Lösungen sich aus dem Anspruch ergeben, Wissensmanagement, situatives Lernen und Fortbildung in einer für die integrierten Lösung bereitzustellen.

2.

Fortschrittlicher Wissenserwerb am Beispiel EAGLE: situativ, kooperativ, wirtschaftlich ^

2.1.

Ziele, Vorgehensweise, Ergebnisse ^

[6]

Im Projekt EAGLE wurde eine internetbasierte Plattform für den Erwerb und den Austausch von Wissen entwickelt. Die Entwicklung folgte einem nutzerzentrierten Ansatz. Praktiker aus Gemeinden und Kreisen wurden in den gesamten Entwicklungsprozess eingebunden.8 Insgesamt waren MitarbeiterInnen von etwa 80 Kommunal- und Regionalverwaltungen in Irland, Deutschland, Luxemburg und Montenegro aktiv beteiligt.9 Ihre Mitarbeit erfolgte in Interviews und Workshops im Rahmen einer initialen Anforderungsanalyse. So wurde ermittelt, wie Fortbildung in Gemeinden organisiert ist, welche Barrieren und Erfolgsfaktoren für IT-gestütztes Lernen gesehen werden und welche Anforderungen an eine LWPf sich hieraus ergeben.10 Im Projektverlauf wurden Prototypen der Plattform von Verwaltungspraktikern aufgabenorientiert validiert.11 In Deutschland beteiligten sich 15 Gemeinden und Kreisverwaltungen sowie eine Fortbildungseinrichtung für die ÖV an der Anforderungsanalyse. Einen Überblick über die Ergebnisse bietet der Abriss «EAGLE – Lernen und Wissen Teilen».12 Im Folgenden werden einige zentrale Punkte der Anforderungsanalyse dargestellt, vorwiegend solche, aus denen Anforderungen an eine LWPf abgeleitet werden können.

[7]

Bei den Befragten hatte berufsbegleitendes Lernen einen hohen Stellenwert. Derzeit wird neues Wissen durch den Besuch von Präsenzveranstaltungen erlangt; dazu spielen die direkte Kommunikation und der persönliche Austausch unter den MitarbeiterInnen innerhalb der eigenen Gemeinde sowie mit anderen Gemeinden eine große Rolle. Der resultierende Lernstil ist oft eher situationsbezogen und informell. Grundsätzlich wird die verwaltungsübergreifende Zusammenarbeit als wichtig bewertet. Zur Unterstützung besteht der Wunsch, leichter geeignete Gesprächspartner aufzufinden. Zwar hatten die meisten der Befragten noch keine Erfahrung mit IT-gestütztem Lernen, zeigten sich aber aufgeschlossen. Allerdings wurde befürchtet, dass diese Art des Lernens und des Austauschs zum Verlust von persönlichem Kontakt führen könnte. Die Anforderungsanalyse zeigte auch, dass ein Zugriff auf aufgabenrelevante Informationen deshalb schwierig ist, weil diese auf verschiedene Quellen verteilt sind; z.B. auf verschiedene Datenbanken, auf Anwendungen wie Ratsinformationssysteme sowie auf diverse Datei-Verzeichnisse. Für eine Bearbeitung sind daher oft mühsame Recherchen in unterschiedlichen Quellen erforderlich. Für eine elektronische LWPf ist die Integration vorhandener Wissensbestände und bereichsübergreifender Dienste daher wichtig. Potential für LWPf wird vor allem für allgemeine Verwaltungsthemen gesehen, z.B. für die Umstellung auf Doppik, auch für Infrastrukturthemen wie z.B. Abwasserentsorgung oder Straßenbau. Die Vermittlung von Querschnittskompetenzen wie IKT wurde seitens der Befragten als weniger geeignet eingeschätzt.

[8]
Die Anforderungsanalyse hatte neben der Erfassung des Status Quo und der Ermittlung von Anforderungen an eine LWPf auch die Identifikation der Rahmenbedingungen zum Ziel, die ein selbstbestimmtes Lernen begünstigen. Hier wurde z.B. gewünscht, dass es gerade für Mitarbeiter mit Außenkontakten wichtig ist, Zeitfenster für ungestörtes Lernen zu erhalten. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass Feedback und Bestätigung für die Lernanstrengungen und Lernerfolge als Motivation hilfreich wäre. Weiterhin wurden neben den zu etablierenden, vorwiegend arbeitsorganisatorischen Rahmenbedingungen Anforderungen an eine LWPf und die darin angebotenen Inhalte abgeleitet. Besonders betont wurde die Möglichkeit zum persönlichen, auch gebietsübergreifenden, Austausch (z.B. durch Diskussionsgruppen und Wikis) und zur Qualitätskennzeichnung der Inhalte durch die Anwender (z.B. durch Funktionen zur Bewertung).
[9]
Auf Basis dieser Anforderungen wurde im Projekt EAGLE von Fraunhofer FOKUS in Kooperation mit den Projektpartnern LIST13 und SRFG14 eine Internet-gestützte LWPf für Mitarbeiter in öffentlichen Verwaltungen entwickelt (im Folgenden: EAGLE-Plattform). Die EAGLE-Plattform basiert auf Prinzipien Offener Daten und dem sog. «Semantic Web», das durch die Verknüpfung sinnverwandter Daten eine gezieltere Nutzung von Daten im Internet ermöglichen will. Sie stützt sich auf «Open Educational Resources» (OER), d.h. frei verfügbare Lernmaterialien wie Online-Kurse, Videos oder Lernspiele, die für Bildungszwecke (wieder-) verwendet, angepasst und verbreitet werden können.15 Die Plattform nutzt Linked Data als Integrationstechnologie unter einer Open-Source-Strategie. Sie setzt existierende Open-Source-Komponenten ein, wie z.B. die Apache Marmotta Linked Data Platform16 mit Funktionen für das Harvesting und für die semantische Suche oder Apache Stanbol17 für die Strukturierung und semantische Anreicherung von Inhalten.18 Die Verwaltungsfunktionen von OER basieren auf CKAN (Comprehensive Knowledge Archive Network), einem de-facto-Standard für die Verwaltung Offener Daten.19
[10]

Neben Funktionen zur Akquise, semantischen Anreicherung und Bereitstellung von OER-Inhalten bietet die EAGLE-Plattform Funktionen für den persönlichen Austausch zwischen Verwaltungsmitarbeitern, für die Personalisierung, für die Erstellung von Inhalten und ihre Charakterisierung durch Metadaten sowie für eine aufgabenorientierte und semantische Suche und Navigation.20

[11]
Kollaboration: Die Plattform bietet eine Reihe von Community-Funktionen, wie sie aus sozialen Medien bekannt sind: Chats für die private synchrone Kommunikation zwischen zwei Personen und Foren für die themenorientierte Diskussion, Blogs zur Mitteilung und Kommentierung von persönlichen Erfahrungen, Wikis für die gemeinsame Erstellung und Pflege von Informationen zur asynchronen Kommunikation der Nutzer sowie die Möglichkeit, Bewertungen für jede Art Inhalt abzugeben.
[12]
Personalisierung: In einem persönlichen Bereich genannt «My Eagle» können Nutzer die von ihnen kreierten Inhalte einsehen und Informationen für ihren persönlichen Gebrauch festhalten. Perspektivisch soll es auch möglich sein, Informationen zum eigenen Lernfortschritt in einem «Dashboard» zu erhalten.
[13]
Erstellung und Charakterisierung von Inhalten: Für die Erstellung von Inhalten stehen Werkzeuge zur Verfügung, mit denen unterschiedliche Formate, z.B. Textdokumente, Ton- oder Videomaterial, erzeugt werden können. Zur Veröffentlichung gibt der Nutzer einige Meta-Informationen ein. Hierzu zählen Schlagwörter zum Inhalt, Angaben zum Format und zur Sichtbarkeit der erstellten Ressource (z.B. nur für die eigene Behörde oder für alle EAGLE-Plattform-Nutzer) sowie die Angabe des Lizenz-Typs.
[14]

Auffinden von Inhalten und Navigation: Neben einer ontologiebasierten Stichwortsuche stehen zwei Funktionen speziell für die ÖV zur Suche bzw. Navigation und Visualisierung zur Verfügung: zum einen sog. Themenkarten mit den relevanten Aufgabenbereiche einer Kommunalverwaltung (z.B. «Familie und Partnerschaft» mit Unterthema «Hilfe, Förderung und Gelder») – wählt der Nutzer ein Thema aus, erhält er aufgabenbezogen eine Übersicht relevanter Ressourcen; zum anderen sog. Argumentationskarten – diese basieren auf der Theorie des fallbasierten Schließens21 und dienen dazu, Entscheidungswege zu dokumentieren und auf der Plattform zu hinterlegen, so dass bei der Bearbeitung ähnlicher Fälle auf frühere Erfahrungen zurückgegriffen werden kann.

[15]

Weitere Themen: Im Projekt EAGLE wurden weitere Konzepte und Plattform-Features erarbeitet, z.B. Gamification, automatische Testerzeugung sowie ein pädagogisches und ein ganzheitliches Konzept des Change Management.22 Diese Aspekte sind im Beitrag nicht behandelt, da sie den Rahmen sprengen würden.

[16]
Zur Illustration der EAGLE-Funktionalität werden im folgenden Abschnitt einige zentrale Use Cases (Anwendungsszenarien) beschrieben.

2.2.

EAGLE Use Cases ^

[17]
Use Case Bürgeramt: Für die MitarbeiterInnen des Bürgeramts steht ein Wiki auf der EAGLE-Plattform zur Verfügung, das die wesentlichen Rechtsvorschriften, Standardprozesse und Routinen beschreibt. Es dient allen als Nachschlagewerk, das durch die kontinuierliche Pflege auf dem neusten Stand bleibt. So kann es nicht passieren, dass eine veraltete Fassung verwendet wird. Durch die Versionierung bleibt es aber möglich, ältere Versionen anzusehen und Veränderungen nachzuvollziehen. Insbesondere neue MitarbeiterInnen haben dadurch die Möglichkeit, sich schnell in ihrem neuen Arbeitsumfeld zurechtzufinden.
[18]
Use Case Ausbildung: Marie macht die Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten und bereitet sich im Fach «Bürgerorientiertes Handeln» auf die Klausur vor. Es bildet sich eine Lerngruppe zur Klausurvorbereitung. Für den ersten Aufriss durchsucht Marie themenorientiert die EAGLE-Plattform nach Inhalten, indem sie die Themenkarten durchstöbert. Im Bereich Verwaltung, Organisation und Politik gibt es die Kategorie Bürgerbeteiligung, wo sie gelungene Beispiele findet. Marie erstellt eine eigene Lernressource (OER) mit dem Stichwort Bürgerorientierung und verwendet auch die gefundenen Beispiele. Sie teilt den Inhalt mit ihrer Lerngruppe, indem sie den Link an alle Mitglieder versendet. Louisa ergänzt einen Abschnitt zum Thema Service-Orientierung. Danach erstellen sie einen Test, um die Inhalte üben zu können. Die Lerngruppe ist nun vorbereitet. Der folgende Jahrgang bekommt von der Lehrerin den Hinweis, dass es im letzten Jahr eine Lerngruppe gab, die sich mit EAGLE auf die Klausur vorbereitet hat. Die neue Lerngruppe sucht auf der EAGLE-Plattform nach dem Stichwort Bürgerorientierung und findet neben der von Marie erstellten OER weitere Inhalte dazu aus anderen Städten. Sie bewerten die Inhalte. Dadurch wird es für den folgenden Jahrgängen noch leichter, Experten und Fachkompetenz auf dem Gebiet zu finden. Die neue Lerngruppe arbeitet an Maries OER weiter und ergänzt sie um die im Unterricht neu hinzugekommenen Aspekte.
[19]
Use Case Interkommunale Zusammenarbeit: In Brandenburg hat sich ein interkommunaler Arbeitskreis «Digitalisierung der Antragsformulare» gebildet. Viele Formulare müssen auf Formerfordernisse überprüft werden. Da es langwierig ist, alle Formulare einer Stadt zu untersuchen, tauchen auch zwischen den Arbeitstreffen Fragen auf, die mehrere Mitglieder der Gruppe diskutieren sollten. Für den Meinungsaustausch nutzt die Arbeitsgruppe die Forum-Funktion. Durch die Möglichkeit auch auf die Kommentare der anderen Nutzer reagieren zu können, entstehen zu einem Thema häufig verschiedene Diskussionsstränge, die zu Problemlösungen beitragen. Um jene Fälle zu diskutieren, für die die Formerfordernisse nicht eindeutig geregelt sind, nutzt die Arbeitsgruppe die Argumentationssoftware. Sie ermöglicht es, Entscheidungen für ähnliche Fälle anhand eines festgelegten Entscheidungsmodells zu bewerten und miteinander zu vergleichen. Im Ergebnis wird anhand von festgelegten Kriterien entschieden, welches Formerfordernis jeweils angemessen ist.

3.

Vision: Ganzheitliche Umgebung zur Wissensverarbeitung ^

[20]
Das Projekt EAGLE ist ein aktuelles Best-Practice-Beispiel für ein holistisches, IT-gestütztes Vorgehen zu Wissenserwerb und -weitergabe. Gleichwohl hat EAGLE Grenzen. Um EAGLE mittelfristig zu einer voll integrierten Wissensumgebung auszubauen, ist die Anbindung aller relevanten Wissensquellen erforderlich. Für die Integration der EAGLE-Plattform mit vorhandenen Informations- und Wissensquellen sind Architekturkonzepte auszuarbeiten und umzusetzen. Die folgenden Ausführungen beschreiben, welche funktionalen Bausteine ein solches ganzheitliche WM-System umfasst.
[21]

Wie an anderer Stelle23 ausgeführt, kann man die gesamte Verwaltung als Informations- und Wissensverarbeitung betrachten. Die Effektivität und Qualität der Arbeitsergebnisse hängt damit von Umfang und Qualität des aktuell verfügbaren individuellen Wissens ab. Soweit bei der Fallbearbeitung durch die Einbeziehung und das Verständnis neuer Informationen das Wissen erweitert wird, gehen Bearbeitung und Wissenserwerb Hand in Hand. Dies ist, grob gesagt, der Aufbau der individuellen Kompetenz und Berufserfahrung. Die wesentlichen Wissensquellen sind in Abbildung 1 schematisch dargestellt.

3.1.

Heutige Betrachtungsweise zum Vergleich ^

[22]

Das berufliche Wissen, das eine Mitarbeiterin der ÖV benötigt, bezieht sie derzeit i.d.R. aus vier Quellen. Die berufsvorbereitende Ausbildung und die Kurse von Fortbildungseinrichtungen, die eine feste Curriculum-Struktur aufweisen (Formales Lernen) und die Quellen, auf die während eines Arbeitsprozesses zugegriffen wird. Sie sind unterschiedlicher Natur und als «situatives Lernen» differenzierter zu betrachten. Das wesentliche Potenzial liegt dabei in der Sammelposition «individueller Wissenserwerb». Das so erworbene Wissen kann man als «Berufserfahrung» bezeichnen. Es ist der Wissenszuwachs, der durch konkrete Fallbearbeitung und Austausch mit Kollegen entsteht. Wissensmanagement wird dabei vielfach als eigenständiger Bereich betrachtet, der nur einen Ausschnitt aus den zur Verfügung stehenden Informationen abdeckt. Die Position «Aktenwissen» hat auch mehrere Bestandteile: Herkömmliche Informationsquellen wie z.B. externe Info-Dienste, Rundschreiben und Loseblattwerke mit oder ohne Integration in ein systematisches Wissensmanagement sowie das in den Registraturen der Behörde vorhandene bzw. verborgene Wissen (im Idealfall als eAkte). Auch dieser Bereich hat ein gewisses Innovationspotenzial. Die berufsvorbereitende bzw. berufsqualifizierende Ausbildung und die herkömmlichen Fortbildungskonzepte sind derzeit dagegen stabil und haben eine vergleichsweise geringe Veränderungs- und Verbesserungsdynamik.

3.2.

Ziel: Integriertes Wissensmanagement ^

[23]
Abbildung 2 zeigt den individuellen Wissenserwerbs mit den genannten und nunmehr integrierten Wissensquellen. Dabei wird unterschieden zwischen den IT-gestützten neuartigen Hilfsmitteln, welche die EAGLE-Plattform bereitstellt (1) und weiteren sinnvollen und technisch machbaren Formen der IT-Unterstützung (2), die nachfolgend zusätzlich vorgeschlagen werden. Die Abbildung 2 ist wie folgt zu verstehen:
[24]
Austausch und Dokumentation in Community: Das Potenzial des Lernens in einer Community auszuschöpfen, ist eines der Ziele des EAGLE-Projekts. Die Community-Bildung und die Kommunikation zwischen Teilnehmern werden auf der EAGLE-Plattform ermöglicht. Diese Art von Wissenserwerb und Austausch ist besonders in der ÖV neu und setzt einen Kulturwandel voraus. Es ist ein Hilfsmittel, das die Weitergabe von Erfahrungen an Kollegen und neue Mitarbeiter innerhalb einer Organisation unterstützt. Durch die Community-Tools können Nutzer an fremder Berufserfahrung teilhaben und auch die eigene Berufserfahrung an die Community weitergeben. Von Dragusanu24 werden die Möglichkeiten und Potenziale beschrieben, die der indirekte Wissenstransfer z.B. über eine Community bietet.
[25]
Formale Fortbildung – modular gegliedert: In die LWPf können Lernmodule integriert werden, u. a. auch solche aus etablierten Curricula (was gerade dann nützlich ist, wenn die Ausbildung des Nutzers länger zurückliegt). Zum formalen Lernen bestehen daher Querbezüge. Neu ist jedoch, dass der Benutzer mithilfe der semantischen Suchfunktion Module nach seinem individuellen Bedarfsprofil ad hoc zusammenstellen kann. Die Lernmodule ergänzen die Angebote für das situative Lernen. Die Suchfunktion ermöglicht es dem Nutzer, seinen Bedarf an E-Learning, Präsenzseminaren und Blended Learning zielgenau zu definieren.
[26]
Fallbezogene Recherche «Aktenwissen»: Die eigentliche Informationsbasis einer Behörde ist ihr Schriftgut. Mit seiner Erschließung werden auch Erfahrungen der Amtsvorgänger zugänglich. Ähnlich gelagerte Präzedenzfälle können die Entscheidungsfindung erleichtern und zu einer einheitlicheren Entscheidungspraxis führen, was Qualität und Gleichbehandlung verbessern dürfte. Im Prinzip kann jeder Bearbeiter aus den Akten für neue Fälle ihm zugängliche vergleichbare Altfälle heranziehen. Diese Möglichkeit kann durch entsprechende Suchmöglichkeiten realisiert werden. Für eine Suche in größeren Aktenbeständen ist das Datenschutzrecht zu beachten: Suchergebnisse müssen anonymisiert sein, wenn sie nicht aus dem eigenen Arbeitsbereich stammen. Hier werden drei Möglichkeiten vorgeschlagen:
  • Eine automatische Anonymisierung, deren sichere Realisierung allerdings noch Erprobungs- und ggf. Entwicklungsarbeit erfordern dürfte.
  • Als erster Schritt ist auch die Angabe relevanter Fundstellen mit zuständigen Ansprechpartnern, aber ohne Details denkbar. Die anonyme Nutzung wäre dann mit den jeweils Zuständigen abzuklären.
  • Fälle von besonderer Relevanz können grob automatisch anonymisiert und/oder von einem Autor so bearbeitet werden, dass sie als OER-Material im EAGLE-Bestand verwendet werden können.
[27]
Als Aktenwissen einzuordnen sind seit jeher verwendete Informationen wie Rundschreiben, Dienste über Veränderungen von Verordnungen und Gesetzen und Grundsatzurteile, Verzeichnisse, Systematiken und Textsammlungen wie zum Beispiel in Deutschland LeiKa25 (Leistungskatalog der ÖV), aber auch interne verwaltungsspezifische IT-Lösungen wie Ratsinformationssysteme u.V.m. Für die Integration in ein WM-Konzept müssen diese Informationen elektronisch aufbereitet verfügbar sein.
[28]

Weitere IT-Hilfsmittel: Hierunter fallen alle neuen Konzepte und Methoden wie die derzeit auf der EAGLE-Plattform angebotenen Tools wie Argumentationskarten, Themenkarten, u.s.w. (s. Abschnitt 2.1.).

[29]
Übergreifende semantische Suchfunktion: Die EAGLE-Plattform bietet eine semantische Suchfunktion. Die Trefferqualität wird durch eine spezialisierte Ontologiebasis gesichert. In einem integrierten WM muss, wie in Abbildung 2 dargestellt, eine solche Suche über alle angebundenen Informationsquellen möglich sein. Für eine qualitativ hochwertige Suche sind hier das völlige Fehlen irrelevanter Pseudotreffer und die Vollständigkeit der relevanten Treffer anzustreben – was ggf. weitere Entwicklungsarbeit erfordert.

3.3.

Zusammenfassung und Ausblick ^

[30]
Heutige in der Verwaltungspraxis verfügbare IT-Lösungen für den Wissenserwerb und das WM adressieren i.d.R. lediglich Teilaspekte eines gesamtheitlichen WM. Das Projekt EAGLE kann zwar als aktuelles Best-Practice-Beispiel für ein holistisches, IT-gestütztes Vorgehen für Wissenserwerb und -weitergabe gesehen werden, die Anbindung vorhandener Wissensquellen der ÖV geht jedoch über den Projektumfang hinaus.
[31]

Der Beitrag zeigt, wie bisherige Ansätze von WM mit bekannten und neuen Komponenten zu einem integrierten WM als Produktionsumgebung für die ÖV zusammengeführt werden können. Für das skizzierte Ziel sind u.a. Architekturkonzepte für die Integration von ÖV-relevanten Wissensquellen sowie weitere Anstrengungen bei der Weiterentwicklung ontologiebasierter, benutzerfreundlicher Suchmechanismen mit hoher Trefferqualität erforderlich, die unter einer einheitlichen Rechercheoberfläche auch auf geeignete externe Quellen zugreifen.

[32]

 

Das Projekt EAGLE wurde durch das 7. Rahmenprogramm für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration der Europäischen Union unter der Vereinbarung Nr. 619347 finanziell gefördert. 

  1. 1 Die Neutralität der Geschlechterbezeichnungen wird in dieser Form oder durch Verwendung der männlichen und weiblichen Form im Wechsel berücksichtigt. Im Zweifelsfall bezieht sich jede Bezeichnung auf beide Geschlechter.
  2. 2 Einen Überblick zu digital unterstützten Lernansätzen gibt: Opiela/Weber, Digitale Bildung, ein Diskussionspapier, http://www.oeffentliche-it.de/documents/10181/14412/Digitale+Bildung+-+Ein+Diskussionspapier (alle Internetquellen wurden am 5. Januar 2017 abgerufen), Kompetenzzentrum öffentliche IT/Fraunhofer FOKUS, Berlin 2016, S. 14–15.
  3. 3 Vgl. u.A. Göbel/Stember, Wissensmanagement in öffentlichen Verwaltungen, http://www.wissensmanagement-oev.de/studienergebnisse.php, Hochschule Harz/Materna GmbH, 2013.
  4. 4 Vgl. Müller et al., Ein soziales Netzwerk als internes Kommunikationsmittel für die öffentliche Verwaltung, https://cdn0.scrvt.com/fokus/23ac2689ab18d791/ee6213c534c5afa07864cd635cf217f2/soziale_netzwerke_oeff_verwaltung_studie.pdf, Fraunhofer FOKUS/Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 2014, S. 44.
  5. 5 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), BundOnline 2005, Behördenbeispiel: eStrategie des Bundesverwaltungsamtes, http://www.bva.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/BVA/Oeffentlichkeitsarbeit/Broschuere_E-Strategie.pdf?__blob=publicationFile&v=2, 2001.
  6. 6 Vgl. Gottschick/Hartenstein, IT-Projekte – kleiner, feiner, überschaubarer, http://www.oeffentliche-it.de/documents/10181/14412/IT-Projekte+kleiner+feiner+%C3%BCberschaubarer, Kompetenzzentrum öffentliche IT/Fraunhofer FOKUS, Berlin 2015.
  7. 7 Vgl. Frost, Definition Wissensmanagement, in: Gabler Wirtschaftslexikon, http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/wissensmanagement.html.
  8. 8 Vgl. Moebs/Steffens, Das Projekt EAGLE: IT-gestütztes Lernen für Kommunen, 10. Rostocker eGovernment-Forum, http://www.rostock-egov-forum.de/sites/www.geomv.de.egovforum/files/foren/2015-12-07/Session1-pdf/Steffens.pdf, 7. Dezember 2015.
  9. 9 Vgl. Facts Sheet zum Projekt, http://www.dhbw-heidenheim.de/uploads/media/EAGLE_poster_2015-01-22_v1_01.pdf.
  10. 10 Vgl. Pawlowski et al., Engagement Plan with requirements engineering methodology, Deliverable No. D2.1., http://www.eagle-learning.eu/sites/fp7-eagle.eu/files/eagle_619347_d2.1.pdf, 2014, S. 11 und EAGLE, Lernen und Wissen teilen, http://www.eagle-learning.eu/sites/fp7-eagle.eu/files/downloads/eagle_boschure_lernen_und_wissen_teilen_online.pdf.
  11. 11 Vgl. Moebs/Steffens (Fn. 8), S. 12.
  12. 12 Vgl. EAGLE (Fn. 10).
  13. 13 Vgl. Luxembourg Institute of Science and Technology, https://www.list.lu.
  14. 14 Vgl. Salzburg Research Forschungsgesellschaft, http://www.salzburgresearch.at/.
  15. 15 Vgl. Blees/Cohen/Massar, Freie Bildungsmedien (OER). Dossier: Offene Bildungsressourcen/Open Educational Resources – Handlungsfelder, Akteure, Entwicklungsoptionen in internationaler Perspektive, http://www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=7868, Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt am Main 2013.
  16. 16 Vgl. Apache Marmotta Website, https://marmotta.apache.org.
  17. 17 Vgl. Apache Stanbol Website, https://stanbol.apache.org/.
  18. 18 Vgl. Glachs et al., EAGLE – Local Government Learning Platform, in: Dietze/d’Aquin/Herder/Gasevic (Hrsg.), Proceedings of the Linked Learning meets LinkedUp, Learning and Education with the Web of Data, co-located with 13th International Semantic Web Conference (ISWC 2014), http://ceur-ws.org/Vol-1254/3_glachs.pdf, CEUR Workshop Proceedings, 2014.
  19. 19 Vgl. CKAN Website, http://ckan.org/.
  20. 20 Vgl. EAGLE Website, https://eagle-irl.dhbw-heidenheim.de/.
  21. 21 Vgl. Bench-Capon/Gordon, Two Tools for Prototyping Legal CBR, https://cgi.csc.liv.ac.uk/~tbc/publications/2pageBCG.pdf, University of Liverpool/Fraunhofer FOKUS, 2015.
  22. 22 Vgl. EAGLE Website (Fn. 20).
  23. 23 Vgl. Schilling, Tiefgreifendes Umdenken in Politik und Führungsebene ist ein Erfolgsfaktor der Verwaltungsmodernisierung; in: Abstraktion und Applikation – In: Schweighofer/Kummer /Hötzendorfer (Hrsg.), Tagungsband des 16. Internationalen Rechtsinformatik Symposions und http://www.jusletter-it.eu (Österreichische Computergesellschaft 2013)
  24. 24 Dragusanu, Wissensmanagement. Sicherung und Weitergabe des Wissens beim Stellenwechsel, https://edoc.ub.uni-muenchen.de/5638/1/Dragusanu_Gianina.pdf, Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München/Fakultät für Psychologie und Pädagogik, München 2006.
  25. 25 Zum Beispiel LeiKa (Leistungskatalog der öffentlichen Verwaltung), eine Daueranwendung des IT-Planungsrates unter der Federführung Sachsen-Anhalts http://www.gk-leika.de/.